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04 2008

Nomadische Linien der Erfindung

Gerald Raunig

„[…] trotzdem erfindet sie, als nomadische Kriegsmaschine, den Traum und die Realität der Abschaffung des Staates.“ (Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus)

 
Die Kriegsmaschine, werden Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus nicht müde zu erklären, hat gerade keinen Krieg zum Ziel, sondern die Bahnung einer schöpferischen Fluchtlinie, die Bildung eines glatten Raumes und die Bewegung der Menschen in diesem Raum. Die Waffen dieser Maschine sind die nomadische Existenz auf den Fluchtlinien und die Erfindung. Die Kombination von Flucht und Erfindung, des Abfallens vom Staatsapparat und einer mit diesem Abfallen zusammenfallenden Bewegung der Instituierung, die Erfindung einer instituierenden Flucht ist die spezifische Qualität der Kriegsmaschine, in Deleuze’ Lieblingsformulierung: „Fliehen, ja, aber im Fliehen eine Waffe suchen.“ Die kriegerische Dimension der Kriegsmaschine besteht in der Erfindungskraft, im Vermögen der Veränderung, in der Schaffung von anderen Welten. Erst die Aneignung, die Vereinnahmung durch einen Staatsapparat kann die Kriegsmaschine zum militärischen Apparat, zum Krieg transformieren.

Vor geraumer Zeit habe ich die Theatermaschine VolxTheaterKarawane als Kriegsmaschine bezeichnet, und zwar an Diskurse anschließend, die in der Genealogie von Walter Benjamins Aufsatz zur „Kritik der Gewalt“ versuchen, die Dichotomie von Gewalt und Gewaltlosigkeit zu problematisieren. Die Karawane nicht nur als Theatermaschine, sondern auch als Kriegsmaschine zu bezeichnen, sollte die von Deleuze und Guattari entwickelte Überlagerung von Nomadismus und Kriegsmaschine aufnehmen und in der Beschreibung einer mikropolitischen, künstlerisch-aktivistischen Praxis aktualisieren. Zu behaupten, die Karawane agiere auf einer Fluchtlinie, offensiv als Kriegsmaschine, heißt keineswegs, so schrieb ich damals, ihr eine besondere Form der Gewalttätigkeit zuzuschreiben. Im Gegenteil weise die Kriegsmaschine über den Diskurs von Gewalt und Terror hinaus, sie sei genau jene Maschine, die der Gewalttätigkeit des Staatsapparats, der Ordnung der Repräsentation zu entkommen suche. Umgekehrt versuche der Staatsapparat das Nicht-Repräsentierbare unter die Macht der Repräsentation zu zwingen, etwa aus der Karawane einen Black Block zu machen. Das schrieb ich nach der No-Border-Tour, die im Sommer 2001 von Wien über den WEF-Gipfel in Salzburg und ein Grenzcamp in Lendava zum G8-Gipfel in Genua geführt und dort in die Verhaftung der meisten Karawanen-AktivistInnen durch die italienische Polizei gemündet hatte.

Einige Jahre später, im Herbst 2005, vor einem sprichwörtlichen Bezirksgericht im oberösterreichischen Lambach wiederholten sich Rasterung und Rückzug der Kriegsmaschine, nur diesmal ohne das internationale Flair der Anti-G8-Proteste. Den Karawanen-AktivistInnen wurde wegen einer – vor allem dem Schuldirektor gegenüber – unangekündigten Aktion (unsichtbares Agit-Theater zum Thema Biometrie) in   einer Lambacher Schule anlässlich des Festivals der Regionen 2003 (mit dem Thema „Die Kunst der Feindschaft“) Amtsanmaßung und Täuschung vorgeworfen. Von Attacke, Offensive, vom „im Fliehen eine Waffe suchen“ konnte in der Schmierenkomödie des Dorfgerichts keine Rede mehr sein, und ich musste, auf die Rolle eines „Kunstsachverständigen“ begrenzt, artig bezeugen, dass es sich bei der Aktion um Kunst handelte, dass diese Kunstform arriviert und anerkannt sei und dass die KünstlerInnen den Kindern sicher nichts Böses wollten. Wie es die Karawanen-Aktivistin Gini Müller einmal in Bezug auf die Inhaftierung der VolxTheaterKarawane und die Prozesse nach Genua formuliert hat: „Die Frage, ob die Fluchtlinie transversal oder terroristisch ist, hatte das molare Tribunal zu beurteilen.“[1]

In Verhaftung und Verurteilung der Karawane enthüllt sich also eine andere Beziehung von Kriegsmaschine und Staatsapparat als jene bekannte in Tausend Plateaus: Deleuze und Guattari beschreiben in der „Abhandlung über Nomadologie“, wie der Staatsapparat die Kriegsmaschine übernimmt, sie seinen Zielen unterordnet und ihr den Krieg als unmittelbaren Zweck gibt. In der Vereinnahmung der Kriegsmaschine durch den Staatsapparat wird aus Flucht und Erfindung schließlich doch Krieg, aus der Kriegsmaschine ein (quasi-)militärischer Apparat. Vielleicht könnte man die Entwicklung des Phänomens Black Block von Seattle 1999 bis Rostock 2007 als einen solchen Prozess der Vereinnahmung verstehen. Die Entwicklung, in der die ersten Erwähnungen des „schwarzen Blocks“ am Beginn der 1980er Jahre ihren Ausgang bei der Medialisierung und Kriminalisierung von Autonomen in Deutschland nahmen, in der die dabei erzeugten Bilder erst sekundär – teilweise ironisch, teilweise bierernst – von verschiedenen Teilen der Linken aufgenommen und affirmiert wurden, scheint sich in den letzten zehn Jahren mit größerer Schärfe zu wiederholen: Die anfänglich in der Hauptsache mediale Konstruktion eines Blocks, der dem Block der Robocops ebenso dichotom wie symmetrisch gegenübersteht, führte im Laufe eines knappen Jahrzehnts zusehends zur Aktualisierung dieses Bilds und zur Transformation von Teilen der globalisierungskritischen Kriegsmaschine in einen „Krieg“. Staatsapparate (hier Mainstream-Medien und –Politik) erzeugen „Krieg“ im Sinne der erzwungenen Einordnung der Kriegsmaschine in eine dual gerasterte Ordnung, in der die Kriegsmaschine selbst (bzw. ihre machistischen Komponenten) schließlich auch zum (quasi-)militärischen Apparat, zum Staatsapparat zu werden droht.

Die oberflächlich als solche erscheinende begriffliche Opposition (Kriegs-)Maschine – Staatsapparat muss allerdings als Austauschverhältnis verstanden werden, als nicht von vornherein in ihrem Verlauf bestimmte Vielzahl von Möglichkeiten des Kampfes, der gegenseitigen Überlagerung, die verschiedene Lagen der Codierung und Übercodierung entfaltet, mit je verschiedenen Effekten. Im extremen Fall etwa von Themroc werden zwei Polizisten als Figuren des Staatsapparats einfach in einem Vorgang von Anthropophagie gefressen. Doch sogar der Kannibalismus ist nicht als reine Negation zu verstehen, sondern als besonderes Verhältnis der Kriegsmaschine Themroc zu den schließlich verspeisten Polizisten. Die sanfte Wildheit Themrocs und seiner sich ausbreitenden GenossInnen entspricht nicht einem Mob, der sich als dichte Masse, als Hetzmasse (um die Terminologie Elias Canettis zu verwenden) auf den Staatsapparat wirft, sondern eher einem formlosen, nonkonformen Gefüge, unwirklich und zugleich sehr körperlich sich den Körpern der anderen zuwendend. Dieses Gefüge ist allerdings nicht unähnlich jenem ausfransenden der Fahrraddiebe, in das die römischen Polizisten in ganz anderer Weise inkorporiert erscheinen. Und auch die Ewigkeitsmaschine des Dritten Polizisten vereinnahmt seine beiden Kollegen, die sich im maßlosen Raum der unterirdischen Maschine abhetzen und sie ohne tieferes Verständnis bedienen. Die anarchische Qualität der Kriegsmaschine, das zeigt sich hier wieder, erscheint gleichermaßen auf Seiten des Widerstands wie der Macht, sie stützt das Kapital wie auch die Flucht aus dem Kapitalismus, sie kann faschistoid übercodiert werden, aber auch emanzipatorische oder gar revolutionäre Ströme erzeugen; und erst die Analyse der spezifischen Beziehung von Kriegsmaschinen und Staatsapparaten gibt Aufschluss über die Aktualisierung dieser Ambivalenzen und den Status der jeweiligen Vereinnahmung.

Der Zusammenprall der mikropolitischen Praxis der VolxTheaterKarawane mit dem Staatsapparat in Genua und in Lambach ist ein anderer Fall. Hier geht es nicht um Vereinnahmung, um maschinische Indienstnahme, um Codierung und Übercodierung, sondern um den Versuch der Annullierung: In die Raster der medialen Repräsentation und der Justiz gezwungen, wird die Kriegsmaschine annulliert. Doch diese Annullierung, so steht zu vermuten, fällt nie total aus, es bleibt ein Rest: ein Rest an Wunschproduktion, an Erfindung, an Aktualisierung der eröffneten Möglichkeiten. So entfaltete sich die VolxTheaterKarawane im Sommer 2002 nach dem Trauma von Genua noch einmal zu größter Aktivität, vor allem im Kontext des internationalen Grenzcamps in Strasbourg. Die aktuelle Ausformung ihrer Kriegsmaschine bestand in einem alten englischen Doppeldecker-Bus, der die beiden Komponenten der technischen Kunstfertigkeit und der künstlerischen List vereinte. Der Bus war eine technische Maschine, eine Zusammensetzung aus der alten Mechanik des Automobils und aus den High-Tech-Geräten in seinem Inneren, und er war auch konkrete Verortung der mikropolitischen sozialen Maschine der durch ihre Geschichte im autonomen HausbesetzerInnen-Milieu, in der transnationalen antirassistischen Vernetzung des Noborder-Netzwerks und zuletzt auch in den Anti-G8-Protesten in Genua erfahrenen VolxTheaterKarawane, im Juli 2002 gekoppelt an die soziale Maschine des Grenzcamps. An der einladenden Oberfläche, auf dem offenen Oberdeck und um die Standorte des Busses in der Stadt Strasbourg (vor allem am weit ausladenden Bahnhofsvorplatz) wurden neu Ankommende empfangen, Infos über das Grenzcamp verbreitet und Parties gefeiert; im Bauch des Busses verbargen sich freilich Vorrichtungen auf dem neuesten Stand der elektronischen Technik, die eine mediale Praxis der Gegenöffentlichkeit zwischen Internet und Radio ermöglichten. 

 
Maschinische Materialität und Machination, diese beiden Komponenten der antiken Theatermaschine finden sich schon bei den gut 2000 Jahre älteren Vorfahren der karawanischen Theater- wie Kriegsmaschine. Im antiken Kriegswesen erscheint die machina als technischer Ausdruck auf dem Gebiet des Belagerungswesens. Von der klassisch-griechischen und hellenistischen Poliorketik bis zu den spätantiken Autoren des Kriegswesens werden als machinae alle möglichen Belagerungsmaschinen aufgezählt, vor allem aber jene zur Überwindung von Stadtmauern oder überhaupt zum Kampf an den Mauern. So ist einer der ältesten Belege für die lateinische Verwendung des machina-Begriffs bei Ennius (am Anfang des 2. Jahrhundert v. Chr.) auch ein Beleg für diesen Bezug: machina multa minax minitatur maxima muris, eine riesige Maschine also, die gar schrecklich die Mauern bedroht. Die Stadtmauer stand wohl deswegen im Mittelpunkt des Begehrens dieser besonderen Maschinen, weil es lange keine Geschütze gab, die ihr etwas anhaben konnte; es waren also kombinierte, komplexe Maschinen nötig, die die möglichst unbeschädigte Annäherung über Grabensysteme und an turmbewehrte Befestigungsringe heran genauso möglich machten wie die Überwindung oder Zerstörung der Mauer, sei es selbst durch den mühsamen Abbau Stein um Stein. Doch gerade auch hier geht es, ähnlich wie bei den Theatermaschinen, nie nur um die konkrete technische Maschine, die die Mauer durchlöchert, zum Einsturz bringt oder überwinden lässt. Auch hier changiert die machina zwischen dem materiellen Mauerbrecher und der List, die die Mauer umgeht oder sich von selbst öffnen lässt.

Knapp vor jener Zeit, die im Allgemeinen als Zusammenbruch des Römischen Reichs dargestellt wird, die jedoch viel weniger bruchartig vor sich gegangen sein dürfte, als das schulmäßig angenommen wird, schrieb ein unbekannt gebliebener Autor De rebus bellicis (DRB), einen Traktat zur Beratung des Kaisers in Kriegsangelegenheiten. Lange war man sich über die Datierung überhaupt nicht im Klaren, die Spanne der Vermutungen reichte vom 4. bis ins 16. Jahrhundert, heute überwiegen die Datierungen ins vierte oder frühe fünfte Jahrhundert n. Chr. Im ausgehenden 19. Jahrhundert noch als „Denckschrift eines verrückten Projektemachers“ Seeck  bezeichnet, gibt es inzwischen Stimmen, die den Text eine „seriöse Arbeit des militärischen Ingenieurswesens“ (Mazzarino), den anonymen Autor wenigstens einen „genialen Dilettanten“ (Giardina) nennen. Der Text „über Kriegsangelegenheiten“ ist eine sozialreformerische Schrift an den amtierenden Kaiser, die vor dem Hintergrund allgemeiner, man könnte auch sagen: moralisierender Aussagen zu Korruption, Verschwendung und übermäßiger steuerlicher Belastung vor allem Reformen des Militärwesens vorschlägt (Es ist einigermaßen auffallend, wie stark in diesem militärpolitischen Diskurs der Spätantike ökonomische Elemente der Rationalisierung überwiegen, etwa Personaleinsparung, Dienstzeitverkürzung, beschränkte Steuerbefreiung der Veteranen, Bedienung der Kriegsmaschinen durch verringertes Personal oder überhaupt die Umgehung des Einsatzes von Truppen und Kriegsmaschinen durch günstigere Formen der Besetzung).[2]

Den Hauptteil des Textes (die Kapitel 6-19 von insgesamt 21) nimmt ein knapp kommentierter Katalog der Erfindungen von Kriegsmaschinen ein. Aus dem Text und aus dem spätantiken Gebrauch der Begriffe inventio und inventa geht nicht klar hervor, ob die Erfindungen alle oder auch nur zum Teil neue, oder gar Erfindungen des Autors darstellen – er selbst weist in der Praefatio darauf hin, dass er „alles Nützliche von überall her zusammengetragen“ habe. Insgesamt zwölf Kriegsmaschinen werden hier vorgestellt, mit so einschüchternden Namen wie Tichodifrus, Clipeocentrus, Currodrepanus oder Thoracomachus, aber auch – und das ist die häufigere Variante im Kriegsmaschinenwesen – mit Tiernamen: In den antiken Schriften zur Kriegskunde tummelt sich eine ganze Zoologie der „Widder“, „Schildkröten“, „Widderschildkröten“, „Rabenschnäbel“ oder „Kraniche“.

Schon im Vorwort rühmt sich der Autor, nicht nur eine extrem schnelle, für heutiges Verständnis utopisch anmutende Schiffsart, angetrieben durch – am Schiff im Kreis trottenden – Ochsen und Schaufelräder (liburna, vgl. auch DRB, XVII) und eine neue, leicht transportierbare Schlauchbrücke zur Überquerung von größeren Flüssen (ascogefyrus, vgl. auch DRB, XVI) vorstellen zu können. Er hat vor allem auch eine besondere Vorrichtung erfunden, die ein Pferd beim Durchbrechen einer Linie oder bei der Jagd nach Flüchtenden dazu bringt, sich selbst ohne irgendeinen Befehl voranzupeitschen. Der currodrepanus clipeatus (vgl. auch DRB, XIV) ist eine Pferdmaschine, die ohne menschliches Zutun, also auch wenn sein Reiter abgeworfen ist, schlimmste Verheerung unter den Feinden anrichten soll: verberibus spontaneis, sich selbst „automatisch“ durch die Massen peitschend, entspricht diese Phantasiemaschine eines Kampfpferds ohne Reiter der inversen Form des Kafka’schen Reiters ohne Pferd. In Kafkas Textfragment „Wunsch, Indianer zu werden“ wirft der Reiter die Sporen, dann die Zügel weg, um schließlich, „schon ohne Pferdehals und Pferdekopf“, über den Boden zu fliegen. In der Erfindung des Anonymus schießt die Pferdmaschine sich selbst geißelnd weiter, statt einem Indianer-Werden, statt einer Maschine des Tier-Werdens die Phantasie eines technisch-tierischen Kampfapparats.

Derartig imaginierte Vorläufer heutiger Waffen- und Kriegstechnik, die in der Entwicklung etwa ferngesteuerter Dronen relativ weitgehend realisiert sind, sollen uns jedoch nicht auf den Abweg bringen, die Maschinen von ihren Verkettungen mit der Erfindung als List zu trennen. Bereits Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. hatte sich der römische Feldherr und Senator Frontinus in seinem Werk über verschiedene Formen der Kriegslist – konträr zu unserem Anonymus – aufs Immaterielle konzentriert. Da die Erfindungen im Bereich der Kriegsgerätschaft seiner Meinung nach schon geraume Zeit ihre Grenze erreicht hätten, wendet sich Frontinus im dritten Buch seiner Strategemata gleich den Tricks und Listen zu, die eine teure Belagerung vermeiden oder verkürzen helfen. Ganze elf verschiedene Strategeme führt er an, darunter die Verleitung zum Verrat (Bestechung dürfte das preiswerteste Verfahren der Einnahme von Städten gewesen sein), die Umleitung von Flüssen und die Vergiftung von Wasser, die Terrorisierung der Belagerten, und viele mehr. Am erfindungsreichsten werden die Varianten der List in jenen Fällen, in denen es um die Täuschung der Belagerten geht. Frontinus führt hier (III, II) vor allem Strategien der Travestie vor: Hannibal hätte viele Städte in Italien dadurch eingenommen, dass sich einige der Seinen den römischen Habitus aneigneten und – durch Sprache und Kleidung verkleidet – zur Spionage oder als verdeckte Avantgarde des Eroberungszugs vorgeschickt wurden. Die Arkadier hätten sich der Truppen, die den Belagerten zum Entsatz zur Hilfe kommen wollten, bemächtigt, ihre Uniformen angezogen und durch die so entstandene Verwirrung die Stadt eingenommen. Der Spartaner Aristipp hätte seine Soldaten als Händler, der Thebaner Epaminondas die seinen als Frauen verkleidet, um die Stadttore ihren Heeren zu öffnen.[3]

Die Kriegsmaschinen des Anonymus besitzen ein Surplus ihrer Materialität, das ins Immaterielle hinüberreicht, wie andererseits auch die Kriegslisten des Frontinus selten ohne Materialität auskommen. Die oben angeführte These der weitgehenden Überlagerung materieller und immaterieller Anteile der Kriegsmaschine kristallisiert sich jedoch in exemplarischer Form schon am prominentesten Mythos der Kriegsmaschinenepik heraus. Das berühmteste Beispiel für die Maschine, die den Krieg durch List entscheidet und beendet, ist wieder ein Pferd, nur diesmal ein hölzernes: In Vergils Äneis, drei Zeilen vor jenem berühmten Vers, in dem der trojanische Priester Laokoon seine Bedenken vor dem Geschenk der zum Schein abgezogenen Griechen zum Ausdruck bringt, quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes, bezeichnet Vergil das trojanische Pferd als machina: aut haec in nostros fabricata est machina muros (2,46). Vergil lässt Laokoon warnen, dass diese Maschine als List gegen die Mauern Trojas ersonnen wäre, und hier eröffnet sich die ganze Palette der Kriegsmaschine: von der List der fatalis machina (2,237), durch die Odysseus die uneinnehmbaren Stadtmauern unterwandert, bis zur konkreten Kriegsmaschine, zur machina belli (2,151), die in diesem Fall nicht einmal als Mauerbrecher fungieren muss, sondern von den Trojanern selbst in die Stadt gezogen wird. Nicht umsonst trägt Odysseus als typischer Machinator neben den Beinamen polytropos und polymetis auch das Epitheton ornans polyméchanos. Als Erfinder der technischen Maschine und der psychosozialen Erfindung trojanisches Pferd ist er buchstäblich zugleich viel-listig und vieler Maschinen mächtig.

Die Polymechanie des Odysseus scheint aber auch den Feinden des römischen Reichs zueigen, gegen die der spätantike Anonymus De rebus bellicis seinen Traktat schreibt. Seinen bunten Bauchladen an mehr oder weniger nützlichen Kriegsmaschinen bietet der kaufmännisch interessierte Anonymus einem gleichfalls anonym bleibenden Kaiser feil, der diese Erfindungen wohl gut brauchen konnte, um die Phantasien gegen die Zusammenbruchsvorstellungen im imperium Romanum der Spätantike zu mobilisieren. Die Lebensweisen der „barbarischen“ Feinde des römischen Reichs zwischen nomadischem Umherstreifen und Rückzug in abgelegene Gebiete, ihre Geografien zwischen schneebedeckten Bergen und der Wüste haben sich als derart vielfältig erwiesen, dass ganz unterschiedliche Erfindungen zu ihrer Bekämpfung nötig sind (DRB, VI). Gegen die allgemeine kulturalistische Vorstellung vom Zusammengehen römischer Zivilisiertheit mit technischem Fortschritt, von der direkten Proportionalität römischer Kultur und Militärtechnik einerseits und den typischen Barbarentopoi der Wildheit, Zerstörungswut und Zügellosigkeit andererseits (wie sie in der römischen Historiografie etwa bei Caesar, Tacitus und Ammian zu finden sind), schreibt der Anonymus De rebus bellicis selbst – oder eben gerade – den Barbaren nun jene ingenii magnitudo, die Mutter aller Tugenden, zu: Erfindungsgabe, rerum inventio, auch hinsichtlich Kriegsmaschinen, sei ihnen keineswegs fremd, zumal sie von der Natur unterstützt würden (DRB, Praefatio).

Die nicht weiter spezifizierten und damit die Imagination umso mehr beflügelnden Barbaren des Anonymus nähern sich dem Konzept der Kriegsmaschine in Tausend Plateaus nicht nur im vagen Anklang an die Nomadologie, sondern vor allem in dieser Betonung ihrer Erfindungskraft. Nomadische inventio beginnt mit der Erfindung von technischen Maschinen, geht allerdings weit darüber hinaus. Die Nomaden – und damit meint Deleuze bekannter- wie paradoxerweise vor allem diejenigen, die sich nicht von der Stelle bewegen – erfinden nicht nur Kriegsmaschinen, sie werden Kriegsmaschinen, wenn sie Erfindungsgabe als spezifische Handlungs- und Subjektivierungsweise entwickeln. Erfindung bedeutet hier nicht nur das erfundene Gerät und die erfundenen Geschichten, sondern darüber hinaus das Vermögen der Erfindung von neuen Welten. Neben und in der nomadischen Existenzweise, dem Fliehen, der damit vollzogenen Aushöhlung des Staatsapparats entfaltet die Erfindungsgabe der Kriegsmaschine neue Formen der Sozialität, instituierende Praxen und konstituierende Macht, die Erschaffung und Aktualisierung anderer, verschiedener möglicher Welten. Statt das Mögliche als vorgängig festgelegtes Bild der Wirklichkeit in einer einzigen möglichen Welt zu verstehen, impliziert die inventio die Differenzierung des Möglichen in vielen verschiedenen Welten. Gegen die identitäre Verfasstheit der einen Welt der Staatsapparate erschafft sie die Gabelung in viele Welten. Wo in der Logik der Staatsapparate eine einzige mögliche Welt aufgeteilt wird, verteilen sich die Singularitäten der Erfindung auf verschiedene mögliche Welten.[4]

 
Theatermaschinen, Kriegsmaschinen, das sind nicht nur die zwei stärksten Linien der Ausdifferenzierung des antiken mechané/machina-Begriffs, die beiden Linien entsprechen auch zwei Hauptkomponenten aktueller sozialer Bewegung und der kleinen revolutionären Maschinen in ihrem Umfeld. Diese aktuellen Strategien der erfinderischen List, der Verwirrung, der Asymmetrie, der Travestie, deren genealogische Linien den polymechanischen Machinator Odysseus ebenso einschließen wie die mittelalterliche Figur des Narren, die Tradition der italienischen Politik der autoriduzione (selbstorganisiertes Heruntersetzen der Miete oder der Lebensmittelpreise) in den 1970ern ebenso wie die Praxis der Kommunikationsguerilla der 1990er Jahre, werfen auch Fragen der Überschneidung von Erfindung und Nachahmung, des („geistigen“) Eigentums, der so genannten Commons und der Aneignung auf. Die dabei angewendeten Aktionsformen sind meist an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität, zwischen Spiel und militanter Aktion angesiedelt, diese Grenze bewusst verwischend. Sie aktualisieren sich oft am Rand und im Rahmen von sozialen Bewegungen, problematisieren sie und die Formen ihrer Verkettung.

Seit dem Jahr 2002 tritt von Barcelona und Madrid aus eine Gruppe unter dem Namen Yomango auf, die solche Praxen der Aneignung mit performativen und medialen Strategien betreibt. „Yo mango“ heißt umgangssprachlich spanisch „ich klaue“, und was hier geklaut wird, ist materiell und immateriell zugleich: Einerseits werden in einer verspielten, spielerischen Weise ganz konkrete Waren angeeignet, andererseits aber auch und vor allem Zeichen. Im Namen Yomango besteht demnach auch ein formaler Anklang an die Praxis der Gruppe: Die Aneignung von Namen und Logo des bekannten spanisch-transnationalen Textilkonzerns „Mango“ steht exemplarisch für ihr Programm. Yomango befreit bei multinationalen Unternehmen eingesperrte Produkte, ebenso wie die Zeichen, die durch rigide Copyright-Politik weniger im Besitz ihrer UrheberInnen eingeschlossen sind, als in die Gefangenschaft von global agierenden Konzernen geraten. So wie diese Konzerne nicht nur ihre Waren, sondern immer mehr auch ihre Marken als Lifestyle verkaufen, feiern Yomango Ladendiebstahl als Lifestyle.

Im Dezember 2002 spielte die Theatermaschine – als Hommage an den ersten Jahrestag der Revolution in Argentinien – mitten in einer Supermarktfiliale in Barcelona zum Tanz auf. Sieben Paare tanzten allerdings nicht nur gekonnt den Tango, sie ließen auch Champagnerflaschen in die Taschen ihrer präparierten Kleidung verschwinden, die sie dann abschließend beim kollektiven Besuch einer Bank genussvoll konsumierten. Bei anderen Performances wurden die angeeigneten Waren auch an Hungrige und Durstige weiterverteilt. Neben solchen performativen Aktionen und einer reichhaltigen Website[5] sind Videos und Workshops die Methoden, um die Praxis von Yomango zu verbreiten. Yomango-Seminare (u.a. beim europäischen Sozialforum in Firenze 2002 oder auf einer ausgedehnten Deutschland-Tournee 2004) verstehen sich als Lifestyle-Workshops des zivilen Ungehorsams und bieten konkrete Anleitung zur möglichst eleganten Umgehung technologischer und kommunikativer Sicherheitsmaßnahmen. Die Performances, Workshops und Videoarbeiten sind nicht einfach nur antikapitalistische Schulungs- und Propagandamaßnahmen, sondern spielerische Beispiele einer Mikropolitik der verkörperten Kritik und der kollektiven Erfindung. Es geht ihnen nicht bloß um eine weitere plumpe Verwerfung kapitalistischen Konsums, sondern um die Erprobung einer anderen Form von Konsum, um die Problematisierung der Aneignung von Gemeingütern als Privateigentum, vor allem um die Wiederaneignung der kognitiven Arbeit und der Zeichenproduktion.

Mikropolitische Praxen wie die von Yomango, die italienischen Chainworkers, die Umsonst-Kampagnen in Deutschland, die Hamburger Superhelden, alles Gruppen, die in den letzten Jahren eine gewisse Rolle bei der Ausbreitung der Euromayday-Paraden und der Bewegung der Prekären gespielt haben, aber auch die Reclaim-the-Streets-Parties der 1990er oder die Clowns Army der Anti-G8-Gipfel von Gleneagles und Heiligendamm verbinden das Vermögen der Erfindung als Kriegsmaschine mit der performativen Praxis als Theatermaschine.[6] Mit Paolo Virno lässt sich sogar die Makropolitik der „globalen Bewegung“ als performative Bewegung beschreiben und in die Genealogie der Theatermaschinen einreihen. Zugleich sind viele soziale Bewegungen der 1990er und 2000er Jahre Kriegsmaschinen, weil sie den Traum und die Realität des Abfallens vom Staatsapparat erfinden, d.h. in Guattaris Sinn auch die eigene Verschließung, Strukturalisierung, Staatsapparatisierung problematisieren. Damit wenden sie sich gegen die konkreten Staaten, die noch immer mächtige Players im Gefüge der neoliberalen Globalisierung sind, aber auch – und das ist zumindest in diesem Ausmaß und dieser Vehemenz spezifisch und neu – gegen die Entwicklung von Staatsapparaten in ihrem Inneren: gegen repräsentationistische Formen, gegen die Logik der Bühne (die gänzlich konträr zu dem steht, was hier Theatermaschine und performative Bewegung genannt wird), gegen das Oben und Unten hierarchischer Rasterung, gegen das Vorher und Nachher von Avantgarde und Massen.



[1] Gini Müller, „Transversal oder Terror?“, http://eipcp.net/transversal/0902/mueller/de. Mein oben erwähnter Aufsatz erschien als „Kriegsmaschine gegen das Empire. Zum prekären Nomadismus der VolxTheaterKarawane“, http://eipcp.net/transversal/0902/raunig/de. Zur Geschichte der VolxTheaterKarawane (incl. Genua und Strasbourg) vgl. Gerald Raunig, Kunst und Revolution, Wien: Turia+Kant 2005, zum Lambacher „Biometrie-Prozess“ vgl. http://lambach.volxtheater.at/.

[2] Der Text des Traktats findet sich im Oxford Text Archive http://ota.ahds.ac.uk/. Vgl. dazu auch den Anonymus-Artikel von Seeck in Paulys Realenzyklopädie I (1894), 2325; Santo Mazzarino, Aspetti sociali del quarto secolo: ricerche di storia tardo-romana, Rom: L’Erma di Bretschneider 1951; Edward A. Thompson, A Roman Reformer and Inventor, Oxford: Oxford University Press 1952; Hartwin Brandt, Zeitkritik in der Spätantike, München: Beck 1988; Andrea Giardina (Hg.), Introduzione a Anonimo, Le cose della guerra, Milano: Mondadori 1989.

[3] Die Beurteilung dieses locus classicus durch die antiken Autoren schwankt zwischen der Bewunderung des listigen Verhaltens und der Verurteilung als hinterlistigem Betrug, zweiteres oft kombiniert mit dem pejorativen Beigeschmack, der durch die Einführung von männlichen Tugenden nicht als teilhaft verstandenen Gruppen wie „Händlern“ und „Frauen“ rhetorisch verstärkt wird.

[4] Vgl. dazu die Ausführungen Maurizio Lazzaratos in Puissances de l’invention. La psychologie économique de Gabriel Tarde contre l’économie politique, Paris: Les empêcheurs de penser en rond 2002, La Politica dell’Evento, Rubbettino 2004; „Die politische Form der Koordination“, http://eipcp.net/transversal/0707/lazzarato/de.

[5] http://yomango.net/. Das Video Yomango Tango ist u.a. Teil der DVD Precarity: http://eipcp.net/transversal/0704/p2p/en.

[6] Zu den Chainworkers vgl. http://www.chainworkers.org/; zu Umsonst vgl. Anja Kanngieser, „Gesten des Widerstands im Alltag“, http://eipcp.net/transversal/0307/kanngieser/de; zu den Superhelden vgl. Efthimia Panagiotidis, „Die ‚gute Botschaft’ der Prekarisierung“, http://eipcp.net/transversal/0307/panagiotidis/de, zu Reclaim the Streets und Clowns Army vgl. John Jordan, „Während eines Spaziergangs: Notizen über ‚How to Break the Heart of Empire’“, http://eipcp.net/transversal/1007/jordan/de.

Gerald Raunig

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