Bourdieu und die Bilder
Jens Kastner

Weder in der Sozial- noch in den Bildwissenschaften sind die visuellen Aspekte und die Aspekte des Visuellen in der Theorie Pierre Bourdieus bislang ausreichend gewürdigt worden. Das zu ändern, hat sich ein mehrteiliges Symposium in Leipzig/Berlin und Lüneburg zum Ziel gesetzt. Den ersten Part einleitend, konstatierte und beklagte Beatrice von Bismarck das „Schweigen der Kunstgeschichte“ zur Bourdieuschen Theorie. Sie stellte fest, dass es vor allem KünstlerInnen selbst seien, die, wie Bourdieu, die Kunstpraxis als relationale und von Positionen und Dispositionen bestimmte kulturelle Produktion herausstellen würden. Dies konnte an den eingeladenen KünstlerInnen, Hans Haacke in Leipzig und Andrea Fraser und John Miller in Berlin, gleich verifiziert werden. Mit Blick auf die Soziologie hob Ulf Wuggenig besonders die „visuelle Komponente“ in Bourdieus Schaffen hervor: Anders als im Gros seines Faches spielten Bilder in der Sozialforschung Bourdieus schon zu Beginn seiner akademischen Karriere eine besondere Rolle. Nicht erst in „Die feinen Unterschiede“ (dt. 1982) wurden Fotos zur Analyse kultureller Herrschaft eingesetzt. Auch die Fotos, die Bourdieu als junger Ethnologe in Algerien (1958-1961) selbst gemacht hatte, dienten ihm zum Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse.

Die Algerien-Bilder! Ein Glücksfall für die Symposiums-Frage nach der „visuellen Anthropologie“ Bourdieus, dass er ein ganzes Archiv mit selbst gemachten fotografischen Aufnahmen hinterlassen hat. Denn die Fotos algerischer Menschen, Dörfer und Straßenszenen bieten eine ganze Reihe wissenschaftlicher Ansatzpunkte. Das nach wie vor ungeklärte Verhältnis zwischen Bildrezeption und Gesellschaftsanalyse ist nur einer davon. Einen anderen fand Christian Kravagna. Er sah in den Algerien-Bildern das bemerkenswerte Interesse an der „Repräsentation von Gleichzeitigkeit“. Die Koppelung von „Eigenem“ und „Fremden“ in ein und demselben Bild sei nicht als übliche Skurrilität scheinbar unvereinbarer Gegensätze (Tradition/Moderne, Kolonisierte/Kolonisierende, Stadt/Land, etc.) inszeniert. Konnte Kravagna hier auch „partielle Widerständigkeit“ sehen, machte Catherine David in den Fotos aus Algerien gar eine „messianische Komponente“ (im Benjaminschen Sinne) und eine „powerful poetic political fiction“ aus. Für Christine Frisinghelli waren die Algerien-Fotos in erster Linie Zeugnisse dessen, wie Menschen sich angesichts von Enteignungen und Umsiedlungen in einer „Ökonomie des Elends“ einrichten.

Wie das Fotografieren an dem beteiligt ist, wie Menschen sich in für sie misslichen sozialen Verhältnissen einrichten, ist u. a. das Thema der Studie, die Bourdieu gemeinsam mit verschiedenen MitarbeiterInnen zur gesellschaftlichen Bedeutung der Fotografie unternommen hatte. „Eine illegitime Kunst“ (1965, dt. 1981), so deren Titel, wies laut Christoph Behnke sowohl den Mythos von der objektiven Darstellung, als auch den von der Neutralität des/der Fotografierenden zurück. Bourdieu zeigte hier die Abhängigkeit der Fotografie von sozialen Bedingungen auf. Damit bekräftigte er implizit auch seine Ablehnung der Rede von der „Massenkultur“ und ihrer angeblich homogenisierenden Wirkung. Darüber hinaus stellte Bourdieu in dieser Studie die Legitimation erstmals als zentralen Mechanismus des künstlerischen Feldes heraus. Behnke plädierte zwar dafür, über Bourdieu hinauszugehen und zwei sich seit den 1960er Jahren herausbildende photographische Subfelder bei der Analyse des kulturellen Feldes zu berücksichtigen, stellte aber die Bedeutung der Legitimierung nicht in Frage. Anders Isabell Graw. Sie untersuchte den wachsenden Einfluss des Marktes im Kunstfeld. Dieser habe dazu geführt, dass die von Bourdieu noch ausgemachten antagonistischen Strukturen des Feldes – also auch die Legitimierung und Delegitimierung als zentrale Einsätze im Kampf um Positionen – von einem „Imperativ zur Kooperation“ abgelöst worden seien. Ihr „Learning from Bourdieu“ betitelter Vortrag warf damit eine zentrale Frage an die Theorie Bourdieus auf einer Meta-Ebene auf: Wenn, wie Bourdieu immer betont hat, Struktur und Praxis der sozialen Welt immer in Beziehung zueinander stehen und nicht unvermittelt denkbar sind, welche (qualitative und quantitative) Form von Praxis muss dann dazu führen, auch die Strukturen neu zu analysieren? Muss, bezogen auf das Kunstfeld, der stärkere Einfluss des Marktes die Kunstsoziologie dahin bringen, die relative Autonomie des Feldes anzuzweifeln und, wie Graw vorschlug, von der „relativen Heteronomie“ zu sprechen? Bourdieu selbst hätte vermutlich widersprochen, denn „die Grenze eines Feldes“, schrieb er in „Reflexive Anthropologie“ (dt. 1996), „ist die Grenze seiner Effekte.“ Dass auch der Markt bestimmt, was gute Kunst ist und was nicht, schließt letztlich auch die Kunstfeldtheorie nicht vollends aus. Darin ist der Kunstmarkt immer schon einer der Pole, an denen sich die Produktion im künstlerischen Feld ausrichten kann. Ob der gegenwärtige Boom tatsächlich die Eigenlogik des gesamten Feldes in Frage stellt, muss daher fraglich bleiben.

Für sein Beharren auf der Beharrlichkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen, also auch einzelner Felder wie dem kulturellen, war Bourdieu immer wieder kritisiert worden. Andere sahen in seinen steten Hinweisen auf die Stabilität und Behäbigkeit sozialer Strukturen aber auch eine Stärke. Denn selbst, so wurde argumentiert, wer auf Veränderungen abziele, müsse zunächst begreifen, warum sie so mühsam und träge vor sich gehe und welche konkreten Gewohnheiten ihr im Wege stehen. Hier setzte auch Ruth Sonderegger an. Sie betonte, Bourdieus Verweis auf die Konvention als Grundlage sozialen Handelns sei die wichtigste Neuerung seiner Praxeologie gegenüber philosophischen Praxistheorien von Wittgenstein bis Heidegger gewesen. Sonderegger stellte erneut die alte Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Ihr galt die große Studie „La Misère du Monde“ (1993, dt. Das Elend der Welt, 1997) als ein gelungenes Beispiel für den „praktischen Eigenwert“ von Theorieproduktion. Denn zum einen hätten darin die interviewten Marginalisierten einen angemessenen Raum erhalten und zum anderen spränge auch die LeserInnen ein Gebrauchswert heraus. Dass an einem solchen Nutzen der Bourdieuschen Theorie auch für eine „visuelle Anthropologie“ kaum Zweifel bestand, war der – weiterhin auszuführende – kleinste gemeinsame Nenner der Tagung.

 
Representation of the “Other”. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu. Teil 1, 6. Juli 2007, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und 7. Juli 2007, KW Institute for Contemporary Art Berlin.

Jens Kastner

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