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09 2007

Mikropolitik und Hegemonie

Wider die neuen Para-Universalismen: Für eine anti-passive Politik

Stephan Adolphs / Serhat Karakayalı

Anlass für diesen Beitrag war die Lektüre des Texts „Nach 1968. Anmerkungen über Singularität und minoritäre Politik“[1] von Katja Diefenbach.[2] Bei der Lektüre dieses Artikels, dessen Stoßrichtung einer Verteidigung des Konzepts des Minoritär-Werdens gegen die neo-universalistischen Invektiven von Autoren wie Alain Badiou und Slavoj Žižek wir im Übrigen teilen, haben wir selbst von Neuem begonnen, über die Problematik des Verhältnisses von Werden und Geschichte, von Quanten-Strömen und Segmentarität zu reflektieren.

Der Para-Universalismus steht schon seit einigen Jahren hoch im Kurs. Er findet seine FürsprecherInnen nicht nur im Lager der Linken, zu der sich unter anderem Badiou und Žižek zählen, sondern in allen Bereichen des politischen Spektrums. Für den Verfall von Sitten, Autorität und Klassenbewusstsein werden allenthalben die „Differenz“, der Multikulturalismus und andere Verfehlungen haftbar gemacht, die letztlich auf 1968 zurückgeführt werden, den Ausgangspunkt einer mehr oder minder lang andauernden Revolte, die sich – weltweit – gerade dadurch auszeichnete, dass sie sich nicht in die Schablonen des Makropolitischen pressen ließ. Dies war auch die These von Deleuze und Guattari: „Alle, die die Vorgänge nach Begriffen der Makropolitik beurteilten, haben von dem Ereignis nichts begriffen, weil ihnen irgendetwas entging, das nicht einzuordnen war.“[3]

Die Kritik von Badiuo und Žižek richtet sich auf eine durch den Verlust universeller Instanzen zugleich verloren geglaubte Möglichkeit zu emanzipativer Politik überhaupt. Diese Instanzen der Subjektanrufung, die in der Religion wie im Politischen eine Art Beständigkeit gegen die an die Warenform gebundene, beliebig gewordene Differenz garantieren sollen, werden als unhintergehbare Basis jeden politischen Handelns angesehen. In einer solchen Kritikperspektive steht das Denken von Deleuze (und andern) genau in der Linie dieses allgemeinen Verlusts des Politischen, das es verstärkt, anstatt ihm etwas entgegenzusetzen. Umgekehrt gibt es eine breite Lesart von Deleuze und Guattari, die Mikropolitik als eine Art „Politik im Kleinen“ oder anti-institutionelle Politik versteht und damit tendenziell die Bedeutung bzw. die Wirkung des „Makropolitischen“ unterschlägt.

Demgegenüber besteht unser Einsatz darin zu zeigen, dass Politik erstens nicht auf die Existenz jener Instanzen reduziert werden kann, und zweitens, dass eine derart verstandene Mikropolitik nicht in der Lage ist, sich Prozessen von Vereinnahmung und Passivierung zu entziehen. Beide Positionen unterschätzen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Kämpfe in den durch Machttechnologien und gouvernementales Wissen strukturierten Feldern.

Dieser Text will zeigen, dass Hegemonie und Mikropolitik nicht zwei einander ausschließende Perspektiven sind, sondern umgekehrt aufeinander verweisen. Versteht man Hegemonie nach den Kritiken von 1968 an den normalisierenden Subjektivierungsweisen als anti-passive Revolution, dann liefert eine mikropolitische Sichtweise wichtige Hinweise für ein emanzipatorisches Projekt jenseits der fordistischen Gesellschaftsformationen.

Wir plädieren in diesem Beitrag für eine hegemonietheoretische Lesart der Arbeiten von Deleuze und Guattari, die es unseres Erachtens ermöglicht, das Unternehmen beider Autoren, von Anti-Ödipus bis Was ist Philosophie?, als einen großen Versuch zu lesen, die „Problematik“ des Marxismus wieder aufzunehmen und auf der Grundlage der Kämpfe nach 1968 zu reformulieren. Eine solche Lesart ergibt nur Sinn, wenn man den Hegemoniebegriff von seiner Reduktion auf eine einfache „Erweiterung“ des Staatsbegriffs befreit. Eine Vorstellung, die sich auf Gramscis Formel vom Staat als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ ausruht, weil sie es erlaubt, den Staat weiterhin als externes Ding zu denken. So kann man Deleuzes Aussage verstehen, dass sie beide (und nicht er allein) stets Marxisten „geblieben“ seien – auch dies eine Variante des Gefüges.[4]

Mit einer solche Perspektive ließe sich auch sagen, dass entgegen einer bestimmten Rezeption Begriffe wie Minder-Werden, Mikropolitik oder Deterritorialisierung gerade nicht für ein Denken stehen, das die Flucht vor Kapital und Staat nur aus der katastrophischen Perspektive ihrer absoluten Reterritorialisierung (ihrer Zerstörung also) zu imaginieren imstande ist. Davon spricht die immer wiederkehrende Formel vom „Denken, das ein Volk herbeiwünscht“[5]. Kann jedoch aus dem Minderwerden überhaupt ein Volk werden? Wie viele andere ist auch „Volk“ ein von Deleuze und Guattari entliehener und umgedeuteter Begriff. Dass auch das Minderwerden noch an Instanzen gebunden ist, auch wenn es nicht in ihnen aufgeht, ist genau das Problem, das Badiou und Žižek schließlich zu ihrer konservativ-revolutionären Intervention bringt und zur Koppelung der Emanzipation an die Religion bzw. an die Ideologie und damit zum Para-Universalismus.

Anstatt Werden als das absolut Andere der Geschichte zu denken, das aus ihr herausfällt, stets bedroht von Metanarrationen, die es vereinnahmen, wollen wir fragen, wie man historische Veränderung denken und Geschichte schreiben kann, ohne dabei das Minder-Werden auszuklammern. Im Kern geht es in der Frage der Geschichte um die Deleuze'sche Frage, wie man ein neues Volk (das nicht mehr ein Volk ist) schaffen kann, wenn die Menge selbst spricht, wenn sie im Werden ist. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die von uns postulierten Bezüge, Referenzen und gemeinsamen Probleme nur eine Seite der Medaille sind, die wir freilich mit unserer Re-Interpretation betonen wollen, auch weil sie oft implizit und versteckt erscheinen. Die Differenzen, Brüche und Diskontinuitäten treten in diesem Artikel – auch aus Platzgründen – eher in den Hintergrund. Insofern ist unsere „Verfügung“ der Konzepte von Deleuze und Guattari mit der Hegemonieproblematik nur ein erster Schritt, aus dem sich neue Schwierigkeiten, aber auch eine neue Produktivität ergeben könnte. Der Artikel sollte also eher im Sinne eines pragmatischen Gerüsts gelesen werden, von dem wir annehmen, dass es produktive Bewegungen auslösen könnte. Angestrebt wird eine Übersetzung der Konzepte ineinander, nicht die Konfrontation von Modellen.

Reformuliert man das Problem von Werden und Geschichte in hegemonietheoretischen Begriffen, könnte man argumentieren, dass es – auf der Ebene einer „Poetik des Wissens“[6] – um die Vermeidung bestimmter passivierender intellektueller (Denk- und Schreib-)Stile geht. Was miteinander vermittelt werden muss, sind narrative Strategien der Geschichte (Geschichte wird „erzählt“), sozialwissenschaftliches Wissen (d.h. ein Wissen über die materiale Konstitution der Menge) und das Problem der Demokratie (die Menge als sich verändernde, werdende Subjekte). Es geht um eine andere Verbindung von Sprache-Körper-Ort, die nicht nur jede/n an den ihr/m zugewiesenen Platz begleitet, sondern die Konstellation der Orte selbst verändert, um eine Beschränkung bestimmter und eine Aufwertung anderer Praktiken und Wissensformen. Dieses Problem, das Rancière mit einer Poetik des Wissens zu fassen sucht, und vor dem auch Deleuze und Guattari seit ihrem ersten gemeinsamen Buch „Anti-Ödipus“ stehen, ist das gleiche, das den Ausgangspunkt der Arbeit von Gramsci darstellt. Die These, die hier aufgestellt wird, lautet also, dass die Anordnung von Wissen, Sprache und Körpern den Kern der hegemonietheoretischen Fragestellung darstellt. Für eine solche Lesart des Hegemoniebegriffs ist Hegemonie nicht ein anderes Wort für Herrschaft, sondern ein Gefüge von Praktiken der Führung und Selbstführung, die wiederum auf einer spezifischen Arbeitsteilung (zwischen intellektuellen und nichtintellektuellen Praktiken) aufbaut und die durch Normierung und Normalisierung nicht nur im Alltag, sondern auch in der Produktionsweise verankert ist. In diesem Zusammenhang entwickelte Gramsci auch den Begriff der „passiven Revolution“, d.h. „Revolutionen“, die auf Forderungen an der Basis eingehen, dabei aber eine eigenständige Führung der Subalternen verhindern.[7] In passiven Revolutionen werden die Verhältnisse der politischen und gesellschaftlichen Arbeitsteilung in Hand- und Kopfarbeit nicht angegriffen, sondern modernisiert beziehungsweise transformiert. Passivierung läuft auf eine Blockierung eigenständiger und neuer institutioneller Formen von Staat auf Seiten der Subalternen hinaus.[8] Es geht also um die Frage, wer wen mit welchen (politischen, mentalen oder ökonomischen) Mitteln führt, und wie die Geführten sich von dieser Führung befreien können. Der Hegemoniebegriff Gramscis dient vor diesem Hintergrund dazu, eine neue Praxis der Politik zu entwickeln, die anti-passiv wirkt.[9]

Um eine solche neue Praxis konzipieren zu können, weitet Gramsci den herkömmlichen Fokus auf Staat und Politik hin zu einem erweiterten Staatsverständnis aus. In den Blick wird nicht nur der Staat(-sapparat) im engen Sinne genommen, sondern auch die auf den Staat bezogene Ökonomie/Produktion, Kultur/Ideologie, strategisches Wissen und Wissenschaft, die als nicht aufeinander zu reduzierende Führungspraktiken, die gleichwohl einen „historischen Block“ bilden, angesehen werden. Die verschiedenen – durch die Trennung von Hand- und Kopfarbeit strukturierten – Praktiken produzieren eine umfassende mentale und körperliche Lebensweise, die Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Vorstellungen der unterschiedlichen (im Verhältnis zueinander stehenden) gesellschaftlichen Individuen und Gruppen prägt. In den Gefängnisheften entwickelt Gramsci seine Überlegungen zur Hegemonie etwa anhand der Familienstruktur oder den Dispositionen der Lebensführung. Dabei interessiert er sich für die Produktion von subjektivierendem, d.h. affektivem und handlungsanleitendem Wissen. Die Subjekte werden nicht als einheitliche Individuen, sondern als von unterschiedlichen historischen Schichten durchzogene, zusammengesetzte Individuen angesehen, die im Sinne der Schaffung eines neuen Staates zu vereinheitlichen sind. Daher erscheint es uns sinnvoll, den Begriff der passiven Revolution nicht als „Konterrevolution“ zu lesen, also als Praxis einer „herrschenden Klasse“, sondern auf die asubjektiven Momente einer solchen Passivierung zu verweisen. Passive Revolution als „Wiedervereinnahmung“ und molekulare Transformation. In diesem Sinne verstehen wir etwa den Neoliberalismus nicht als Instrument der herrschenden Klassen zur Zerstörung des Sozialstaats, sondern als eine spezifische Rekodierung von den in den Kämpfen nach 1968 entstandenen Strömen, De-Subjektivierungen etc.

Ähnlich wie für Gramsci ist auch für Deleuze und Guattari Ausgangspunkt der Reflektion nicht eine Theorematik, d.h. eine aus der theoretischen Achse resultierende Fragestellung, sondern eine Problematik. Die Begriffe, die hier entwickelt werden, sind nicht Bestandteil einer allgemeinen Theorie, sondern auf historisch-konkrete Konstellationen bezogen. 1972 sind das die Entwicklung der Kämpfe nach 1968 und auf theoretischer Ebene der Strukturalismus bzw. der (strukturalistische) Marxismus und die (strukturalistische) Psychoanalyse. Im Folgenden versuchen wir anzudeuten, auf welche Weise die hegemonietheoretische Sichtweise von Deleuze und Guattari aufgenommen und weiterentwickelt wurde.

 
Mikro-Politik des Wunsches

In einem Vortrag von Anfang der 1970er Jahre entwickelt Guattari den Begriff des Wunsches im Kontext eines Kampfes „für die Befreiung des Wunsches“. Er stellt ihn gegen den psychoanalytischen Lustbegriff und den nur innerhalb einer repräsentationalen Ordnung existierenden marxistischen Wunschbegriff – ein Thema, das auch im Anti-Ödipus eine zentrale Rolle spielt. Die Mikropolitik des Wunsches ist ein Gegenbegriff zur zeitgenössischen Diskursallianz zwischen Psychoanalyse und (strukturalem) Marxismus. Deleuze und Guattari kritisieren, dass in dem spezifischen Zusammenspiel dieser beiden Ansätze einerseits jede Dimension „wirklichen Begehrens“ aus dem Sozialen ausgeschlossen ist und andererseits eine immer stärker formalisierte Auffassung von Sprache entwickelt wird, die anderen (a-semiotischen) Ausdrucksmaterien keinen Raum mehr lässt. Dies hat zur Folge, dass politisches Handeln verunmöglicht wird. Hier wird deutlich, dass die theoretische Intervention von Deleuze und Guattari vor dem Hintergrund der Hegemonieproblematik zu verstehen ist, die sie auf spezifische Weise umschreiben. Während Gramsci die Staatsproblematik auf die gesamte Gesellschaftsformation ausweitete und damit die Ideologie zurück an verschiedene organisatorische Führungspraktiken band, dezentrierte Althusser in seiner Konzeption den Staat im engen Sinne (also den repressiven Staatsapparat), indem er ihn untrennbar mit dem Element der Ideologie in Verbindung setzte. Die Funktionsweise des Staates beschränkt sich nicht nur auf Repression, der Staat muss gleichzeitig die ideologischen Praktiken der Massen bearbeiten, die aus dem Klassenwiderspruch hervorgehen. Ideologie wird hier gefasst als ritualisierte Subjektivierungsweisen, also körperliche Praktiken, die in keiner Weise auf falsches Bewusstsein reduziert werden können. Der Staat ruft die Individuen als Subjekte an und diese werden konstituiert und konstituieren sich fortan selbst auf der Grundlage einer religiösen oder juridischen Ideologie.[10] Diese Art der Subjektivierung in ideologischen Staatsapparaten steht emanzipatorischen Formen der Politik entgegen. Genau an diesem Punkt setzten Deleuze und Guattari mit dem Konzept der Wunschmaschine an: Die marxistische und psychoanalytische Unterscheidung in Gesellschaft und Individuum ist in den Staatsapparaten verankert und muss daher aufgehoben werden. Die Wunschmaschine führt anstelle der „Vermittlung“ zwischen diesen Instanzen mannigfaltige Verbindungen ein: „Alles kann hier an Aussagen partizipieren, die Individuen ebenso wohl wie die Zonen des Körpers, die semiotischen Kraftlinien oder die in alle Himmelsrichtungen verzweigten Maschinen.“[11] Die Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft, Mikro- und Makroebene aufzuheben bzw. anders zu fassen heißt, einen erweiterten Staatsbegriff zu denken, der die Regulierung der Körper zum Ausgangspunkt nimmt. Der Wunsch ist insofern eine biopolitische Größe: Er stellt einen Vektor dar, der unterhalb der Segmentierung von Bevölkerung, kapitalistischer Produktion und Individuum verläuft. Deshalb ist der Kampf um bzw. gegen Normierung, Kleinfamilie und bestimmte Formen (z.B. fordistischer) Subjektivierung so bedeutsam, auch wenn er die „Machtfrage“ im herkömmlichen Sinne nicht stellt. Genau diese Perspektive wird von Deleuze und Guattari in  Tausend Plateaus auf das gesamte gesellschaftliche Feld erweitert.

Die Konzeption der Wunschmaschinen versucht Ansatzpunkte für eine Politik zu finden, die jenseits der Passivierung von Massenbewegungen durch ideologische Staatsapparate liegen. Die durch die neue Begrifflichkeit produzierte Erhöhung der Komplexität im Modell des staatlich-ideologischen Felds der Praktiken, soll in der Perspektive einer Mikropolitik des Wunsches dazu dienen, die Trennung zwischen großen gesellschaftlichen Zusammenhängen und individuellen Problemen aufzuheben und damit aufhören, Politik auf die Übernahme der Staatsmacht zu zentrieren. An die Stelle des Staates soll eine „Vielheit von Zielen, die in unmittelbarer Reichweite der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Zusammenhänge liegen“[12] treten. Die damit notwendig verknüpfte Parteikritik läuft aber nicht auf eine abstrakte Ablehnung von Institutionen heraus. Obwohl das Parteimodell als Garant der Einheit der Kämpfe abgelehnt wird, betonen Deleuze und Guattari, dass die Perspektive einer Mikropolitik nicht „a priori jede Aktion der Partei, jede Idee einer Linie, eines Programms oder sogar des Zentralismus verwerfen würde; sie würde sich jedoch darum bemühen, all dies gemäß einer analytischen Mikro-Politik zu situieren und zu relativieren“[13]. Sie plädieren also nicht für eine reine Bewegungspolitik, die sich als den gesellschaftlichen Institutionen entgegengesetzt versteht. Vielmehr gilt es, da die Wunschmaschine ja schon von ihrer theoretischen Anlage her die Gegensätze von Individuum und Gesellschaft unterläuft und auf die Produktion von Gesellschaftsformationen fokussiert, das Problem einer nicht-repräsentativen Politik in den Institutionen, im Staat und in allen gesellschaftlichen Bereichen zu konzeptualisieren. Aus diesem Grund weiten Deleuze und Guattari das Konzept der Maschine unter dem Begriff der maschinellen Gefüge auf den gesamten natürlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang aus.

 
Gefüge

Aus der Perspektive der Begriffsbildung als einer (anti-passiven oder anti-hegemonialen) politischen Praxis kann man sagen, dass Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus den Begriff des Gefüges einführen, um das Problem zu behandeln, das mit der Wunschmaschine auftrat und für das im Marxismus die Begriffe Basis und Überbau entwickelt wurden. Mit „Gefüge“ wird eine neue Topologie bezeichnet. Jedes Gefüge ist mit den anderen Gefügen auf spezifische Weise verbunden, ohne dass eines davon die anderen determiniert (auch nicht in letzter Instanz). Allerdings ist das, was in der marxistischen Problematik die Gesellschaftsformation ist, nur ein Teil des maschinischen Universums, auch die belebte und unbelebte Natur wird als Teil der Maschine gefasst. Dem Gefüge ist ein Produktionsprozess des ungeschiedenen Ganzen von Natur und Gesellschaft immanent, der unterhalb der anthropomorphen Form und staatlichen Strukturierung liegt .[14]

Man könnte nun sagen, dass der Begriff der Wunschmaschine (analog zu Althusser) im Sinne einer Dezentrierung des Staates funktioniert hat und sie sich aufgrund dieser Ausweitung (analog zu Gramsci) mit dem Problem befassen, wie eine zur bürgerlichen Hegemonie dissymetrische Politik (eine Politik, die nicht auf die Machtergreifung hinausläuft), verfasst sein muss. Dies kann aber nur erreicht werden, wenn man (analog zu Foucault) die nicht-staatlichen Machttechnologien einbezieht. Deleuze und Guattaris Version der Mikrophysik der Macht ist vor diesem Hintergrund als Übertragung des Molekularen auf die Ebene der gesellschaftlichen Organisation zu lesen und damit gleichsam als eine Radikalisierung des Hegemonieansatzes. Anstatt zwischen staatlich und nicht-staatlich oder staatlich und zivilgesellschaftlich zu unterscheiden, operieren die beiden nun mit Begriffen wie (harter und weicher) Segmentierung und (Über-)Codierung. In die gesellschaftliche Strukturierung wird eine Virtualität zahlloser nicht-koordinierter und widerspruchsfreier, sich wechselseitig katalysierender Wunschregungen und Markierungen eingeschrieben. Dieser a-subjektive Begehrensstrom wird in  Tausend Plateaus als „glatter“, „nicht-stratifizierter“ und „nicht-gekerbter“ Raum wiedergegeben, der in den „stratifizierten“ und „gekerbten Organisationsplan“ von Sprache, Körper und Subjektivität eingeht. Damit wird die gesellschaftliche Struktur selbst als bewegliche und veränderliche konzipiert, sie wird zu einem Gefüge von Reterritorialisierungs- und Deterritorialisierungslinien, von Dekodierung und Rekodierung. Dadurch wird eine immanente Verbindung verschiedener Praktiken und Strukturierungen denkbar, ohne dass diese aufeinander reduziert werden müssten.

Das gesellschaftliche Gefüge wird von molekularen, molaren und quantenphysikalischen Linien geschnitten, segmentiert und von Strömungen in Bewegung gehalten. Deleuze und Guattari unterscheiden eine molare Ebene – also Machtzentren mit harter Segmentarität, die mit Staatsapparaten im engen Sinne verbunden sind –, von Quantenströmen, auf die die Staatsapparate vermittelt über eine Zone des Übergangs, die eine molekulare Strukturierung aufweist, zugreifen, die sie jedoch nicht vollständig beherrschen können. Zwischen den molaren Linien, die eine harte Segmentierung erzeugen, und den Quantenströmungen bilden sich also mikrologische Gewebe, die einen „Bereich der Verhandlung“, eine „Transduktion“, zwischen dem Molaren und dem Molekularen ermöglichen.[15] Dieses mikrologische Gewebe, das mit weichen und feinen Segmentierungen arbeitet, ist nach dem Vorbild von Foucaults „Mikrophysik der Macht“ konzipiert. D.h. es werden auf der Ebene der Aussageregime (diskursive Praktiken) und der Ebene der Segmentierung (nicht-diskursive Praktiken) Einheiten erzeugt, die bearbeitet werden können, ohne dass man dazu starke zentralistische Organisationen benötigen würde. Die Technologien der Macht binden die Quantenströme des Wunsches über ihre weiche Segmentierung und Kodierung ein, diese gehen aber andererseits über sie hinaus, sodass ständig neue Segmentierungen und (Re-)Kodierungen vorgenommen werden müssen, um die Fluchtlinien wieder in eine molekulare Strukturierung zurückzuführen. Die auf der harten Segmentierung beruhenden Machtzentren nehmen eine sekundäre Organisation dieser molekularen Strukturen vor, indem sie diese relativ bewegliche Ebene der Macht- und Sicherheitstechnologien zentralistisch zurückbinden, also rekodieren und reterritorialisieren. Die harte Segmentierung wirkt also ebenfalls auf die molekulare Machtorganisationen ein, im Zusammenspiel dieser beiden Ebenen bilden sich Klassen, Geschlechter, „Rassen“ etc. als Strukturmerkmale bezogen auf die molare Ebene aus. Diese werden aber auf der molekularen Ebene – angetrieben von den Strömen – ständig transformiert.

Für eine anti-passive Politik ist diese Überlegung deshalb von Bedeutung, weil die Segmentierungen auf der molekularen Ebene der Machttechnologien in der Schwebe bleiben und umkehrbar und kombinierbar sind. Diese (weichen oder flexiblen) Segmentierungen sind nach Deleuze und Guattari nicht per se an eine Zentralisierung im Sinne harter Segmentierung gekoppelt, sondern werden in staatlichen Gesellschaften von einer zentralen Machtorganisation überkodiert. Der Staat ist in diesem Sinne ein „Resonanzapparat“ und eine „Übercodierungsmaschine“ oder mit den Worten des marxistischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas eine „Verdichtung von Kräfteverhältnissen“[16]. Der Staat ist also nicht durch die Unterscheidung von privat und öffentlich gekennzeichnet, sondern durch eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Organisation: Hegemonie ist also eine produktive Machtorganisation, die die gesamte Gesellschaft durchzieht und an zentralistische Steuerungsinstanzen zurückgebunden ist. Diese steuern aber nur indirekt über Eingriffe auf der molaren Ebene die von Quantenströmen durchzogenen molaren Segmente und Kodierungen. Die Ströme gehen über die Apparate und Institutionen hinaus, sie überfluten sie und führen zu ständigen Mutationen.

 
Wissen

Die Transformation der Gesellschaft im Sinne einer erneuerten „Politik der Arbeit“ kann also nicht im Sinne einer Vereinfachung der Verhältnisse verstanden werden. Die historische Entwicklung der kapitalistischen Produktion führt vielmehr zu einer immer akzentuierteren „Molekularisierung menschlicher Elemente“[17]. Eine gesellschaftliche Transformation muss also eine andere Verbindung der Ebene des molaren, des molekularen und der Quantenströme anstreben, deren Effekte zugleich passive Revolutionen verhindern müssen. Hier ist die Frage der gesellschaftlichen Organisation des Wissens von zentraler Bedeutung, die auf das Problem des Universalismus und die Poetik des Wissens zurückführt.

Auf der Ebene des Wissens werden einerseits Machteffekte durch den diskursiven Zuschnitt der gesellschaftlichen Felder und Gegenstände erzielt. Hier setzen Deleuze und Guattari mit ihren Überlegungen in Was ist Philosophie? an. Indem sie Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen dem Feld der (Natur-)Wissenschaft, der Philosophie und der Kunst konzeptualisieren, werden die verschiedenen Aussageregime miteinander in Verbindung gesetzt und dadurch Ansatzpunkte für Transformationen in den Wissensordnungen geschaffen: Diese sollen auf andere Dimensionen und Register hin dezentriert werden, um so die hegemoniale Relation der verschiedenen Diskursformationen im Verhältnis zueinander zu verändern. Andererseits ist die gesellschaftliche Wissensordnung an Praktiken der gesellschaftlichen Organisation gebunden, die Dispositive mit verfügender und eine verfügbarer Subjektivität, also Führer und Geführte in gramscianischer Terminologie, produzieren. Um nicht die Effekte dieser Machtdispositive auf der Ebene der Wissenschaft und Theorie zu verdoppeln, ist  Tausend Plateaus als „Rhizomatik“ konzipiert.[18] Die konzeptionelle theoretische Arbeit ist aber durch einen Anti-Stil gekennzeichnet, der sich in seiner Form gegen die disziplinierenden Schreibweisen der Königswissenschaften wendet und durch einen Stil-Mix den verschiedenen Ausdrucksmaterien auf der Ebene des Textes „zu ihrem Recht“ verhelfen will. Diese Schreibweise versucht also die Grenzen der Diskursformationen und ihre epochalen Blöcke zu unterlaufen und über die Umdifferenzierungen des Wissens zur Schaffung neuer Subjektivierungs- und Lebensweisen beizutragen.

Genau diese Verschiebung der Wissensformationen verkennt die Kritik von Badiou u.a., die in ihr einen reinen „Ästhetizismus“ sehen, eine Reduktion des Denkens auf die Kunst.[19] Sie vermögen das Problem eines Umschlags vermeintlich partikularer Forderungen in einen universalistischen Bruch nur abstrakt, logisch oder kategorisch zu denken, anstatt wie bei Deleuze und Guattari oder Foucault im Sinne eines Gefüges, in dem der Bruch aus der Addition der Kräfte erwächst, während bei Badiou & Co. der Umschlag ins Universale durch eine Verabsolutierung subjektiver Entscheidung garantiert wird.

Die Para-Universalisten tun so, als sei  Tausend Plateaus als „künstlerische Kritik“ im Sinne Boltanskis zu lesen, ohne zu erkennen, dass die Trennung zwischen dieser und der politischen, ökonomischen etc. Kritik schon eigentlich das Resultat der historischen Niederlage der sozialen Bewegungen nach 1968 gewesen ist. Nur so konnten bestimmte Momente, die oft fälschlicherweise als „molekular“ gelabelt werden, später durch den Neoliberalismus vereinnahmt werden, der die neuen Formen von Subjektivierung, die entstanden waren, erfolgreich zu rekodieren imstande gewesen ist.[20] Der Differenz- oder kognitive Kapitalismus ist Effekt eines molekularen Transformismus, einer Art passiven Revolution der Gefüge und Wissensformationen. Daraus folgt: Weder kann man 1968 wiederholen, noch genügt ein vermeintliches Lernen aus den Fehlern von 1968, das jetzt nur noch auf „soziale Kritik“ setzt. Es geht um eine Veränderung aus dem Inneren der Gefüge, um andere, bessere Gefüge.



[1] Katja Diefenbach, „Nach 1968. Anmerkungen über Singularität und minoritäre Politik“, in: transversal 06 2007, http://eipcp.net/transversal/0607/diefenbach/de.

[2] Bei der wir uns für Kritiken und Kommentaren zu diesem Text bedanken.

[3] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 295.

[4] vgl. Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 246.

[5] Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 520.

[6] Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte, Frankfurt am Main: Fischer 1994.

[7] Christine Buci-Glucksmann, „Über die politischen Probleme des Übergangs: Arbeiterklasse, Staat und passive Revolution“, in: SOPO 41 1977, S. 13-35, S. 20f.

[8] vlg. Ibid., S. 62.

[9] Vlg. Stephan Adolphs / Serhat Karakayalı, „Die Aktivierung der Subalternen – Gegenhegemonie und passive Revolution“, in: Sonja Buckel / Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramcis, Baden-Baden: Nomos, S. 121-140, hier S. 123-29.

[10] Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg: VSA 1973, S. 108-168.

[11] Félix Guattari, Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: Merve 1977, S. 15f.

[12] Ibid., S. 13.

[13] Ibid.

[14] Vgl. Félix Guattari, „Über Maschinen“, in: Henning Schmidgen (Hg.), Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Félix Guattari, Berlin: Merve, S. 115-132, hier S. 118f.

[15] Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 305 f.

[16] Vgl. Nicos Poulantzas, Staatstheorie, Hamburg: VSA 2002, S. 154ff.

[17] Félix Guattari, Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: 1977, S. 21.

[18] Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, op. cit., S. 12-42.

[19] Vgl. Alain Badiou, Gilles Deleuze. Das Geschrei des Seins, Berlin: Diaphanes 2003.

[20] Vgl. Stephan Adolphs / Serhat Karakayalı, op. cit., S. 130-38.

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