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06 2008

Eine Tangente, die den Kreis verrät

Über die Grenzen der Treue in der Übersetzung

Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel

Boris Buden

„Wenn wir den traditionellen Ausspruch Traduttore, traditore ins Deutsche zu übersetzen hätten als ‚der Übersetzer ist ein Verräter‘, dann würden wir dem reimenden Epigramm des Italienischen seinen ganzen paronomastischen Wert nehmen. In kognitiver Einstellung würden wir uns deshalb gezwungen sehen, diesen Aphorismus in eine explizitere Aussage umzuwandeln und auf die Fragen: Übersetzer welcher Mitteilungen? Verräter welcher Werte? zu antworten“[1]
Roman Jakobson

 
Das Problem der Treue ist ein Allgemeinplatz in der Übersetzungstheorie und erscheint üblicherweise in einer Beziehung gegenseitiger Ausschließlichkeit zur sogenannten Freiheit der Übersetzung. Dieser bipolaren Konstellation gemäß ist eine Übersetzung dem Quelltext entweder treu, indem sie sich so genau wie möglich an seinen Wortlaut hält, oder aber im Verhältnis zum Original frei und mehr um ihre eigenen Ziele bemüht. Doch es gibt kein objektives Kriterium, um den Grad der Treue einer Übersetzung oder die Bandbreite ihrer Freiheit zu bemessen; beide sind normative Forderungen, deren Begründungen die Logik der rein linguistischen Übersetzungspraxis überschreiten.

Treu oder frei? Eine Entscheidung in diesem Dilemma, das allen, die je praktisch mit der Aufgabe des Übersetzens konfrontiert waren, wohlbekannt ist, wird immer aufgrund von etwas gefällt, das in der Übersetzung mehr als Übersetzung ist. Dies wird gemeinhin „Kontext“ genannt und besagt, dass ein Text ohne die Erwägung – oder genauer, Mit-Übersetzung – seines Kontexts nicht angemessen übersetzt werden kann. Doch was ist eigentlich dieser Kontext? Was ist dieses Moment, das mehr als den einfachen verbalen Kontext der Worte des Originals ausmacht? Ist es die Gesellschaft, oder Geschichte, Politik, Kultur, oder eine besondere Mischung von alledem? Handelt es sich um den Kontext des Quelltextes oder um den Kontext der Übersetzung, oder vielmehr um etwas jenseits davon?

Sicher, der Kontext der Übersetzung ist ebenso kontingent wie das menschliche Leben selbst, das heißt seine Bedeutung ist eine existenziell, sozial, historisch, politisch, kulturell usw. kontingente Kategorie.[2] Anders ausgedrückt, Treue und Freiheit der Übersetzung machen nur Sinn im Kontext dessen, was Treue und Freiheit für einen bestimmten Menschen, in einer bestimmten Gesellschaft, einer geschichtlichen Epoche, einer ideologischen und politischen Situation oder Kultur konkret bedeuten. Ein/Eine ÜbersetzerIn kann niemals einfach treu gegenüber der „wahren“ Bedeutung eines Originaltextes sein, sondern vielmehr gegenüber einigen Werten, die sowohl dem Kontext des Originals als auch dem Kontext der erstellten Übersetzung zugehören können; dasselbe gilt für die Freiheit der Übersetzung.

An dieser Stelle sollte man sich an die Forderung Walter Benjamins erinnern, dass sowohl das Original als auch dessen Übersetzung gleichermaßen einem zeitlichen Wandel ausgesetzt sind.[3] Zunächst ist das Original keine Entität, deren Bedeutung im Moment ihres Entstehens ein für alle Mal festgelegt würde, sondern es ist in dem, was Benjamin sein „Fortleben“ nennt, Wandlungen unterworfen. „Was damals jung, kann später abgebraucht, was damals gebräuchlich, später archaisch klingen“[4], schreibt er. Eine Übersetzung kann ihrerseits niemals zur selben Zeit erstellt werden wie das Original. Diese Nachträglichkeit ist ein wesentliches Element ihrer Beziehung zum Original, sie macht die Übersetzung zu einem Teil von dessen „fortgesetztem Leben“[5], zu einem Moment im „Reifeprozess“ des Originals. Doch auch die Übersetzung erfährt zeitliche Wandlungen; „[…] so wandelt sich auch die Muttersprache des Übersetzers“[6], sagt Benjamin. Selbst die beste Übersetzung kann von der Entwicklung ihrer Sprache überwuchert werden und womöglich in ihrer Geschichte untergehen.

 
I.

Die Frage ist nun, was mit dem weiteren Kontext sowohl des Originals als auch seiner Übersetzung geschieht. Erfährt auch dieser einen zeitlichen Wandel? Was geschieht, wenn der zur Zeit der Schaffung des Originals gegenwärtige Kontext, der zu dessen Bedeutung wesentlich beitrug, später archaisch, schwer verständlich oder gar sinnlos wird? Ähnliches gilt für den Kontext der Übersetzung, auch er kann geschichtlich von seiner eigenen Entwicklung überwuchert werden. Bedeutet dies letztlich, dass die geschichtliche Zeit tatsächlich der endgültige Kontext des Wandels ist, und zwar sowohl jener des Originals und seiner Übersetzung wie auch ihrer jeweils besonderen Kontexte? Ist Geschichte eine Art Kontext aller Kontexte?[7] In den 1920ern, in der Zeit von Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“, wäre solch einer Vermutung kaum widersprochen worden.

Doch heute scheinen die Dinge anders zu liegen. Stellen wir uns zum Beispiel die Übersetzung eines Pamphlets, das von rebellischen StudentInnen inmitten der Aufstände des Pariser Mai 1968 geschrieben wurde, vor. Sagen wir, es sei in Französisch geschrieben. Worin besteht jedoch der Kontext dieses Texts, oder genauer, was wurde zur Zeit seiner Schaffung als sein Kontext wahrgenommen? Die Antwort darauf sollte nicht schwerfallen. Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit können wir nachträglich sagen, dass sein Kontext die französische Gesellschaft in einem besonderen Moment ihrer historischen Entwicklung war. Wir können außerdem auf einen weiteren Kontext verweisen und die weltweiten Proteste der Jugendlichen in den 1960ern erwähnen – von Kalifornien und Mexiko bis nach Berlin, Prag und Belgrad usw. Dabei ist es entscheidend, dass wir diesen Kontext nahezu ausschließlich in soziopolitischen Kategorien bestimmen können. Das Pamphlet wird sodann vor allem als Ausdruck einer Art von sozialem Widerspruch verstanden. Seine Intention wird als Forderung nach sozialer Veränderung in ihrer radikalsten Form einer universalen Revolution angesehen, das heißt als Forderung nach einer Veränderung der Welt als solcher; es sollte performative Qualität haben, womit die Macht gemeint ist, sowohl aktiv am Ereignis teilzunehmen als auch seine AutorInnen politisch und sozial zu subjektivieren: Selbst wenn der/die AutorIn ein Individuum wäre, erscheint der Text ebenso als Produkt eines „wir“ wie auch als eigentlicher Produktionsakt dieses „wir“. Kurz, man liegt offensichtlich nicht falsch, wenn man diesen Kontext letztlich „Gesellschaft“ nennt, als historische und politische Kategorie in einem vollständig universalen Sinn verstanden.

Was würde es demnach heute bedeuten, dieses Pamphlet in eine beliebige Sprache in Erwägung seines Kontexts zu übersetzen, oder, genauer noch, seinen Kontext mit zu übersetzen? Ein/Eine ÜbersetzerIn würde nicht nur der Fremdheit der französischen Originalsprache begegnen, sondern auch einer bestimmten Fremdheit des Kontexts. Zuallererst wird der Kontext der Übersetzung in den konzeptuellen – man könnte auch sagen: den ideologischen – Rahmenbedingungen der heutigen Übersetzungspraxis, kurz, im hegemonialen Verständnis von Übersetzung, fast ausschließlich in kulturellen Begriffen wahrgenommen. Die Übersetzung eines Texts bedeutet heute geradezu automatisch die Übersetzung einer Kultur. Aus diesem Grund würde heute beinahe niemand widersprechen, wenn wir sagen, dass jede linguistische Übersetzung immer bereits eine kulturelle Übersetzung ist. Das ist nicht nur in der zeitgenössischen Übersetzungstheorie ein Gemeinplatz, sondern auch in der Kulturtheorie, die den Begriff der Übersetzung als eines ihrer wichtigsten begrifflichen Werkzeuge eingeführt hat.

Was aber ist der „wahre“ Kontext des Pamphlets in unserem Beispiel? Ist es die Gesellschaft oder vielmehr die Kultur? Konkret, was ist – um eine der berühmtesten Phrasen jener Zeit zu verwenden – der Kontext des Satzes „Soyons réalistes, demandons l’impossible“ bzw. seiner deutschen Übersetzung: „Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche“? Noch einmal, wir sprechen von einem Kontext, der offensichtlich die eigentliche Bedeutung der Begriffe „Realität“ und „Möglichkeit/Unmöglichkeit“ bestimmt. Wenn, wie vorher vorgeschlagen, dieser Kontext nicht länger die Gesellschaft, sondern die Kultur ist, um welche Kultur handelt es sich dann? Eine Kultur des Volksaufstandes oder sogar eine „revolutionäre Kultur“, die typisch für das ist, was wir als nationale französische Identität erkennen und wofür sich leichthin ausreichend historische Beweise finden lassen? Oder aber eine Kultur der Jugendrevolte, die sich der konservativen und autoritären Kultur der französischen Gesellschaft dieser Zeit entgegensetzte? Oder gar eine Kultur der „gegenkulturellen“ Subversion, wie sie in den 1960ern nicht nur in Frankreich, sondern auch weit über seine Grenzen hinaus verstanden und praktiziert wurde? Wenn es sich nicht nur um eine französische oder europäische Kultur handelt, geht es dann um eine westliche oder einfach modernistische Kultur?

Die Frage ist demnach, ob der Wortlaut dieses Pamphlets, der ein so wichtiges Thema anspricht wie unser Verhältnis zur Realität – „realistisch“ sein oder nicht – im Sinn einer radikalen sozialen Veränderung oder im Sinn einer kulturellen Besonderheit (jeglicher Art) verstanden werden soll.

Das ist keine abstrakte Frage. Wie kann man in diesem besonderen Fall dem Original Treue erweisen – denken wir daran, dass Treue zur Übersetzung immer eine Treue zu irgendeiner Art von Kontext ist –, wenn man glaubt, dass die Idee einer radikalen Veränderung der Welt zwangsläufig unrealistisch ist oder, was auf dasselbe hinausläuft, nur in einer Kultur realistisch sein könnte, die nicht die unsere ist. Es wäre hier auch nicht hilfreich, eine neutrale Position einzunehmen und zu sagen: Der Text ist ein Dokument einer vergangenen Zeit, ein Text aus einem geschichtlich toten Kontext, daher können wir diese Frage ignorieren. Das ist falsch, und zwar nicht nur aufgrund des diskursiven Inhalts eines solchen Pamphlets, das niemals ein neutraler Kommentar zu seinem Kontext, das heißt, zum Ereignis der Revolte war, sondern vielmehr dessen aktiver Teilnehmer oder sogar das Ereignis selbst. Die nachträgliche Trennung dieses Texts vom Ereignis, an dem es zuinnerst Anteil hatte, würde eine weit grundlegendere Frage aufwerfen: Warum sollte man ihn denn überhaupt übersetzen? Warum tote Texte aus toten Kontexten übersetzen? Wird die Übersetzung zum Begräbnis von Worten und Bedeutungen degradiert, dann verliert sie, ungeachtet dessen, wie prunkvoll und gut besucht dieses Begräbnis ist, dennoch ihre raison d’être. Übersetzung kann nicht „von zwei verstorbenen Sprachen die taube Gleichung […] sein“[8], schrieb Walter Benjamin. Er sah die Aufgabe des/der ÜbersetzerIn im Kampf um das Überleben des Originals und der Sicherung seines Fortlebens, und nicht darin, ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Das gilt offensichtlich auch für den Kontext. In einer guten Übersetzung muss auch dem Kontext des Originals ein Fortleben verschafft werden, „das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre“[9]. Doch was bedeutet das konkret im Fall unseres Pamphlets von 1968? Wie bereits erwähnt, wurde sein Kontext damals als soziale Kategorie wahrgenommen, oder genauer, als eine besondere historische Form sozialen Widerspruchs, dessen Ausdruck und Artikulation dieses Pamphlet war. Doch jetzt, in der Zeit seiner Übersetzung, erscheint derselbe Kontext kulturell strukturiert, und zwar im Sinn einer posthistorischen kulturellen Differenz. Sollten wir das Verhältnis dieser beiden Kontexte als eine Art von Übersetzung denken? Hat dies für die Kultur sodann zur Folge, das Fortleben der Gesellschaft, eine Form ihres Überlebens zu sein?[10]

Gewiss, das ist nicht so einfach. Benjamin warnte uns davor, das Wesen der ständigen Wandlung der Sprache sowohl des Originals wie seiner Bedeutung in der „Subjektivität der Nachgeborenen“[11] zu suchen. Mit anderen Worten, aus der Tatsache, dass das kulturelle Paradigma in unserer Wahrnehmung des Kontexts dieses Pamphlets das soziale Paradigma ersetzt hat, folgt nicht zwangsläufig, dass diese Veränderung eine erfolgreiche Übersetzung ausmacht, in der, wie Benjamin es ausdrückt, „das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung“[12] erreicht. Wenn heute die Kultur die ÜbersetzerInnen jenseits der engen Vorstellung ihres Berufs subjektiviert, das heißt, wenn die Aufgabe des/der heutigen ÜbersetzerIn immer schon eine kulturelle Aufgabe ist, bedeutet das nicht automatisch, dass diese Kultur nun die „späteste und umfassendste Entfaltung“ dessen ist, was einst die soziale Kontextualisierung sowohl des Texts als auch seiner Übersetzung war, kurz, die soziale Aufgabe des/der ÜbersetzerIn. Im Gegenteil, wir sollten auch eine andere Möglichkeit zulassen, und zwar diejenige von Kultur als gescheiterter Übersetzung der Gesellschaft.

 
II.

Nehmen wir, wie bereits vorgeschlagen, an, dass nicht nur das Original und seine Übersetzung, sondern auch deren Kontexte eine zeitliche Veränderung durchmachen. Dieser Wandel jedoch ist keinesfalls eine lineare Entwicklung in einer abstrakten historischen Zeit. Man muss kein/keine hegelianische/r DialektikerIn sein, um sich dies als einen Prozess vorzustellen, der nicht nur regressive Tendenzen aufweisen kann, sondern der auch widerstreitende Interessen und Machtverhältnisse, Hegemonie oder offene Herrschaft widerspiegelt – oder von ihnen sogar hervorgerufen wird. Mehr noch, dieser Wandel könnte nichts anderes als eine Art Leerlauf, im Sinn des wohlbekannten Spruchs „Alles verändern, sodass sich nichts verändert“ sein; kurz, er könnte eine zwanghafte Wiedereinsetzung des Status quo sein. Anstatt eine Erneuerung mit sich zu bringen, könnte die geschichtliche Zeit, oder genauer, die sie artikulierenden und formatierenden Kräfte, aktiv gegen einen Text arbeiten, der es wagt, ihre Hegemonie herauszufordern, indem diese Kräfte seinen Kontext in ein Hindernis für das Verständnis und die Übersetzung verwandeln. Im Augenblick seiner Übersetzung plötzlich auferweckt, findet sich ein solcher Text möglicherweise in einem durchwegs feindlichen Kontext wieder. Nochmals, Benjamin zufolge muss eine gute Übersetzung die Erneuerung von etwas Lebendigem sein. Was aber, wenn der Kontext – oder die aktuelle hegemoniale Wahrnehmung dieses Kontexts – genau dazu bestimmt ist, das Entstehen von etwas Neuem zu verhindern? In ihrer abstrakten Objektivität sich selbst überlassen, könnte die Geschichte die Rolle einer schlechten Übersetzerin übernehmen, die immer ihren egoistischen Interessen folgt und sich keinen Deut um das Fortleben geschriebener Worte schert. Sie kann demnach stets einen neuen, den Text möglicherweise tötenden Kontext entwickeln. Auf diese Weise könnte die Geschichte die Übersetzung verunmöglichen, wenigstens solange sich der/die ÜbersetzerIn ihr nicht zu widersetzen wagt. Aus diesem Grund sollte kein Kontext als gesichert erachtet werden, denn er kann sich selbst als gescheiterte Übersetzung erweisen, die den „Reifungsprozess des geschriebenen Wortes“, wie es Benjamin nennt, nicht fördert, sondern vielmehr hemmt. Ein Kontext kann auch einen Wandel ohne Erneuerung erfahren. Anstatt durch die geschichtliche Verwandlung seine „stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung“[13] oder – einer englischen Übersetzung folgend – seine „beständig erneuerte späteste und reichhaltigste Blüte“[14] zu erlangen, kann der Kontext, ganz im Gegenteil, vergreisen und womöglich zugrunde gehen.

Nehmen wir nun zu analytischen Zwecken an, dass dies bei der Verwandlung des Kontexts der Gesellschaft in den Kontext der Kultur der Fall ist und dass diese Verwandlung solch eine gescheiterte Übersetzung darstellt. Kultur, die heute, um es nochmals zu betonen, beinahe einstimmig als „natürlicher“ Kontext jeder Übersetzung wahrgenommen wird, wäre demnach nicht der Augenblick einer neuen Blüte oder einer Art Frühling der Gesellschaft. Vielmehr könnte sie sich leichthin als ihre Verfallsform oder, um eine korrespondierende Metapher zu verwenden, als Winter der Gesellschaft erweisen – anders ausgedrückt: als der Zustand ihres Winterschlafs.

Ähnlich jenen Individuen, die ihre Körper nach dem Tod einfrieren lassen, in der Hoffnung, wiedererweckt zu werden, wenn die Zukunft endlich die Mittel zur Heilung ihrer tödlichen Krankheit gefunden hat, ist diese als Kultur überwinternde Gesellschaft eine Gesellschaft, die von der Zukunft erwartet, dass sie rückwirkend ihre Todesursache aufhebt und sie zu neuem Leben erweckt. Weit davon entfernt, ihr „Überleben“ oder „Fortleben“ zu sein, erscheint die Kultur, um Hegel zu paraphrasieren, in diesem Fall vielmehr als „schlechte Nachträglichkeit“ der Gesellschaft, das heißt als Nachträglichkeit, die sich selbst als Subjekt-Wesen des geschichtlichen Wandels missversteht. Für Benjamin lässt sich, um es nochmals zu wiederholen, das Wesen jenes Wandels, dem sowohl das Original als auch dessen Übersetzung ausgesetzt sind, nicht in dem finden, was er die „Subjektivität der Nachgeborenen“ nennt. Die Eigenschaft des „Danach-Kommens“ beinhaltet jenen Wandel nicht, der das Leben geschriebener Worte bestimmt, denn es ignoriert die Tatsache ihrer Sterblichkeit. Übersetzbarkeit ist Benjamin zufolge nicht die Eigenschaft aller Kunstwerke, sondern nur mancher, und zwar jener, die in der Lage sind zu überleben. Andere gehen zugrunde, ohne je in der Übersetzung ein Fortleben gefunden zu haben, oder fallen durch schlechte Übersetzungen in einen Winterschlaf. Eine schlechte Übersetzung ist kein Fortleben des Originals, sondern vielmehr ein „fort“ ohne Leben, kurz, seine schlechte Nachträglichkeit.

Dieselbe Voraussetzung bestimmt auch den Kontext der Übersetzung, der einige Texte unübersetzbar macht. Wie lässt sich ein Aufruf zur radikalen Veränderung – in unserem Fall ein Pamphlet rebellischer StudentInnen von 1968 – treu übersetzen in einem Kontext, der das Ereignis des Wandels selbst vollständig getrennt hat von seiner performativen Textualität, von einer typisch modernistischen Art des textuellen Ausdrucks, objektiviert in der literarischen Form des Pamphlets oder Manifests, die immer die auf Handlung und Subjektivierung orientierte Macht des Texts impliziert? Mehr noch, warum sollte dieser Aufruf übersetzt werden, wenn er nicht als Akt eines bestimmten „wir“ (re)kontextualisierbar ist? Jetzt würde er wie ein gefrorenes Echo des Originals klingen; er würde sich wie eine Menge überwinterter – das heißt noch nicht völlig toter – Worte lesen.

An dieser Stelle sollten wir uns an Benjamins Diktum erinnern, dass „Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat“[15]. Was aber, wenn in der Zwischenzeit der Kontext diesen Ruhm gefährdet oder gar ins Gegenteil verkehrt hat? Unglücklicherweise hat uns Benjamin nicht gesagt, was es bedeutet, einen Text nicht im Zeitalter seines Ruhmes, sondern vielmehr im Zeitalter seiner Schande zu übersetzen. – Eine unvermeidliche Frage, denn genau dies ist in unserem Beispiel, dem Pamphlet von 1968, der Fall. Der heutige Kontext hat seinen einstmaligen Ruhm in die gegenwärtige Schande verwandelt bzw. übersetzt. In der Tat ist Schande vermutlich die beste Beschreibung dafür, wie sich unsere Zeit auf die Jugendrevolte der 1960er bezieht. Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass man über ihre Ikonen wie Lenin oder Mao wahrhaftig beschämt sein sollte, beschämt über die Intellektuellen, die Pol Pot und das mörderische Regime der Roten Khmer unterstützten, beschämt über das Ideal – und die Praxis – der freien Liebe, über die exzessiven Angriffe auf alle Arten von Autorität, über den Glauben an eine radikale Veränderung, über die Ideale von Realität und Möglichkeit sowie über das besondere Verhältnis der beiden, das diesen historischen Augenblick noch immer symbolisiert: „Seid realistisch, fordert das Unmögliche“. Man muss sich fragen, ob es irgendetwas gibt, dessen sich die sogenannte Protestgeneration der 1960er nicht schämen sollte?[16] Doch was ist diese Schande tatsächlich, die jetzt den Kontext dieses Texts unterrichtet? Ist sie ein Fortleben – eine Übersetzung – des Kontexts seines Ruhmes? Oder vielmehr ein zweifelhafter Vorteil jener, die einfach nur später kamen und nun diese triviale – schlechte – Nachträglichkeit mit einer tieferen Einsicht oder, wie Benjamin sagen würde, mit der Subjektivität der Nachgeborenen verwechseln? Noch einmal: Was, wenn die Schande nicht das Fortleben des früheren Kontexts, sondern vielmehr das „fort“ ohne Leben, ein Kontext ohne seine Übersetzung ist? Welchem Kontext sollte der/die ÜbersetzerIn dann letztlich treu sein?

Ein kurzer historischer Rückblick auf das Problem der Übersetzungstreue könnte zur Beantwortung dieser Frage hilfreich sein.

 
III.

Vor allem dank der deutschen Romantik erkannte die Theorie der Übersetzung nicht nur das Problem der Treue, sondern entdeckte auch die Bedeutung der Treue in dem, „was in der Übersetzung mehr als Übersetzung ist“, das heißt im Kontext der Übersetzung. Dennoch ist die Übersetzungstheorie heute recht ambivalent, was den romantischen Übersetzungsbegriff angeht. Einerseits rühmt sie die deutsche Romantik wegen ihres Eintretens für die Wörtlichkeit beim Übersetzen, das heißt, für ihre Offenheit dem gegenüber, was Wilhelm von Humboldt das Fremde* in Quellsprache und Quelltext nannte. Heute würden wir eher davon sprechen, dass die Übersetzungstheorie die deutsche Romantik für ihren Respekt vor den linguistischen und kulturellen, also kontextuellen Differenzen fremdsprachiger Texte rühmt.

In der Tat, die Vorliebe der deutschen Romantik für das Fremde* scheint zunächst eine Entscheidung in einem höchst praktischen Dilemma sprachlicher Übersetzung zu sein. Seinen besten Ausdruck findet dies in Friedrich Schleiermachers bekannter Formel: „Entweder lässt der Übersetzer den Schriftsteller möglichst in Ruhe und bewegt den Leser ihm entgegen, oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“[17] Einfacher ausgedrückt bedeutet dies, dass wir entweder treuer, das heißt wörtlicher, „Wort für Wort“, übersetzen und die Sprache der Übersetzung verfremden, oder aber ganz im Gegenteil freier, „Sinn für Sinn“, übersetzen und die Übersetzung so stark wie möglich zähmen oder naturalisieren. Schleiermacher und andere Übersetzungstheoretiker der deutschen Romantik bevorzugten die erste Methode, die das Fremde* des Quelltexts respektiert; kurz, sie zogen die Treue der Freiheit vor.

Andererseits wurde diese Fremdheit im Hinblick auf ihren positiven Effekt auf die deutsche Sprache und Kultur verstanden. Ihre Rolle bestand darin, beide zu verbessern – zu bereichen und auszuweiten –, und da Sprache und Kultur für die deutschen Romantiker das eigentliche Wesen der Nation ausmachten, war es ihr höchstes Ziel, eine deutsche Nation zu erbauen. Aufgrund dieser auf den Kontext gegründeten Teleologie der Übersetzung, die das Ziel der Kommunikation und den Horizont einer angeblich rein linguistischen Praxis übersteigt, wird die deutsche Übersetzungstheorie als nationalistisch erachtet.[18] Tatsächlich reduziert sie die Übersetzung auf eine Hilfspraxis für den Aufbau der Nation.

In Humboldts Übersetzungstheorie ist dies noch deutlicher impliziert: Hier wird die Treue zur Übersetzung als notwendige Voraussetzung für den Aufbau der Nation bestimmt. Seiner Sprachtheorie zufolge ist Übersetzung in der Tat unmöglich. Da jedes Wort einer bestimmten Sprache deren einzigartigen Geist ausdrückt, besteht keinerlei Wahrscheinlichkeit, eine adäquate Entsprechung in einer anderen Sprache zu finden. Übersetzungen werden jedoch trotz ihrer Unmöglichkeit erstellt. Aus diesem Grund führt Humboldt eine moralische Kategorie, eine besondere Tugend ein, die er die Treue* nennt und die notwendig ist, damit der/die ÜbersetzerIn eine gute Übersetzung zustande bringt. Sie bezieht sich nicht auf irgendeine authentische Bedeutung des Originaltexts, sondern vielmehr auf die Muttersprache des/der ÜbersetzerIn oder, was für Humboldt dasselbe ist, auf seine/ihre Nation. Auch für Humboldt besteht die Aufgabe des/der ÜbersetzerIn nicht darin, Bedeutungen über linguistische Differenzen hinweg zu transportieren und damit die Kommunikation zwischen verschiedenen Sprachen, Nationen oder Kulturen zu ermöglichen oder zu erleichtern, sondern vielmehr darin, die Sprache und konsequenterweise die Nation des/der ÜbersetzerIn aufzubauen.

Das wiederum ist der Grund, weshalb der/die ÜbersetzerIn dem Fremden* treu sein soll. Das Fremde* ist eine neue Qualität, die der/die ÜbersetzerIn seiner oder ihrer Sprache hinzufügt und so ihren Geist, den Geist der Nation, bildet. In letzter Konsequenz ist die Treue eine patriotische Tugend, jedoch nicht einfach im Sinne einer abstrakten Liebe zur Nation. Diese Liebe macht nur dann Sinn, wenn sie die Gestalt einer Hingabe zum Aufbau der Nation annimmt – oder zur Aufgabe der Bildung*, die wir als eine Art Kultivierung sowohl im individuellen als auch sozialen Sinn verstehen können. Anders gesagt, Übersetzung, die Humboldt zufolge unmöglich ist, wird gleichwohl möglich, aber nur, wenn der/die ÜbersetzerIn sich der Aufgabe der Bildung* widmet.

Herder sah die Aufgabe der Übersetzung ähnlich. Auch er verstand das Fremde*, das nach Humboldt und anderen deutschen RomantikerInnen in der Übersetzung deutlich wahrnehmbar sein muss, als eine Art Mehrwert, der die Sprache des/der ÜbersetzerIn und seine/ihre Nation verfeinert. Für Herder hat die deutsche Sprache für sich keinen klassischen Charakter; dennoch kann sie diesen durch Übersetzungen aus klassischen Sprachen, aus dem Griechischen und Lateinischen, erlangen. Demnach kann nur die Übersetzung der deutschen Sprache und Kultur eine klassische Qualität verleihen. Ansonsten bliebe sie so unvollkommen wie in ihrer ursprünglichen Form, die wir uns als eine Art sprachlichen Naturzustand vorstellen können – als Beschaffenheit der Sprache vor ihrer ersten Begegnung mit anderen Sprachen, als Verfasstheit der Sprache vor ihrer ersten Übersetzung. Das ähnelt deutlich der Idee einer Existenz des/der Einzelnen vor der ersten Begegnung mit anderen Einzelnen, vor den sozialen Beziehungen, kurz, vor der Entstehung der Gesellschaft.

Tatsächlich ist die offensichtliche Parallele zum Begriff des Gesellschaftsvertrags, jenes wohlbekannten theoretischen Märchens von der Entstehung der Gesellschaft und der sozialen Ordnung, kaum zu übersehen. Übersetzt in die Sprache des Gesellschaftsvertrags würde der von der deutschen Romantik entwickelte Begriff der Übersetzung – ebenso wie der Grund für ihre Befürwortung des Fremden in der Übersetzung sowie für die folgerichtige Bevorzugung der Treue vor der Freiheit – vermutlich so lauten: Eine Nation, ausgedrückt durch die Sprache als ihr eigentliches Wesen, gibt einen Teil ihrer natürlichen Reinheit, Einzigartigkeit oder Ursprünglichkeit auf und akzeptiert die Kontamination durch das Fremde, um den Kulturzustand zu erreichen. Übersetzung, die auf der normativen Idee der Treue gründet, ist einfach ein Mittel zur Kultivierung, ein Kultivierungsinstrument. Als handelte es sich um eine konzeptuelle Attrappe der Theorie des Gesellschaftsvertrags, muss der/die ideale ÜbersetzerIn in der Übersetzungstheorie der deutschen Romantik einen Teil seiner/ihrer Freiheit opfern, um eine kulturelle Mission zu erfüllen, die als ein der Übersetzungspraxis innewohnender Teil angesehen wird.

Aber noch einmal, die kulturelle Aufgabe des/der ÜbersetzerIn ist immer schon eine soziale – und politische – Aufgabe, die Aufgabe des Aufbaus der Nation; damit muss sich der/die ÜbersetzerIn identifizieren. Die Treue seiner oder ihrer Übersetzung ist keine Frage ihrer Qualität im Sinne einer Kontingenz, etwa eines Grades ihrer Treue zum Original, sodass wir von mehr oder weniger treuen Übersetzungen sprechen könnten; vielmehr ist sie eine Frage der Loyalität zur Nation, verstanden als kulturelle Kategorie. Daher bedeutet Untreue im Übersetzen nicht den Verrat am Originaltext, sondern den Verrat an der eigenen Nation des/der ÜbersetzerIn, und damit den Verrat an einer historisch bestimmten Form kultureller und sozialer Zugehörigkeit. Sie bedeutet letztlich den Verrat an einer sehr konkreten und sehr konkret verbindlichen Verpflichtung. Die Folgen eines solchen Verrats sind selbstverständlich viel tiefgreifender als die Folgen einer falschen oder schlechten Übersetzung.

 
IV.

Wir sehen nun, dass es nicht völlig falsch ist, die deutsche Romantik des Nationalismus zu bezichtigen, trotz ihrer ausgesprochenen Offenheit dem Fremden* gegenüber, die sicherlich kein typischer Zug des Nationalismus ist. Genau aufgrund ihres Beharrens auf Wörtlichkeit, auf der Idee einer Verfremdung der Sprache der Übersetzung, zielte diese Übersetzungstheorie nicht nur darauf ab, die deutsche Sprache und die deutsche Nation aufzubauen, sondern auch darauf, eine Grenze zum sogenannten französischen Übersetzungsbegriff zu errichten, der bekannt dafür war, einer Domestizierung oder, wie die deutschen Kritiker gesagt hätten, einer Assimilierung fremdsprachiger Texte den Vorrang zu geben. Diese Grenze war selbstverständlich eine politische Grenze.[19]

Die romantische Übersetzungsmethode errichtete damit einhergehend jedoch noch eine weitere Grenze, nämlich die zwischen dem Subjekt der Kultivierung, dem sogenannten Bildungsbürgertum*[20] oder der kulturellen Elite als den wahrhaften ErbauerInnen der Nation und ihrem Objekt, den Massen, die kultiviert oder, anders formuliert, vom Naturzustand in den Kulturzustand übersetzt werden mussten.[21] Auch dies sollte als eine Form der kulturellen Übersetzung verstanden werden. So schrieb Moses Mendelssohn im Jahr 1784: „Die Worte Aufklärung, Cultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache[22]. Der gemeine Haufe[23] versteht sie kaum.“[24] Demnach ist die effektivste Triebkraft des Nationenaufbaus und das wertvollste Element der modernen Identität einer Nation – die Ideen der Aufklärung, Kultur und Bildung* – buchstäblich ein Ankömmling, etwas Fremdes*, aus dem Ausland Importiertes, aus einer anderen Kultur Übersetztes, kurz, eine Übersetzung. Das bedeutet, dass wir die Übersetzung nicht nur als ein Hilfsmittel im Prozess des Aufbaus der Nation, ein Mittel zu ihrer Kultivierung denken sollten, sondern vielmehr, und noch radikaler, im Sinne des Prozesses des Nationenaufbaus selbst. Die Idee der Bildung*, der Kultivierung selbst ist eine Übersetzung. Anders ausgedrückt, das Wesentliche einer Kultur besteht genau darin, dass sie nicht den Status eines Originals für sich beanspruchen kann, da sie immer bereits eine Übersetzung ist.

Auch wenn die Kultur aus dem Draußen übersetzt wird, hat sie doch ihren Träger innerhalb der Nation, nämlich eine Klasse von BildungsbürgerInnen*, die sie einführen und repräsentieren soll. Das impliziert, dass wir – neben den sogenannten tatsächlichen ÜbersetzerInnen, die ihre Aufgabe der Kultivierung dadurch erfüllen[25], dass sie die linguistischen Übersetzungen aus fremden Sprachen bewerkstelligen, und die ein Teil der Klasse der BildungsbürgerInnen* sind – auch diese Klasse als solche als Klasse von kulturellen ÜbersetzerInnen verstehen sollten. Kulturelle Übersetzung bedeutet hier nicht vorrangig eine Übersetzung von irgendwelchen fremden kulturellen Inhalten, Ideen, Literatur usw. in eine heimische Nationalkultur, sondern vielmehr eine Übersetzung als Kultivierung, das heißt eine „heimische“ Kulturarbeit* im Sinne einer Übersetzung des Naturzustandes in den Kulturzustand – der höchsten Aufgabe von Bildung und Kultur*. Darum geht es der deutschen Romantik in der Treue der Übersetzung: um die Treue zur eigentlichen Aufgabe der Bildung*, zur Aufgabe des Nationenaufbaus als Kultivierungsprozess.

Für Humboldt muss, um es zu wiederholen, der/die ÜbersetzerIn dem Fremden* treu sein, doch er unterscheidet dieses von dem, was er die Fremdheit* nennt. Der Unterschied besteht darin, dass das Erstere, das Fremde* – das unvermeidlich ist, da für Humboldt der Geist in seiner objektiven Form nur in der Vielheit unterschiedlicher Nationalsprachen erscheint –, im Prozess des Nationenaufbaus als Mehrwert eingesetzt, investiert, integriert und vereinnahmt werden kann. Das Fremde baut die Nation auf, bringt sie hervor und kultiviert sie. Die Fremdheit* ist ganz im Gegensatz dazu ohne Nutzen für die Kultivierung, und überdies sabotiert sie den Prozess des Nationenaufbaus, gefährdet sein eigentliches Ziel und vernichtet seine wertvollsten Errungenschaften – kurz: sie setzt die Nation der Assimilierung aus.

Sicherlich bleibt die Frage bestehen, worin die Differenz zwischen den beiden, dem Fremden* und der Fremdheit*, liegt. Die Antwort darauf kann nur zynisch sein: Die Differenz liegt dort, wo die BildungsbürgerInnen*, also diejenigen, welche die Nation als treue kulturelle ÜbersetzerInnen kultivieren, bestimmen, dass die Differenz vorhanden ist. Anders ausgedrückt, die Differenz ist willkürlich und hängt nur vom Gefühl der Treue des/der ÜbersetzerIn ab. In letzter Konsequenz ist die Treue der Übersetzung, um Hans-Jost Freys Kommentar zu Humboldts Begriff der Übersetzungstreue zu zitieren, „der richtig gemessene Grad des in der eigenen Sprache erfahrbaren, oder besser gesagt, fühlbaren Fremden“[26].

Das bedeutet auch, dass wir das Bildungsbürgertum* als soziales Organ der Kultur im Sinn der Verfügbarkeit einer exklusiven und willkürlichen Kontrolle über das Fremde* bestimmen können. Es handelt sich um eine soziale Elite, die sich genau durch die Ausübung dieser exklusiven und willkürlichen Kontrolle wesentlich mit der Aufgabe des Aufbaus der Nation, das heißt mit dem Aufbau der Gesellschaft als Nation identifiziert. Die Angehörigen dieser Elite entscheiden, wo das Limit eines produktiven Gebrauchs des Fremden liegt, also darüber, wo das Fremde aufhört, die Gesellschaft aufzubauen, und beginnt, sie zu zerstören. Sie sind die ErbauerInnen der Gesellschaft, weil sie ihre PförtnerInnen sind; umgekehrt müssen sie die Grenzen der Gesellschaft bewachen – Grenzen, deren soziale Verkörperung sie sind –, weil sie die Gesellschaft aufbauen müssen. Das Entscheidende besteht darin, diese beiden Aufgaben – die sich in der Tugend der Treue treffen – zusammenzubringen. Denn nur im Bezug zur Aufgabe der Bildung lässt sich die wahre Bestimmung nationaler Grenzen verstehen, die viel mehr in der Selektion denn im Schutz besteht.

Das hilft uns auch zu erklären, warum kein Widerspruch in einer Politik liegt, die, stolz auf ihre demokratische Toleranz, einige sorgfältig ausgewählte Formen des Fremden annimmt und gleichzeitig repressive Gesetze gegen MigrantInnen erlässt, wodurch Schubhaft und Abschiebung legalisiert werden: Genau durch diese Vorgehensweise betreibt die Politik eine Form der treuen kulturellen Übersetzung. Sie trennt tatsächlich das Fremde von der Fremdheit und gliedert, oder genauer, baut Ersteres in die Gesellschaft ein. Die Frage, was mit dem Letzteren, mit der Fremdheit, geschieht, bleibt indessen ohne Zweifel bestehen.

 
V.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte so lauten: Die Fremdheit bleibt außerhalb der Gesellschaft im Sinn ihres ausgeschlossenen Außen und kämpft nun um Anerkennung und (Wieder-)Aufnahme. Genau so versteht Judith Butler kulturelle Übersetzung: als jenen Prozess, der den hegemonialen Begriff der Universalität hervorbringt.[27] Das, was in der Universalität abgelehnt wird und ihr ausgeschlossenes Außen bildet, setzt diese Universalität so lange unter Druck – als „Forderung nach Universalität“ –, bis es in diesem Begriff schließlich wieder zugelassen wird, was eine Neuartikulation des bestehenden Konzepts der Universalität zur Folge hat – ihre Bedeutung wird ausgedehnt, um das vorher Ausgeschlossene einzuschließen.

In den Kontext der vorliegenden Analyse gestellt heißt dies, dass Butlers Begriff der kulturellen Übersetzung tatsächlich einer Übersetzung der Fremdheit in das Fremde entspricht. Was vorher für eine Nation, Gesellschaft, Kultur, die Erste Welt oder welche bestehende Form der Universalität auch immer, als schädlich oder zumindest nutzlos angesehen wurde, wird nun als ihr Baumaterial anerkannt, das im Sinn einer progressiven Entwicklung „kultivierend“ wirkt. Kulturelle Übersetzung als Kultivierung – so lässt sich das hier nennen – hat in dieser Perspektive eine innere progressive Qualität. Sie verhilft der Welt dazu, immer besser zu werden, oder wie Judith Butler es konkret ausdrückt, „die demokratischen Möglichkeiten der Schlüsselbegriffe des Liberalismus“ zu erweitern und „sie inklusiver, dynamischer und konkreter zu machen“[28]. Vom Blickpunkt dieses liberalen Optimismus, der Fortschritt als das Ergebnis eines Spiels von Aus- und Einschlüssen versteht, in denen selbstverständlich die Einschlüsse letztlich immer das Übergewicht haben, ist die Fremdheit per definitionem eine verschwindende Eigenschaft, oder eher eine „zum Verschwinden verurteilte Eigenschaft“, so wie Schneereste im Frühling, die unter einer immer stärkeren Sonne kultureller Übersetzung langsam dahinschmelzen.

Doch es ist von zentraler Bedeutung, eine andere, dystopische Seite der kulturellen Übersetzung ins Licht zu rücken, denn sie könnte sich nicht nur als ein Mittel eines sich ständig erweiternden Einschlusses und damit als ein Vehikel progressiver Entwicklung erweisen. Es wäre auch möglich, dass sie ein Mittel des Ausschlusses selbst ist, das die Bandbreite des „ausgeschlossenen Außen“ erweitern kann – und dies tatsächlich vielfach tut –, das dergestalt nicht nur die hegemoniale Bedeutung der Universalität verengt, sondern auch ihre inneren Widersprüche vertieft und schließlich ihr Versprechen von Befreiung in gewaltsame Unterdrückung verkehrt.

Die Fremdheit impliziert im Gegensatz zum Fremden ihre Unübersetzbarkeit, doch diese Unübersetzbarkeit sollte nicht für einen negativen Rest kultureller Übersetzung gehalten werden – etwas, das „allzu fremd ist, um übersetzt zu werden“, und das in einer der nächsten Wellen von Übersetzung und Einschluss schließlich übersetzt werden könnte. Die Unübersetzbarkeit ist vielmehr ein positives Produkt, das heißt das Produkt einer negativen Selektion, welche durch eben diese kulturelle Übersetzung in jedem Übersetzungsakt vorgenommen wird, der immer bereits ein Akt der Unterscheidung zwischen dem Fremden und der Fremdheit, zwischen dem Übersetzbaren und dem Nicht- bzw. Noch-nicht-Übersetzbaren ist. Die Fremdheit ist demnach selbst ein Effekt von kultureller Übersetzung, hier als eine sozial bildende Übersetzung in die Kultur, das heißt als Kultivierung verstanden. Sie ist unübersetzbar, da sie nicht, zumindest noch nicht, in das symbolische Geflecht des Sozialen eingewebt werden kann – was die Kultur als Textur des Sozialen, also als Übersetzung der Gesellschaft in der Tat ausmacht.

Noch einmal, es gibt eine soziale Kraft, die für diese „kulturelle Urübersetzung“ verantwortlich ist, das heißt für die Übersetzung des Sozialen in seine kulturelle Textualität. Diese Kraft entscheidet, was übersetzbar und was unübersetzbar ist, und trennt sozial nützliche Verfremdung (das Fremde) von sozial verderblicher Verfremdung (der Fremdheit). Doch wir sollten eine solche Kraft nicht als eine Art repräsentative Elite der Gesellschaft, Nation, Kultur oder des bestehenden Konzepts der Universalität denken. Ihr elitärer Status ist nicht hauptsächlich durch ihren Platz in der Gesellschaft, Nation usw. legitimiert, sondern vielmehr durch ihre vermittelnde Position zwischen dem Fremden, das in die Gesellschaft eingebaut werden muss, und etwas, das man das natürliche Substrat der Gesellschaft nennen mag, nämlich eine Art Rohmaterial der Gesellschaft, das noch bearbeitet, oder anders gesagt, kultiviert werden muss. Das ist genau die Position des Bildungsbürgertums*: zwischen den klassischen Kulturen der Griechen und Römer, die in die deutsche Kultur übersetzt und eingebaut werden müssen, und den barbarischen deutschen Massen („dem gemeinen Haufen“), die mittels dieser Übersetzung kultiviert werden müssen.[29] In der Tat, jede Elite ist eine Elite von kulturellen ÜbersetzerInnen, und ebenso könnten wir sagen, dass jede Elite eine Kompradorenelite ist. Sie behandelt nicht nur einen Teil ihrer eigenen Gesellschaft als Kolonie, die von ihrer ursprünglichen Wildheit in die Kultur übersetzt werden muss, sie handelt auch als Agentin – als Übersetzerin – fremder Werte, die diese Gesellschaft kultivieren.[30] Daher ist ihre Treue zutiefst ambivalent; sie ist immer eine doppelte Loyalität, zum einen gegenüber der Gesellschaft, zum anderen gegenüber den fremden Werten. Aber dennoch ist es ein und dieselbe Treue, da beide Loyalitäten sich im Bekenntnis zur Aufgabe des Gesellschaftsaufbaus treffen, in ihrem Bekenntnis zur Idee von Gesellschaft als einer Lebensform, die beständig neu aufgebaut, erneuert und entwickelt, die also stets erneut aus einer Art natürlichem Substrat wiedergeboren werden muss, das selbstverständlich kulturell produziert und ideologisch vorausgesetzt wird.

In ähnlicher Weise könnten wir Butlers Begriff der kulturellen Übersetzung verstehen, die den bestehenden Begriff der Universalität neu artikuliert und verbessert. Auch er schließt eine Kompradorenelite von kulturellen ÜbersetzerInnen ein, die ihrer Aufgabe treu ist, das Universale – selbstverständlich im Sinne liberaler Demokratie – inklusiver zu gestalten. Diese Elite ist loyal sowohl gegenüber den fremden Werten, die inkludiert werden sollen, als auch gegenüber ihrer eigentlichen Idee einer einschließenden Universalität. Im Konkreten aber behandelt diese Elite die bestehende Form der Universalität als Objekt der Kultivierung und handelt zugleich als Agentin des ausgeschlossenen Außen, welches allein dazu fähig ist, diese Kultivierung hervorzubringen. Diese Elite von „angemessenen VerfremderInnen“ – treuen kulturellen ÜbersetzerInnen – ist in der Lage, zwischen dem nützlichen Fremden und der verderblichen Fremdheit zu wählen. Sie versteht es etwa sehr gut, einige „universale“ Werte der islamischen Religion von den patriarchalen oder „fundamentalistischen“ Zügen zu trennen, die „die demokratischen Möglichkeiten der Schlüsselbegriffe des Liberalismus“ niemals erweitern würden und daher ausgeschlossen bleiben müssen, zumindest solange sie sich den universalen Normen der Toleranz nicht anpassen.

Ironischerweise wird Butlers Begriff der kulturellen Übersetzung „ein gegenimperialistisches Übersetzungskonzept“[31] genannt; doch aus einer anderen Perspektive betrachtet ergibt sich ein Eindruck, der dem direkt entgegengesetzt ist. So schreibt der slowenische Philosoph Rastko Močnik, dass Butlers Begriff der kulturellen Übersetzung die Idee eines kulturellen Systems voraussetzt, das „der juristischen Ideologie nachgebildet [ist] und an […] jenem juridisch-politischen Universalismus teil[nimmt], der derzeit verschiedene imperiale Unternehmungen legitimiert (den Export von Demokratie und Recht in die Ukraine, Georgien, Kirgisien, Irak etc.)“[32].

 
VI.

Ist diese Perspektive auf kulturelle Übersetzung eine Perspektive der Ausgeschlossenen, der unübersetzbaren Fremdheit, die, gerade weil sie ausgeschlossen und unübersetzbar gemacht wurde, das existierende Konzept der Universalität am Leben erhält und dieses in den fortwährend anbrandenden Wellen der kulturellen Übersetzung sein stets erneuertes Fortleben finden lässt? Gibt es irgendjemanden – eine Elite, eine Kraft –, der oder die dieser Fremdheit treu sein könnte?

Seltsamerweise ist es wiederum der Begriff der kulturellen Übersetzung, der eine Antwort auf diese Frage liefert – diesmal allerdings in der von Homi Bhabha konzeptualisierten Version. Kulturelle Übersetzung ist hier ein anderer Name für die kulturelle Hybridität, die jenseits der multikulturalistischen Vision der Welt als einer Anhäufung ursprünglicher kultureller Identitäten auftaucht. Die Fremdheit bedeutet nun eine positive Artikulation der kulturellen Differenz als solcher. Die Formen ihrer Artikulation, die der Logik der kulturellen Übersetzung folgen – wie etwa Subversion, Transgression, Blasphemie, Häresie etc. –, bringen die Politik eines neuen Internationalismus hervor, fähig, den emanzipatorischen Wandel herbeizuführen. Über diese Fremdheit können wir ebenfalls sagen, dass sie unübersetzbar ist, denn sie ist nichts anderes als ein endloser Prozess der kulturellen Übersetzung selbst. Doch die Frage ist nun, ob dieser Begriff der kulturellen Übersetzung auch positiv die soziale, politische und existenzielle Lage jener MigrantInnen bestimmt, die, zumal sie unterschiedlichen Formen eines repressiven Ausschlusses – von Abschiebungen und Schubhaft bis zur sogenannten Klandestinisierung – unterworfen sind, heute als die menschliche Verkörperung einer unübersetzbaren Fremdheit erscheinen. Oder noch radikaler: Ist es ihre Treue zur Aufgabe der kulturellen Übersetzung, die sie zu Subjekten eines emanzipatorischen Wandels macht, wie Bhabha glaubt?

Alexander Vaindorfs Videoinstallation „Detour. One Particular Sunday“ aus dem Jahr 2006 scheint diese Frage vorderhand positiv zu beantworten. Sie zeigt uns ein Bild des Lebens von Arbeitsmigrantinnen, Frauen zumeist mittleren Alters aus der ehemaligen Sowjetunion, im heutigen Rom. Vaindorf trifft diese im Parco di Resistenza, wo sie sich jeden Sonntag, ihrem einzigen arbeitsfreien Tag, versammeln, da sie die restliche Woche zumeist eingesperrt in den Häusern italienischer Familien verbringen, wo sie als Hausarbeiterinnen oder als Pflegerinnen für ältere Menschen arbeiten. Sie erzählen dem Künstler ihre persönlichen Geschichten sowie ihre Überlegungen zu Leben, Arbeit und Migration.

Es scheint also auf den ersten Blick, als zeige Vaindorfs Film genau die Herstellung dessen, was Bhabha den Raum der kulturellen Übersetzung nennt: den Raum kultureller Hybridität, welcher der Kultur, die die Migrantinnen hinter sich gelassen haben, ebenso wenig zugehört wie der Kultur, die sie nun umgibt; einen Raum, der offensichtlich nicht mehr im Sinn homogener Nationalkulturen wahrgenommen werden kann. Die Artikulation der kulturellen Differenz, die im Parco di Resistenza zwischen ihnen statthat, könnte leichtfertig als das Auftauchen eines neuen Typus transnationaler Subjektivität verstanden werden, die sich Bhabha als ein Ergebnis des Prozesses kultureller Übersetzung ausgemalt hat. Kurz gesagt scheint es so zu sein, dass genau jene migrantischen Arbeiterinnen – als „Teil der enormen ökonomischen und politischen Diaspora der modernen Welt“, die unter „Bedingungen einer kulturellen Entortung und sozialer Diskriminierung“ lebt[33] – die neue transnationale „Elite“ von kulturellen ÜbersetzerInnen verkörpern, die der Aufgabe einer Wucherung von Hybridität und demnach der Mission eines emanzipatorischen Wandels treu sind.[34]

Doch in Vaindorfs Arbeit gibt es ein Element, das diese Vermutung infrage stellt – die Referenz auf Ettora Scolas berühmten Film „Ein besonderer Tag“ aus dem Jahr 1977. Dieser erzählt die Geschichte zweier Menschen, der Hausfrau Antonietta (Sophia Loren) und des Rundfunksprechers Gabriele (Marcello Mastroianni), der seine Arbeit verloren hat und wegen seiner Homosexualität und seiner Abneigung gegen den Faschismus deportiert werden soll. Während alle auf die Straße gehen, um Hitlers Besuch bei Mussolini in Rom zu verfolgen, treffen sie sich in einem leeren Gebäude und haben schließlich eine Liebesaffäre.[35] Offensichtlich ist dies keine Geschichte über Treue. Vielmehr handelt es sich um eine Geschichte über Verrat, oder genauer gesagt, um die Geschichte eines dreifachen Verrats. Erstens gibt es den Verrat am sozialen Kontext, das heißt den Verrat an dem „historischen“ Ereignis, Hitlers Besuch in Rom, das jenen Kontext politisch prägt. Zweitens begeht Antonietta einen Verrat an ihrer Ehe und ihrer Familie, ihren kostbarsten Werten, die den ethischen Kontext ihrer Lebenswelt abgeben, zumindest bis zu dem Augenblick, in dem sie Gabriele begegnet. Und schließlich verraten beide das, was sie bisher für ihre jeweils authentische sexuelle Identität hielten – ein homosexueller Mann verliebt sich in eine heterosexuelle Frau und eine heterosexuelle Frau verliebt sich in einen homosexuellen Mann.

Wiederum könnte man sagen – Bhabha vor allen anderen –, dass sich ihre Liebe als eine Artikulation von Differenz ereignet, die einen Raum der Hybridität eröffnet, welcher der herrschenden Kultur von Heirat, Familie und Heterosexualität, als Bereich universeller Werte verstanden, ebenso wenig angehört wie seiner ausgeschlossenen kulturellen Entsprechung, der schwulen Subkultur mit ihren eigenen Werten und ethischen Normen. Überdies könnte man ihren Verrat, das heißt ihre Liebe, als jenen Akt der Subversion und Transgression begreifen, der die Politik des antifaschistischen Widerstandes ausmacht und derart einen emanzipatorischen Wandel einleitet. Diese Liebe ließe sich vielleicht sogar als eine Auswirkung der Treue gegenüber der Aufgabe der kulturellen Übersetzung verstehen, der Aufgabe, eine Erneuerung herbeizuführen, ein neues Erblühen der Kultur des Lebens, die sich der faschistischen Kultur des Todes entgegensetzt. – Doch wir sehen bereits deutlich, dass diese Liebe alles andere als eine Artikulation von Differenz ist. Vielmehr scheint sie dieser gegenüber völlig blind zu sein. Überdies ist das, was die Liebe zwischen Antonietta und Gabriele wirklich möglich macht, eine vollständige Missachtung all der Differenzen, die sie sozial, moralisch und politisch voneinander trennen, sogar einschließlich der Differenz ihrer sexuellen Orientierung. Heterosexuell oder homosexuell? Wahre Liebe kümmert das nicht. Sie ist, um an Alain Badious berühmtes Diktum über die Wahrheit zu erinnern, „indifferent in Bezug auf die Verschiedenheiten“[36].

Die Liebe, deren Geschichte Scolas Film erzählt, artikuliert keine dritte (kulturelle) Eigenschaft zwischen Heterosexualität und Homosexualität, keine qualitativ neue Vermischung beider. Wenn sie wirklich etwas Neues artikuliert, dann ist diese Neuheit das Ergebnis ihres Bruchs mit der Logik der Differenzen, welche die existierende – genauer: die faschistische – Ordnung errichtet hat. Daher rührt das Neue, nämlich aus dem Bruch mit dem gegebenen Kontext, egal wie wir ihn definieren. Als solches gehört es diesem Kontext nicht länger an und kann durch dessen Normativität nicht beurteilt werden. Das Neue ist diesem Kontext grundlegend fremd, fremd im Sinne einer unübersetzbaren Fremdheit. Ebenso entwischt die Liebe zwischen Antonietta und Gabriele der Logik von Ein- und Ausschluss. Sie bildet nicht wirklich ein ausgeschlossenes Außen der existierenden faschistischen Ordnung und kann nicht im Sinn ihrer noch nicht eingeschlossenen Fremdheit verstanden werden. Vielmehr ist sie ein Akt eines radikalen, unumkehrbaren Selbstausschlusses. Darum wäre es auch unsinnig zu sagen, dass Antonietta und Gabriele dadurch, dass sie sich ineinander verlieben, tatsächlich das existierende (faschistische) Konzept von Universalität infrage stellen und auf seine Neuartikulation drängen, um letztlich wieder anerkannt und aufgenommen werden zu können. Sie sind nicht daran interessiert, den Faschismus inklusiver zu machen. Denn sie geben sich der Liebe und keinem Universalitätsanspruch hin, sie bereuen dies weder, noch heischen sie um Verständnis. Sie sind nicht Opfer eines Ausschlusses, sondern TäterInnen einer verbotenen Liebe, die sie selbst verschulden; dafür gibt es keine Vergebung, „denn sie wissen, was sie tun“. „Ein besonderer Tag“ ist keine Geschichte mit glücklichem Ende.

Die Liebe zwischen Antonietta und Gabriele trägt sich als ein ihrem Kontext völlig äußerliches Ereignis zu. Sie ist ein Schritt vom Grund in den Abgrund, der aus nichts anderem als einer grundlosen Entscheidung besteht. In anderen Worten, sie findet zwar in einem Kontext statt, aber sie entsteht nicht „aus diesem Kontext“. Dies bedeutet wiederum nicht, dass sie einfach kontextlos wäre. Das Ereignis dieser Liebe wird gerade durch ein anderes Ereignis möglich: Hitlers Besuch in Rom, der diesen Kontext hegemonisiert und so paradoxerweise die Bühne für ihre Liebe freigibt. Keine Hegemonie kann den Kontext vollständig totalisieren. Es bleibt immer ein Rest, der von ihrer ansonsten dermaßen überwältigenden Macht nicht absorbiert werden kann. Da ist Gabriele, der die FaschistInnen offen hasst; da ist Antonietta, der es wichtiger ist, ihre Wäsche zu waschen als Hitler zuzujubeln, was sie übrigens bedauert. Aber erst als sie sich verlieben, wird die Hegemonie zerbrochen und abgelehnt. Ihre Liebe findet demnach nicht einfach in Abwesenheit des hegemonialen Ereignisses statt. Vielmehr artikuliert sie seine Abwesenheit in einem positiven Sinn, als ein Ereignis für sich, kurz, als ein Gegenereignis. Aber nochmals, ihr Anschwimmen gegen den Strom der Welt hat die Form eines Verrats. Dies bedeutet, dass ihre Liebe kein Akt der Reinheit und Unschuld ist. In der Tat verrät die Frau Hitler, doch sie verrät auch ihren Ehemann und ihre Kinder. Als Schwuler verrät der Mann die konservative Moral der Gesellschaft, aber dann übt er Verrat an eben dieser sexuellen Differenz, aufgrund deren er gesellschaftlich ausgeschlossen wurde. In anderen Worten, anstatt auf dem Recht auf Differenz zu beharren – und was ist ein Recht auf Differenz, wenn nicht eine juristische Phrase für die eigene Treue zu diese Differenz, eine Treue, die Identitäten hervorbringt –, verrät er dieses Recht gerade im Namen der herrschenden sexuellen Norm, der heterosexuellen Liebe, die ihn bisher ausgeschlossen hatte. Für beide ist es damit auch zu spät für die Unschuld. Darum sprechen wir von Verrat, denn ihre Begegnung ist zugleich eine Begegnung mit etwas Stärkerem als der Treue. Ist es eine „wahre Liebe“ oder die Wahrheit der Liebe (wie Badiou es nennen würde), oder aber eine Begegnung mit dem Realen (Lacan)? Lassen wir diese Frage zunächst unbeantwortet. Das Entscheidende besteht darin, das Ereignis nicht mit einer Art von mythischem Exodus zu verwechseln. Wir können der schlechten Realität niemals einfach nur den Rücken kehren und sie in einem Akt der Urunschuld verlassen. Es gibt keine göttliche oder ontologische Reinheit in dem, was wir Ereignis nennen. Denn das Ereignis ist allzu menschlich, um unschuldig zu sein, das heißt, es macht uns immer schuldig, schuldig eines wie immer gearteten Verrats.

Kommen wir nun auf Vaindorfs Migrantinnen aus dem Parco di Resistenza zurück. In ähnlicher Weise wie Ettore Scolas Liebespaar können wir uns auch diese als eine Art Verräterinnen vorstellen. Diese Frauen, wie gesagt zumeist mittleren Alters, haben auch ihre Familien und Kinder verraten, die sie alleine ließen, weshalb sie offen ein schmerzvolles Schuldgefühl äußern. Aber sie übten auch Verrat an einem historischen Ereignis, an der sogenannten demokratischen Revolution von 1989, indem sie keine wie auch immer geartete Treue zu ihrem Auftrag zeigten, dem Aufbau einer demokratischen und florierenden Gesellschaft. Die neue Nomadenhorde aus dem Osten desertierte nicht einfach aus den zusammenbrechenden Gesellschaften des bürokratischen Sozialismus, wie etwa Michael Hardt und Antonio Negri in Empire argumentieren, wenn sie sagen, dass „der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks“ sogar das stärkste Beispiel für „die Macht von Desertion und Exodus“ sind.[37] Die postsowjetischen Migrantinnen in Rom, deren Geschichte Vaindorfs Videoarbeit erzählt, verließen nicht bloß eine bereits zusammenbrechende alte Welt, sondern übten Verrat am Versprechen einer neuen und besseren Welt, das für die demokratische Revolution von 1989 grundlegend war. Überdies enthüllt gerade ihr Verrat ein verstecktes restauratives Merkmal dieses angeblich revolutionären Ereignisses. In Vaindorfs Video erfahren wir, dass die meisten dieser Frauen zu Sowjetzeiten eine reguläre Arbeit hatten, die sie danach verloren. Die sozialistische industrielle Modernisierung machte sie demnach zu arbeitenden Frauen. Doch die neoliberale Privatisierung und ihr ideologisches Supplement, die neokonservative Wende – beides wesentliche Elemente der demokratischen Revolution von 1989 –, machte sie wieder zu Hausfrauen. Ihre Migration ist auch eine Flucht aus diesem Schicksal. Anstatt sich wieder in die traditionelle Rolle der Frau in der Familie einzufügen, gingen sie lieber ins Ausland und fanden in Italien einen „historischen Kompromiss“, das heißt, sie wurden zumeist zu arbeitenden Hausfrauen in der Grauzone illegalisierter Arbeit. Demnach ist ihre Migration nicht, wie Hardt und Negri uns glauben machen wollen, ein wesentliches Moment des revolutionären Bruchs mit der Vergangenheit, sondern vielmehr ein verzweifelter Versuch, in typisch neoliberal hybrider Weise eine Kontinuität mit der Vergangenheit herzustellen. In ihrer migrantischen Lage geht es demnach um eine Artikulation desselben und nicht der Differenz; und dies macht sie zu Verräterinnen an 1989.

Letztendlich verraten sie auch die Liebe. Ohne zu zögern beteuern sie ihre Bereitschaft, irgendeinen italienischen Mann zu heiraten, sofern ihnen die Heirat die italienische StaatsbürgerInnenschaft sichern würde. Liebe bedeutet für sie nichts weiter als ein Fluchtmittel aus der Illegalität. Doch ist es das Rechtssystem selbst, das die Liebe und den Rechtsstatus, konkret die StaatsbürgerInnenschaft, miteinander koppelte. Andererseits kann diesen Frauen gleichwohl eine wahre Liebe zuteil werden, aber nur als ein Ereignis, das mit dem gegebenen soziojuridischen Kontext bricht, ein Ereignis, das, wie die Liebesgeschichte in Scolas Film, schwerlich ein glückliches Ende haben kann. Jedenfalls ist irgendeine Art von Verrat für sie der einzige Weg, der Liebe zu begegnen; oder in anderen Worten: Liebe ist für sie jene unübersetzbare Fremdheit, auf die sie nur im Verrat treffen können.

 
VII.

Jede Übersetzung ist eine Begegnung mit dem Unübersetzbaren. Aus der Perspektive der ÜbersetzerInnen wird dies als das Erreichen der immanenten Grenzen der Übersetzung erfahren, das heißt als das Erreichen jenes Punkts, an dem ihr Licht aufhört, die Dunkelheit des Fremden zu erhellen. Aus der entgegengesetzten Perspektive beginnt an eben diesem Punkt der Bereich der Unübersetzbarkeit. Sei er göttlich oder transzendental, inner- oder außersprachlich – dieser Bereich ohne stabile Grenzen kündigt seine Anwesenheit in jedem einzelnen Akt von Übersetzung mit der Drohung an, diese zu verunmöglichen. Aus diesem Grund führte Wilhelm von Humboldt den Begriff der Treue ein, eine Tugend, deren Aufgabe in der fortwährenden Bestimmung und dem ständigen Schutz der Grenze zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit besteht, oder in seiner eigenen Begrifflichkeit: zwischen dem Fremden*, das übersetzt werden kann und muss, und der Fremdheit*, die zurückgewiesen werden muss. Dennoch brachte er diese Treue in Verbindung zu dem, was wir den Kontext der Übersetzung nennen, konkret, zur Nation der ÜbersetzerInnen, also zur Aufgabe, die in deren Kultivierung besteht. Der Kontext einer Übersetzung ist eigentlich ein besonderes Regime der Treue. Dies bedeutet nicht nur, dass jede Übersetzung immer schon treu gegenüber einigen Werten ihres Kontexts ist. Es bedeutet auch, dass die Treue selbst, die in einer Übersetzung subjektiv als Treue zum Quelltext erfahren wird, immer schon eine Verpflichtung gegenüber etwas in der Übersetzung artikuliert, das mehr ist als die Übersetzung selbst und derart ihren Kontext performativ mitproduziert. In anderen Worten, der Kontext der Übersetzung ist niemals im Vorhinein als eine vor der Übersetzung bestehende Entität gegeben. Vielmehr ist jede Übersetzung potenziell eine Selbstkontextualisierung, fähig, ihren eigenen Kontext zu erzeugen oder, was dasselbe ist, das zu verraten, was ihr bisher hegemonial als ihr „natürlicher“ Kontext auferlegt wurde, der national, sozial, kulturell oder wie auch immer gelagert sein kann. Dies sollten wir als Freiheit der Übersetzung verstehen – die Freiheit zur Selbstkontextualisierung. Jede Übersetzung ist frei, sich selbst zu entkontexualisieren oder sich auf entgegengesetzte Weise zu kontexualisieren; kurz, sie ist frei, den vorhandenen Kontext und seine normativen Werte zu verraten.

Wenn wir, wie oben dargelegt, sowohl dem Original wie auch seiner Übersetzung gestatten, eine Veränderung in der Zeit durchzumachen, alt zu werden und möglicherweise zu zugrunde zu gehen, müssen wir dies auch dem Kontext der Übersetzung zugestehen. Dies bringt eine weitere Konsequenz mit sich: Was vorher die Tugend der Treue gegenüber einem ausgezeichneten Wert des vorhandenen Kontexts war, die die Übersetzung möglich machte, könnte einen Wandel in der Zeit erfahren und sich ins Gegenteil verkehren, nämlich in die Untugend von Abhängigkeit, blindem Gehorsam, Hörigkeit oder Knechtschaft, welche die Übersetzung nunmehr verunmöglicht. Oder Übersetzung wäre gleichwohl möglich, nun jedoch durch die Tugend des Verrats. Dies gilt auch für die Aufgabe der Übersetzung: Um sie zu erfüllen, müssen ÜbersetzerInnen das Wagnis des Verrats eingehen.

Für Walter Benjamin ist die Übersetzung, um es nochmals zu betonen, ein Moment im Reifungsprozess geschriebener Worte. Doch Benjamin wollte nicht, dass wir diesen Prozess als objektiv stattfindenden verstehen, unabhängig davon, wie diese geschriebenen Worte übersetzt werden. Um zu einem Moment in ihrem Reifungsprozess zu werden, muss die Übersetzung aktiv daran teilhaben, und um diese Anforderung zu erfüllen, muss sie selbst ein Akt der Reife werden. Aber was bedeutet es für die Übersetzung, reif zu sein? Es handelt sich sicherlich nicht um eine Eigenschaft in einem leeren Ablauf der Zeit. Nicht die Reife macht eine Person unabhängig und verantwortlich; vielmehr ist es genau umgekehrt: Man wird reif, wenn man mit den Abhängigkeitsverhältnissen bricht und die Verantwortung für das eigene Schicksal übernimmt. Es ist wohlbekannt, dass Kant die Mündigkeit* zu einer conditio sine qua non der Aufklärung erklärte, die er als Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit und Abhängigkeit bestimmte. Man ist selbst verantwortlich für diese Unmündigkeit, wenn ihre Ursache nicht in einem Mangel an Intelligenz liegt, sondern in einem Mangel an Entschlossenheit und Mut, sich des eigenen Verstandes frei und unabhängig, das heißt ohne die Anleitung anderer, zu bedienen. Kant fasste diese Idee im berühmten Wahlspruch der Aufklärung zusammen: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Wage es, unabhängig zu denken!

Wir müssen uns die Mündigkeit der Übersetzung (die Nachreife* in Benjamins deutscher Formulierung) in ähnlicher Weise vorstellen. Sie hat nichts mit dem Erreichen eines bestimmten Zeitpunkts, etwa dem Erreichen des Erwachsenenalters, zu tun. Vielmehr setzt sie die Unabhängigkeit der Übersetzung von einem gegebenen Kontext voraus, das heißt ihre Befreiung von einem selbst auferlegten Regime der Treue, kurz: ihren Verrat. Die Autonomie ist demnach das, was in einem streng Kant’schen Sinn wesentlich zur Aufgabe der Übersetzung gehört. Doch zu ihrer Bewältigung sind Entschlossenheit und Mut vonnöten. Der Wahlspruch der Übersetzung würde daher lauten: Prodere aude![38] Wage den Verrat! Dies ist für die Übersetzung der einzige Weg, um ein Moment in der Nachreife* geschriebener Worte, nämlich selbst ein Akt der Mündigkeit* zu werden. Dies würde auch der berühmten Metapher Benjamins von der Freiheit der Übersetzung eine weitere Bedeutung verleihen, dem Vergleich mit einer Tangente, die den Kreis, das heißt das Original, „flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkt des Sinnes berührt […], um […] ihre eigenste Bahn zu verfolgen“[39]. Die Freiheit der Übersetzung geht einher mit der Autonomie gegenüber ihrem Kontext, wie auch immer er gegenwärtig – hegemonial – bestimmt wird. – Selbstverständlich umfasst dies auch die volle Verantwortung, die das Risiko, sich selbst schuldig zu machen, mit sich bringt. Wenn die Übersetzung tatsächlich frei sein will, muss sie mit der Illusion der Unschuld brechen, die der Elite der sogenannten kulturellen ÜbersetzerInnen heute so teuer ist, da sie sich selbst im kulturellen Raum eines neutralen Dazwischen wähnt, vollständig losgelöst von der alten Welt essenzialistischer Binarismen und ausschließender „Entweder-oder“, die, wie heute zumeist geglaubt wird, zwingend Konflikte, Gewalt, Terror etc. verursachen.

Übersetzung kann, wie die Liebe, den Binarismen nur in einem narzisstischen Wahn entwischen. Genauso wenig kann sie dem Konflikt leichthin entkommen, denn sie ist nichts anderes als ein besonderer Konflikt, genau wie die Liebesgeschichte in Scolas Film „Ein besonderer Tag“. Der Konflikt in dieser Geschichte bricht nicht aufgrund der Differenz zwischen einer wahren Liebe und ihrem ihr feindlich gesinnten, soziopolitischen Kontext aus. Es ist vielmehr die wahre Liebe, die im Konflikt der Liebenden mit den sie trennenden politischen, moralischen oder sexuellen Differenzen ausbricht; einem Konflikt, in dem sie obsiegen, gerade weil sie diesen Differenzen gegenüber indifferent sind. Das ist es, was diese Liebe zu einem Ereignis für sich und diesen Tag zu einem besonderen Tag macht – eine Begegnung mit etwas Stärkerem als der Treue zu besonderen Differenzen, kurz, ein Verrat am aktuellen Regime der Treue.

Wie die Liebe ereignet sich auch die Übersetzung nicht im Konflikt der Differenzen, sondern vielmehr im Konflikt mit Differenzen, seien diese linguistisch oder kulturell, moralisch oder politisch. Sie hat ihr Ziel erreicht, wenn sie diese bedeutungslos werden ließ oder wenn sie, wie in der Liebe, diesen gegenüber indifferent wurde, um dann „ihre eigenste Bahn zu verfolgen“. Doch die Übersetzung kann dies nicht bewerkstelligen, ohne auf das Unübersetzbare zu stoßen. Die Beziehung zwischen dem Übersetzbaren und dem Unübersetzbaren ist die irreduzibel binäre Beziehung, der keine Übersetzung entwischen kann. Sie hat die Form einer Begegnung und ist vollständig kontingent, weil der Schauplatz dieser Begegnung – die Grenze zwischen dem Übersetzbaren und dem Unübersetzbaren – ebenso kontingent ist. Dies ist der Moment von Freiheit und Risiko. Erstens steht es jeder Übersetzung frei, diese Begegnung zu einem Ereignis zu machen, eine „besondere Übersetzung“ zu werden, eine Übersetzung, die, um „ihre eigenste Bahn zu verfolgen“, etwas Neues schafft, das nicht auf eine bereits bestehende Objektivität des Originaltexts oder des Kontexts zurückführbar ist. In ihrem letzten Wesen, schrieb Benjamin, wäre „keine Übersetzung möglich […], wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original […] anstreben würde“[40]. Sie wäre auch nicht möglich, wenn sie danach trachtete, sich dem Kontext anzupassen. Aus diesem Grund durchdringt das Risiko die Freiheit der Übersetzung. Denn ihre Begegnung mit dem Fremden kann die Übersetzung selbst fremd werden lassen, nicht nur gegenüber dem Quelltext, sondern auch gegenüber ihrer eigenen Sprache und ihrem eigenen politischen, kulturellen, moralischen etc. Kontext. Daher kann sie eine Übersetzung auch antagonisieren. Denn die Tatsache, dass die Grenzen des Unübersetzbaren, an denen diese Begegnung statthat, alles andere als stabil sind, bedeutet nicht, dass sie einfach verhandelbar sind. Eine Begegnung ist weder eine reibungslose Verhandlung, noch eine Übersetzung. Wir sollten sie niemals mit einer konfliktfreien kulturellen Praxis verwechseln, deren Umgang mit Differenzen auf Respekt und Toleranz beruht. Eine wahre Übersetzung respektiert Differenzen genauso wenig wie eine wahre Liebe, sie ignoriert sie und lässt sich eher auf Konflikte ein, anstatt sie zu vermeiden. Denn es ist auf ihre agonistische Potenzialität zurückzuführen, dass die Übersetzung etwas Neues hervorbringen kann. Dies gilt insbesondere für ihre Begegnung mit dem Unübersetzbaren.

Paradoxerweise nähert sich die Übersetzung dem Unübersetzbaren immer von seiner scheinbar übersetzbaren Seite. Denn der Bereich der Unübersetzbarkeit ist nicht in sich selbst konsistent, sondern tatsächlich in zwei Teile zerbrochen, von denen einer gänzlich mehrdeutig ist. Dieser Letztere ist ihr Grenzraum, in dem die Trennlinie zwischen dem Übersetzbaren und dem Unübersetzbaren im Zuge jeder Übersetzung neu gezogen werden muss – entsprechend einem normativen Anspruch, der von dem erhoben wird, was in einer Übersetzung mehr als Übersetzung ist, kurz, entsprechend der Treue gegenüber irgendeinem Wert ihres Kontexts. Es ist in der Tat falsch, diesen Bereich als Raum zu denken, da es sich vielmehr um eine Stätte – und demgemäß um eine Auswirkung – einer willkürlichen Entscheidung handelt. Dies ist die Stätte, wo etwa Humboldt folgende ÜbersetzerInnen die Unterscheidung zwischen einem übersetzbaren „Fremden“ und einer unübersetzbaren „Fremdheit“ treffen. Doch was heute als neue linguistische oder kulturelle Eigenschaft betrachtet wird, welche die Nation bereichern könnte und daher durch die Übersetzung „eingeführt“ werden sollte, kann morgen in sein Gegenteil verkehrt werden, in eine Eigenschaft, die deren eigentliches Wesen zerstört und deshalb unübersetzbar bleiben sollte; bzw. kann das, was eine/ein ÜbersetzerIn als konstruktives Fremdes wähnt, von einer/einem anderen zur destruktiven Fremdheit erklärt werden. Wo es jedoch Mehrdeutigkeit und Willkür gibt, muss es auch Hegemonie und politische Macht geben, um letztendlich zu entscheiden, was übersetzbar ist und was nicht.

Darum können wir sagen, dass die Übersetzung niemals auf das Unübersetzbare als solches stößt – denn sie stößt immer nur auf das Unübersetzbare, das unübersetzbar gemacht wurde. „Gemacht“ bedeutet hier: kontextuell verworfen, das heißt, verworfen unter einem besonderen Regime der Treue. Was demnach aus der Perspektive der Übersetzung als unübersetzbar erscheint, ist tatsächlich ihr verworfener Kontext. Das Unübersetzbare besteht nicht aus den Wörtern einer Fremdsprache, die immer noch erlernt und übersetzt werden können; es ist weder ein ausgeschlossener Wert, der auf eine neuerliche Anerkennung wartet, noch eine unterdrückte Wahrheit, die wir durch Anwendung einer speziellen Technik enthüllen und zu Bewusstsein bringen können – aber trotzdem ist eine Begegnung mit ihm möglich. Dem, was die Treue verworfen hat, kann man nur im Verrat begegnen. Was unübersetzbar gemacht wurde, kann nur die Übersetzung als ein Ereignis des Verrats und der Emanzipation (wieder) erschaffen. So verhilft Übersetzung der „Neuheit“ in die Welt.

Aber nochmals, um eine Schöpfung zu werden, muss die Übersetzung das Wagnis des Verrats eingehen und die Schuld riskieren. In unserem Beispiel der Übersetzung eines Pamphlets von 1968 würde dies konkret die Begegnung mit der eigentlichen Performativität der Idee der „großen Verweigerung“ bedeuten, die wesentlich ist für die tiefste Bedeutung sowohl dieses Begriffs wie auch des Ereignisses – der Revolte von 1968. Die Frage ist nur, ob wir das Wort „Verweigerung“ heute ohne irgendeine Verweigerung übersetzen können, das heißt ohne von seiner performativen Bedeutung herausgefordert zu werden, die uns dazu zwingt, dem gegebenen Kontext zuwider zu handeln, ihn zu zerbrechen, zu verraten, uns des Verstoßes gegen einige seiner teuersten Werte schuldig zu machen; denn keine Verweigerung ist unschuldig. Genau dies hatte Herbert Marcuse im Sinn, als er am Ende seines Buchs Der eindimensionale Mensch die Worte von Maurice Blanchot zitierte/übersetzte: „Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf es der Weigerung.“[41] Dies gilt auch für die Übersetzung. Wenn sie zum Ereignis werden und Neues bringen soll, dann muss auch sie eine Verweigerung sein.

Gewiss gibt es in der heutigen Welt viel Abzulehnendes, vielleicht zu viel für eine derart „unschuldige“ Praxis wie die Übersetzung. Aber wir wissen, dass diese Unschuld eine Selbsttäuschung ist. Warum sollten wir sie dann nicht verraten?



[1] Roman Jakobson, „Linguistische Aspekte der Übersetzung“ (1959), übers. v. Gabriele Stein, in: Ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, hg. v. Elmar Holenstein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 481–491, hier: S. 490.

[2] Vgl. Rada Iveković, „Geboren in Babel“ (Gespräch mit Boris Buden), übers. v. Birgit Mennel und Tom Waibel, http://eipcp.net/transversal (im Erscheinen): „Nun ist es aber so, dass der Kontext, sogar mehr noch als ein Text oder eine Übersetzung, eine durch so viele persönliche, kulturelle, historische Dinge unterrichtete Vermutung darstellt. Ein Satz oder ein Wort kann sich auf unzählige Kontexte, Bedeutungen oder ‚Satz-Regelsysteme‘, wie Jean-François Lyotard sagen würde, beziehen. Das Regelsystem selbst ist undefinierbar und unendlich, obgleich ein Regelsystem unvermeidbar ist. Es kommt immer zu einer Verkettung, allerdings können wir nicht im Vorhinein sagen, welcher Art diese Verkettung ist.“

[3] Vgl. Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 9–21.

[4] Ebd., S. 13.

[5] Dies entspricht einer weiteren Übersetzung von Benjamins Begriff des Fortlebens; vgl. Walter Benjamin, „The Task of the Translator“, in: Selected Writings, Bd. 1, hg. v. M. Bullock u. M. W. Jennings, Cambridge (Mass.) u. London: Belknap Press of Harvard University Press 1996, S. 254.

[6] W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 13.

[7] Auch wenn Benjamins Idee vom Leben und Nachleben der Kunstwerke, das die Beziehung zwischen Original und Übersetzung bestimmt, nur vom Standpunkt der Geschichte (als contra naturam begriffen) Sinn ergibt, wird für ihn Übersetzung letztlich durch eine „überhistorische“ Kategorie möglich – die Verwandtschaft der Sprachen, kurz das, was Benjamin die „reine Sprache“ nennt (vgl. ebd., S. 14).

[8] Ebd., S. 13.

[9] Ebd., S. 12.

[10] In der Kulturtheorie wird bereits mit dem Konzept der Kultur als einer Übersetzung der Gesellschaft gearbeitet. So schreibt etwa Lutz Musner über „Kultur als ‚Textur der Gesellschaft‘“. Er will einen durch die politische Ökonomie informierten Kulturbegriff stark machen, der „Kultur“ selbst als einen Transfervorgang beschreibt, und zwar als einen Prozess, der das Soziale ins Symbolische „übersetzt“ und ihm dieserart eine Textur aufprägt, d. h. dem Gewebe des Sozialen eine lebensweltliche Bedeutung gibt. Vgl. Lutz Musner, Kultur als Textur des Sozialen. Essays zum Stand der Kulturwissenschaften, Wien: Löcker 2004, S. 82.

[11] „Das Wesentliche solcher Wandlungen wie auch der ebenso ständigen des Sinnes in der Subjektivität der Nachgeborenen statt im eigensten Leben der Sprache und ihrer Werke zu suchen, hieße – zugestanden selbst der krudeste Psychologismus – Grund und Wesen einer Sache zu verwechseln, strenger gesagt aber, einen der gewaltigsten und fruchtbarsten historischen Prozesse aus Unkraft des Denkens leugnen.“ (W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 12).

[12] Ebd.

[13] Ebd., S. 11.

[14] Vgl. Walter Benjamin, Illuminations, übers. v. Harry Zohn, London: Fontana 1973, S. 72. Der Wortlaut der Übersetzung ist: „its ever-renewed latest and most abundant flowering“.

[15] W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 11.

[16] „Beschämt sein“ sollte nicht mit „schuldig sein“ verwechselt werden. Man mag darüber beschämt sein, ein Mao-Poster im Studierendenzimmer zu haben, doch zu sagen, dass man über ein begangenes Verbrechen beschämt sein sollte, ist Unsinn.

[17] Friedrich Schleiermacher, „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“, in: Hans Joachim Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, Darmstadt: Henry Goverts Verlag 1963, S. 38–70.

[18] Vgl. die „Foundational Statements“ in: Lawrence Venuti (Hg.), The Translation Studies Reader, London u. New York: Routledge 2000, S. 19: „Ebenso wie Humboldt stellt er [Schleiermacher] sich die verfremdende Übersetzung als eine nationalistische Praxis vor, die in der Lage ist, eine deutsche Sprache und Literatur zu erbauen und die kulturelle und politische Herrschaft zu überwinden, die Frankreich über die deutschsprachigen Länder ausübt.“

[19] Schleiermachers bereits erwähnte Vorlesung „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens“ wurde vor der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin im Juni 1813 im historisch-politischen Kontext der Napoleonischen Invasion gehalten, gegen die Schleiermacher auftrat. Seine Methode des Übersetzens verfolgt in diesem Kontext demnach eine politische Absicht – sie war zur Sicherung der Vorherrschaft der deutschen Kultur über die französische Kultur entworfen worden. In diesem Sinne war sie – ebenso wie der deutsche Begriff der Kultur, der eine geistige Einheit von Sprache, Literatur und Kunst bedeutet – ein Ersatz für den unerfüllten Traum von einem souveränen Nationalstaat. Vgl. Anthony Pym, „Schleiermacher and the Problem of Blendlinge“, in: Translation and Literature, 4/1, 1995, S. 5–30 (siehe auch: www.tinet.org/~apym/on-line/intercultures/blendlinge.pdf).

[20] Die wohlerzogene Mittelklasse, oder einfach die Intelligentsia.

[21] Im Sinne des deutschen Verbs emporheben*, emporentwickeln*, durch die Mittel der Kultur eine höhere Position erlangen.

[22] Die Büchersprache* ist eine künstlich aus vielen lokalen Dialekten hergestellte standardisierte Nationalsprache.

[23] Der gemeine Haufe (hoi polloi) lässt sich auch als „Multitude“ übersetzen (Haufe = viele, im Sinn des Griechischen polys, polloi [Pl.]).

[24] Moses Mendelssohn, zit. nach: Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. u. Leipzig: Insel 1994, S. 31.

[25] Im Sinne dessen, was Freud unter Kulturarbeit verstand – vergleichbar mit der „Trockenlegung der Zuydersee“.

[26] Hans-Jost Frey, „Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt“, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 37–64, hier: S. 59.

[27] Vgl. Judith Butler, „Universality in Culture“, in: Martha C. Nussbaum and respondents, For the Love of Country: Debating the Limits of Patriotism, hg. v. Joshua Cohen, Boston: Beacon Press 1996, S. 45–53; und Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, London u. New York: Verso 2000.

[28] In: J. Butler/E. Laclau/S. Žižek, Contingency, Hegemony, Universality, S. 13.

[29] Zur Erinnerung: Zur Zeit der deutschen Romantik nannte Friedrich Schlegel die Deutschen „die Griechen der Neuzeit“.

[30] Es ist kein Zufall, dass „Kultur“ und „Kolonialismus“ dieselbe etymologische Wurzel im lateinischen Wort colere haben, „das von Kultivieren und Bewohnen bis zu Verehren und Beschützen alles bedeuten kann. Seine Bedeutung ‚bewohnen‘ entwickelte sich vom Lateinischen colonos zum gegenwärtigen ‚Kolonialismus‘“ (Terry Eagleton, The Idea of Culture, Oxford (UK) u. Malden (Ma): Blackwell 2000, S. 2).

[31] Vgl. J. Butler/E. Laclau/S. Žižek, Contingency, Hegemony, Universality, S. 4.

[32] Rastko Močnik, „Übersetzung im Feld ideologischer Kämpfe“, übers. v. Hito Steyerl, http://eipcp.net/transversal/0606/mocnik/de.

[33] Homi Bhabha, The Location of Culture, London u. New York: Routledge 1994, S. 8.

[34] Auf diese Weise vollbringt die Kulturtheorie Wunder – sie kann selbst die niedrigste soziale Schicht zur (kulturellen) Elite machen.

[35] Der Parco di Resistenza, wo sich die Migrantinnen aus der ehemaligen Sowjetunion treffen, liegt tatsächlich in der Nähe des Bahnhofs Ostience, den Mussolini speziell für Hitlers Ankunft errichten ließ.

[36] Vgl. Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, übers. v. Jürgen Brankel, Wien: Turia + Kant 2003, S. 43.

[37] Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn, Frankfurt a.M. u. New York: Campus 2002, S. 226.

[38] Wörtlich im Sinne von fidem prodere – „mit der Treue brechen“.

[39] W. Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers“, S. 20.

[40] Ebd., S. 12.

[41] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. v. Alfred Schmidt, München: dtv 42004, S. 266.

* Die mit Asterix gekennzeichneten Begriffe sind im Original deutsch (Anm. d. Übers.).

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