19 04 06 "Kultur" und Machtanalyse
„Kultur“ als theoretischer und als operativer Begriff „Kultur“, schrieb Raymond Williams 1976 in seinen Keywords, sei „eines der zwei oder drei kompliziertesten Wörter in der englischen Sprache“. Dies habe zum Teil mit seiner komplexen und durchaus nicht einsinnigen historischen Entwicklung in verschiedenen europäischen Sprachen zu tun, „vor allem aber“ damit, dass „es jetzt in einer Reihe von unterschiedlichen intellektuellen Disziplinen und in einer Reihe von unterschiedlichen und inkompatiblen Denksystemen für wichtige Konzepte in Gebrauch gekommen ist“1. Entsprechend schwierig gestaltet sich jeder Versuch, „Kultur“ als theoretischen Begriff zu untersuchen, ohne sich entweder auf eine kaum überschaubare Vielzahl seiner Definitionen und Anwendungen verwiesen zu sehen oder aber, wie dies in philosophischen Kulturtheorien oft geschieht, dieser Vielzahl eine weitere Definition des Kulturbegriffs hinzuzufügen, ohne den Gründen seiner komplexen historischen, politischen und wissenschaftlichen Semantik Rechnung zu tragen. Williams’ Bemerkung, wörtlich gelesen, enthält indes einen wertvollen Hinweis für eine solche Untersuchung, dort nämlich, wo vom „Gebrauch“ des Kulturbegriffs „für wichtige Konzepte“ die Rede ist: Sie weist auf den operativen Charakter des Kulturbegriffs hin. Unter einem operativen Begriff verstehe ich im Anschluss an Eugen Fink2 einen theoretischen Begriff, der im Wesentlichen nicht durch seine gegenständliche oder thematische Bestimmung charakterisiert ist, sondern durch die intellektuelle Operation, die er vorzunehmen erlaubt und durch die die thematischen Begriffe erst zu ihrer begrifflichen Fixierung gebracht werden. Operative Begriffe bilden so ein Begriffsmedium, das in dem Maße seinerseits einer thematischen Klärung unzugänglich bleibt, wie durch dieses Medium hindurch erst die Gegenstandsfelder, für die sich eine theoretische Betrachtung interessiert, konstituiert werden. Fink, dessen Betrachtung sich auf philosophische Denksysteme bezieht, nennt die operativen Begriffe aus diesem Grund den „Schatten einer Philosophie“3: „Die operative Verschattung besagt aber nicht“, fügt Fink hinzu, „dass das Verschattete gleichsam abseitig wäre, außerhalb des Interesses – es ist vielmehr das Interesse selbst.“4 Es kommt also nicht allein darauf an – und dies gilt für die philosophischen Implikationen jeder Theoriebildung –, worauf sich ein Interesse bezieht (wofür man sich interessiert), sondern auch darauf, wie es sich auf etwas bezieht; und schließlich kommt es vor allem auf die Art und Weise an, wie das Wofür und das Wie eines Interesses miteinander verknüpft werden. Betrachten wir zunächst, wofür sich jemand interessiert, der sich mit „Kultur“ beschäftigt. Die Frage weist, zumal es sich bei dem Interesse an der „Kultur“ im Allgemeinen und den neueren Kulturstudien im Besonderen gerade nicht um eine bestimmte, in sich „geschlossene“ Theoriebildung handelt, zunächst auf die historische Semantik des Kulturbegriffs zurück. In seinen quasi-thematischen Hauptbedeutungen kann sich der moderne Kulturbegriff, Raymond Williams zufolge5, einerseits auf „einen allgemeinen Prozess intellektueller, geistiger und ästhetischer Entwicklung“ beziehen, mithin auf die (zuweilen speziell auf künstlerische Aktivitäten eingeengten) Bereiche symbolischer Produktion in ihrer Prozesshaftigkeit, und andererseits auf „eine besondere Lebensform, sei es eines Volkes, eines Zeitalters, einer Gruppe oder der Menschheit im Allgemeinen“, mithin auf identifizierbare Lebensformen zwangsläufig als Totalität angesetzter menschlicher Kollektive. Williams wendet sich nun angesichts der „komplexen und noch immer aktiven Geschichte des Wortes“6 ausdrücklich gegen jeden Versuch, einen „wahren“, „eigentlichen“ oder „wissenschaftlichen“ Sinn von „Kultur“ festlegen zu wollen; das heißt: er wendet sich gerade gegen eine genauere thematische Fixierung von „Kultur“. Signifikant sei vielmehr „die Spannweite und das Überlappen der Bedeutungen“7. In der Tat ist gerade an der Entwicklung der Cultural Studies und der Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten weniger der Versuch einer Festlegung der einen Bedeutung von „Kultur“ abzulesen als vielmehr eine ständige Arbeit daran, den Bezugsrahmen dieser Bedeutungsebenen auszuweiten und die Beziehungen zwischen ihnen neu zu definieren. Die Folge eines solchen Vorgehens ist freilich nicht nur, dass die Substruktion kollektiver Totalitäten in die entsprechenden Kulturanalysen eingeht, sondern darüber hinaus die selbstverständliche Übernahme der Verknüpfung dieser Totalitätsperspektive mit der Sphäre des Symbolischen. Für diese Verknüpfung ist es letztlich auch von sekundärer Bedeutung, ob „kulturelle Totalität“ essenzialistisch als „expressive Totalität“ eines feststehenden Kollektivs aufgefasst wird8 oder aber im Sinne von grundsätzlich inhomogenen, den „Landkarten der sozialen Wirklichkeit“ entsprechenden „Landkarten von Bedeutungen“, innerhalb deren sich eine nicht unumstrittene „dominante kulturelle Ordnung“ durchsetzt9. In der Tat scheint genau dieser Punkt, die Verknüpfung der Ebene symbolischer Bedeutungen mit einer substruierten sozialen Totalität, die Frage nach dem Wie des Interesses an der „Kultur“ zu berühren. Es ist nämlich eben diese Verknüpfung, die selbst nie thematisch wird und gerade dadurch das charakteristische Oszillieren des Kulturbegriffs zwischen den beiden angesprochenen thematischen Hauptbedeutungen ermöglicht. Und da diese Verknüpfung gleichsam im Kulturbegriff selbst stattfindet, ist sie es auch, die „Kultur“ – ungeachtet der jeweils vorherrschenden thematischen Fixierung – als operativen Begriff im Sinne Eugen Finks erweist. Daran ändern auch „operationale“ Definitionsversuche wie etwa jener des Kulturanthropologen Clifford Geertz wenig: In seinem einflussreichen Aufsatz „Dichte Beschreibung“ schlägt Geertz einen semiotischen Kulturbegriff vor, der Kultur als jenes „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ fasst, in das „der Mensch […] verstrickt ist“, und bestimmt ihre Untersuchung als „das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen“10 – um gleichwohl die Idee einer „intentionalen Veräußerlichung“ von Bedeutungen mit dem Interesse an Kultur als „natürlichem Faktum“11, als auf der Grundlage ihrer Ausdrucksformen identifizierbare soziale Totalität zu verbinden12. Gewiss handelt es sich bei Geertz um eine semiotische Zuspitzung des Kulturbegriffs, doch das Problem ist weitreichender: Es betrifft die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit der Übersetzung sozialer „Texturen“ in einen „Text des Sozialen“; und es betrifft die Frage nach dem in einer solchen Übersetzung wirksamen Interesse. Eine bezeichnende Artikulation der Schwierigkeiten, die sich aus diesen Fragen hinsichtlich eines theoretischen Begriffs der „Kultur“ selbst ergeben, findet sich bei Stuart Hall: „Es wird von uns verlangt, davon auszugehen, dass Kultur immer durch ihre Textualitäten hindurch wirken wird – und, gleichzeitig, dass Textualität nie genug ist. Aber nie genug wovon? Nie genug wofür?“ Hall lässt diese Fragen, von denen er ebenso sehr eine theoretische wie auch eine politische Beunruhigung ausgehen sieht, offen, und zwar unter dem Hinweis, dass es „philosophisch gesehen […] im Bereich der Cultural Studies immer unmöglich [war], […] irgend so etwas wie einen adäquaten theoretischen Begriff kultureller Beziehungen und ihrer Effekte zu formulieren“.13 Lässt sich dann aber überhaupt entscheiden, ob diesem Wovon und Wofür der Name „Kultur“ zu geben ist? Verweist nicht der operative „Schatten“ des Kulturbegriffs möglicherweise auf eine außerkulturelle Dimension, die dem Interesse an der „Kultur“ eingeschrieben ist? Und müsste eine theoretische Bestimmung von „Kultur“ nicht genau dieser Dimension, in welcher der „Ursprung“ der Verknüpfung von symbolischer Produktion und der Substruktion sozialer Totalität zu verorten wäre, Rechnung tragen?
„Kulturelle“ Signifikation und Machtverhältnisse Wenden wir uns den Implikationen des Gesagten auf der Ebene sozialer Praxis zu, oder genauer: auf der Ebene jener Formen „kultureller Politik“, in denen im Bereich der Cultural Studies die transformatorischen und emanzipatorischen Potenziale „kulturellen Handelns“ erblickt werden. Tony Bennett unterscheidet in seinem programmatischen Aufsatz „Putting Policy into Cultural Studies“ zwei wesentliche Perspektiven, die die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Kultur und Politik im Rahmen der Cultural Studies geleitet haben: In der ersten Perspektive „fällt die Betonung auf eine Modifikation des Verhältnisses zwischen Personen und jenen kulturellen Formen, die auf ihre Entwicklung einen wichtigen Einfluss hatten“14. Das zentrale Anliegen ist es hier, durch veränderte kulturelle Praktiken politisch transformative „Praktiken des Selbst“ zu generieren. Die kritische Neuaneignung bestehender Kulturformen erscheint also zugleich als kulturelles Empowerment im Dienste emanzipatorischer politischer Anliegen; die entsprechenden Politikformen entwerfen einen bestimmten Weg, den das Subjekt zu durchlaufen habe, um sich von ideologischen Täuschungen zu läutern oder aber neue, emanzipierte Subjektpositionen zu konstruieren. Die zweite Perspektive einer „kulturellen Politik“ betrifft das Verhältnis individueller transformativer Praxen zu kollektiven politischen Projekten. Unter Aufnahme der Theorien Gramscis geht es hier erstens darum, „Subjekte hervorzubringen, die sich den vielfältigen und verschiedenartigen Machtformen, in denen sie sich vorfinden, entgegensetzen und, zweitens, (...) diese Subjekte – wie lose, prekär und provisorisch auch immer – zu einer kollektiven politischen Kraft zu organisieren, die in Opposition zu einem Machtblock agiert“15. Bennetts Qualifizierung trifft in dem Maße zu, wie die politischen Perspektiven dieses Ansatzes in der ideologischen Kohärenz und einheitlichen Artikulation eines im Werden begriffenen politischen (Klassen )Subjekts liegen und es die „Kultur“ – als privilegiertes Feld des Ringens um Hegemonie, der Organisation durch politische Erziehung etc. – ist, in der sich eine solche Artikulation herstellen lässt. Zu Recht hebt er hervor, dass die beiden beschriebenen Perspektiven einer kulturellen Politik „Kultur“ im Wesentlichen als Bereich der signifying practices sehen und dementsprechend selbst für eine Idee von Politik stehen, die diese in Signifikationsprozessen verortet, bzw. für Politikformen, deren zentrale Mittel signifikative und diskursive Praktiken sind. Dies ist jedoch letztlich der Grund, warum diese Perspektiven für Bennett gerade nicht in der Lage sind, „den institutionellen Bedingungen, die verschiedene Felder der Kultur regulieren“16, genügend Aufmerksamkeit zu schenken. Ein für unseren Zusammenhang, vor allem hinsichtlich des hier zu diskutierenden Problems der Macht, besonders aufschlussreiches Beispiel dafür findet sich im Zusammenhang der postkolonialen Hybriditätsanalysen bei Homi Bhabha17: „Hybridität“ habe sich, so Bhabha, im kolonialen Kontext vor allem dadurch entwickelt, dass die Kolonialmacht, um ihre Herrschaft konkret durchzusetzen, auf eine Übernahme von Autoritätssymbolen und -diskursen durch die Unterworfenen angewiesen gewesen sei. Die in dieser Übernahme stattfindende Wiederholung des Herrschaftsverhältnisses im Akt der Unterwerfung sei jedoch keineswegs dessen bloße Repräsentation. Sie führe durch die Wiederholung bzw. durch die in ihr zustande kommende Verfremdung eine Differenz in die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse ein, die weder die koloniale Autorität noch auch die unterdrückte Gesellschaft unberührt lässt, sondern sie „hybridisiert“ und damit die bestehenden Machtverhältnisse verzeitlicht und destabilisiert. Die Wiederholung verfremdet und transformiert die Symbole der Autorität in Zeichen der Differenz.18 Halten wir die Implikationen von Bhabhas Ansatz bezüglich des Verhältnisses von Kultur und Macht fest: Der Übergang, in dem Bhabhas Analyse die politische Veränderung lokalisiert, ereignet sich ausschließlich auf der Ebene der Signifikation. Das Kulturelle erweist sich in diesem Übergang als „Effekt diskriminatorischer Praktiken“, jedoch im Sinne einer „Produktion kultureller Differenzierung als Zeichen der Autorität“, die in die Ausübung von Autorität interveniert, indem sie deren Brüchigkeit und Flüchtigkeit repräsentiert19; es wird von bestehenden Machtverhältnissen gewissermaßen produziert, und es reproduziert diese, so aber, dass die kulturellen Signifikationen zugleich Verschiebungen dieser Machtverhältnisse herbeiführen können. Kultur erscheint solcherart als Differenzial der Macht, das heißt, sie repräsentiert nicht nur deren Instabilität (als Nicht-Identität mit sich selbst oder, wie Bhabha sagt, als „Partialisierung“ ihrer Präsenz), sondern nimmt die Funktionsweise der Macht selbst auf und verändert darin deren konkrete Gestalt und Verhältnisbestimmungen. Bhabhas Analyse schreibt sich so in eine heute im Bereich der neueren Kulturstudien weit verbreitete Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Kultur und Macht ein, der zufolge die Analyse „von Machtstrukturen im kulturellen Feld“ zugleich „deren Veränderbarkeit deutlich zu machen“20 geeignet sei. Es ist jedoch kein Zufall, dass Bhabha immer wieder auf eine Repräsentationsdiskussion zurückgreift, denn das ganze Argument steht und fällt mit der Voraussetzung, dass die kulturellen Signifikationen re präsentativ in dem Sinne sind, dass sie die intrinsischen Widersprüche einer Machtkonstellation gleichsam adäquat dynamisieren, und zwar in Gestalt jener kulturellen Produktion sowie jener „hybriden“ kulturellen Subjekte, die eine „angemessene“ Transformation bestehender Machtverhältnisse befördern; kurzum: dass „Kultur“ tatsächlich eindeutig als Differenzial der Macht bestimmt werden kann (und nicht eine bloße Funktion der Macht bildet). Wir begegnen hier letztlich, wie in anderen Theoriebildungen auch, der Annahme eines (als solches) transhistorischen „kulturellen Feldes“, das einerseits die Lesbarkeit sozialer Verhältnisse in einer „kulturellen Artikulation“, andererseits aber auch die Veränderbarkeit dieser Verhältnisse durch eine „kulturelle Produktion“ verbürgen soll. Es ist diese Produktivität, die – gemäß der Position Bhabhas und anderer – in die Reiteration der Macht interveniert und auf diese Weise, theoretisch wie praktisch, die Kontingenz der Verhältnisse erweist. An dieser Stelle zeigt sich jedoch eine zweite Voraussetzung, und zwar an genau jenem Punkt, an dem die Operativität der Macht als eine Reiterativität interpretiert wird, die sich auf eine gegebene gesellschaftliche Ordnung bezieht: Berührt aber das Problem der Macht nicht, über konkret bestehende Hierarchien hinausweisend, gerade die Konstitutionsbedingungen gesellschaftlicher Ordnungen, also gewissermaßen die „Verhältnishaftigkeit“ der Verhältnisse? Es liegt nahe, diese Fragen abschließend auf jene Verknüpfung von symbolischer Produktion und sozialer Totalität zurückzubeziehen, in der ich den operativen Charakter des modernen Kulturbegriffs zu verorten versucht habe.
„Kultur“ und Machtkonstitution Kehren wir zurück zu Tony Bennett, dessen Insistieren auf der Bedeutung institutioneller Bedingungen nicht einfach auf einen mehr oder weniger einflussreichen „kulturellen“ Parameter abzielt (etwa dergestalt, dass bestehende „Institutionen“ den politisch-kulturellen Signifikationspraktiken bestimmte Rahmenbedingungen und Zwänge auferlegen). Bennett begreift diese „institutionellen oder, weiter gefasst, politischen und gouvernmentalen Bedingungen“21 vielmehr als konstitutiv nicht nur für jene politischen Probleme und Verhältnisse, mit denen sich eine kulturelle Politik auseinander setzt, sondern auch für die verschiedenen Formen und Felder der „Kultur“ selbst. Wir können hier die praktischen Folgerungen Bennetts beiseite lassen, um uns vor allem jenen Konsequenzen zuzuwenden, die sich daraus für den theoretischen wie historischen Umgang mit dem Kulturbegriff ergeben: Bennetts Sichtweise lässt es nämlich nicht mehr zu, die historische Reflexion über den Kulturbegriff auf ein bloß semantisches Problem einzugrenzen, das es gleichwohl erlaubt, einen transhistorischen Kulturbegriff anzusetzen, solange man nur dem Konnotationsreichtum des historischen Begriffs selbstreflexiv Rechnung trägt. Sie bindet vielmehr die historische Semantik wie auch die theoretische Bestimmung des Kulturbegriffs an eben jene spezifischen historisch-politischen Bedingungen, in denen sich dieser entwickelt hat, das heißt: an die politische Moderne. Einen bedeutenden Anhaltspunkt für ein solches Vorgehen findet Bennett in Raymond Williams’ Keywords-Artikel über Kultur selbst. Es handelt sich dabei um ein Zitatfragment aus Miltons The Readie and Easie Way to Establish a Free Commonwealth (1660), eine sehr frühe Verwendung des Wortes „Kultur“ als freistehendes Substantiv:
Während Williams sich mit der Feststellung begnügt, dass die Worte „Government“ und „Culture“ hier „in einem ziemlich modernen Sinn“ gelesen werden können, insoweit sich die Passage auf einen „allgemeinen sozialen Prozess“ beziehe, wirft Bennett die nahe liegende Frage nach der selbstverständlichen Nebeneinanderstellung von „Regieren“ und „Kultur“ auf: „Kultur“ bezeichne hier „weder das Objekt des Regierens noch sicherlich sein subversives Gegenteil; eher ist sie sein Instrument“23. Milton verwende das Wort „Kultur“ tatsächlich in einem spezifisch modernen Sinn, jenem nämlich, der es schließlich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als beides, Objekt und Instrument des Regierens, figuriert: „Objekt oder Zielscheibe, insofern sich der Begriff auf die Moral, Sitten und Lebensweisen untergeordneter sozialer Schichten bezieht“, und „Instrument, insofern es die Kultur in ihrem engeren Sinn – als Bereich künstlerischer und intellektueller Aktivitäten – ist, die die Mittel einer gouvernmentalen Intervention in und Regulierung von Kultur als Bereich der Moral, Sitten, Verhaltenscodes etc. bereitzustellen hat“24. Der entscheidende Punkt ist hier die Verortung sowohl des allgemeinen Interesses an „Kultur“ als auch der zunehmenden institutionellen Verankerung des „Kulturellen“ in der „Gouvernmentalisierung des sozialen Lebens“, das heißt: in jenen zugleich individualisierenden wie totalisierenden Techniken der sozialen Regulierung, die Foucault unter Bezugnahme auf die Polizeiwissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts unter dem Begriff der „Polizei“ gefasst hat. Bennett selbst stützt sein Argument mit dem folgenden Zitat aus dem Treatise on the Police of the Metropolis (1806) von Patrick Colquhoun:
Es ist wohl Bennetts Leitinteresse an Institutionen wie dem modernen Museum sowie an den Möglichkeiten transformativen politischen Handelns innerhalb der modernen Kulturtechnologien, das ihn an dieser Stelle seinerseits daran hindert, auf die Bedeutung der „Liebe zur Verfassung und der Ehrfurcht und des Respekts vor den Gesetzen“ näher einzugehen, die die „Kultur“ einflößen soll. „Kultur“ wird hier ganz offensichtlich zum Mittel einer – über ihre allgemeine „zivilisierende Funktion“26 hinausreichenden – sozialen Integration in das politische Gemeinwesen. Was aber ist unter dem „Volk“ zu verstehen, das Colquhouns Text als Objekt dieser Integration nennt? Bennett weist im Rückgriff auf Foucault zu Recht darauf hin, dass die „Polizei“ sich auf Individuen bezieht, und zwar nicht im juridischen Sinn, sondern als „arbeitende, Handel treibende, lebende Wesen“27; diese Individuen sind für die Polizeiwissenschaft jedoch genau insofern von Interesse, als sie Bestandteile einer Totalität sind, und diese Totalität ist, wie Foucault sagt, die konkrete „Masse der Bevölkerung mit ihrem Umfang, ihrer Dichte, mit, gewiss, dem Territorium, auf dem sie ausgebreitet ist“28. Das eigentliche Objekt, die eigentliche Zielscheibe der Kultur bildet die Bevölkerung als Totalität; und die Verbreitung der Kultur steht im polizeiwissenschaftlichen Sinn im Dienste der möglichst umfassenden und kapillaren Integration der lebenden, arbeitenden, sich erholenden Individuen in diese Totalität der Bevölkerung. Man sollte dies im Übrigen nicht für eine seltsame Ausformung einer aus heutiger Sicht etwas kurios erscheinenden Polizeiwissenschaft halten. Der EU-Beschluss über „Kultur 2000“, das erste groß angelegte Kulturprogramm der Europäischen Union, spricht in seinem Begründungsteil ständig von der „Kultur“ als wesentlichem Bestandteil der „europäischen Integration“, als Beitrag zur „Durchsetzung und Lebensfähigkeit des europäischen Gesellschaftsmodells“, als „Faktor der sozialen und staatsbürgerlichen Integration“, um schließlich festzustellen:
Hier ist es freilich nicht mehr die „Verbesserung der Moral“, sondern die „Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“, die „den gemeinsamen Kulturraum der Europäer zu einer lebendigen Realität werden“ lassen soll – eines kulturellen Erbes, das zum „Schlüsselelement“ der vermeintlich universalistischen politischen Prinzipien der Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität erklärt wird.29 Dies zeigt indes gerade, dass die auf die Integration der Bevölkerung zielende „Kultur“ sich auf beide von Williams beschriebenen historischen Hauptbedeutungen des Kulturbegriffs beziehen lässt, bezogen wurde und bezogen wird: auf den „allgemeinen Prozess intellektueller, geistiger und ästhetischer Entwicklung“ ebenso wie auf die „besondere Lebensweise“ einer Gruppe, im gegebenen Fall der durch kulturelle Affiliation integrierten EuropäerInnen im Werden. An diesem Punkt hätte, so meine These, eine Analyse der „Kultur“ anzuknüpfen, die sich nicht damit zufrieden gibt, sich einem transhistorische Geltung beanspruchenden operativen Kulturbegriff anzuvertrauen, der in differenziellen kulturellen Signifikationen zwar einen Effekt der Macht, zugleich aber auch schon die Überwindung bestehender Machtverhältnisse angelegt sieht. Eine solche Analyse der „Kultur“ als historischer Funktion müsste sich zweifellos – wie die Cultural Studies, aber aus einer anderen Perspektive – mit der Rolle der „Kultur“ für die Herausbildung des modernen Nationalbewusstseins ebenso beschäftigen wie mit der Konturierung des ethnologischen Kulturbegriffs im Kontext des Kolonialismus und seiner politischen Verwaltungs- und Kontrollstrukturen. Sie müsste auch in der Lage sein, etwa die spezifische Rolle der „Kultur“ in der Genese des (neo)rassistischen Denkens näher zu bestimmen, die Etienne Balibar zufolge von der Notwendigkeit bestimmt ist, „‚gemeinsame‘ Affekte und Evidenzen zwischen Individuen einer Gesellschaft zu schaffen, in der besonders die Verwandtschaft allmählich ihre Rolle einer determinierenden sozialen Struktur verloren hat“30. Und schließlich müssten ausgehend von einer solchen Analyse der „Kultur“-Funktion Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität selbst ergänzt und überprüft werden: Foucault nämlich sah die Gouvernementalität im Wesentlichen durch das Zusammenwirken von Verfahren und Analysen konstituiert, die sich auf das „Dreigespann“ Bevölkerung, politische Ökonomie, Sicherheitsdispositive bezogen31, und widmete dem historisch parallel sich ausbildenden Interesse an „Kultur“ kaum Beachtung; gerade die aktuellen Diskussionen zur Migrationspolitik beispielsweise demonstrieren jedoch immer deutlicher, wie eng dieses Dreigespann mit verschiedenen Diskursen über „Kultur“ verflochten ist. Vor allem aber wäre eine solche Untersuchung von „Kultur“ als Konstitutionsanalyse des spezifischen Machttypus anzulegen, der sich im Interesse am „Kulturellen“ manifestiert. Wenn der operative Schatten des Kulturbegriffs, in dem dieses Interesse aufzuspüren ist, nämlich als Verknüpfung der Ebene des Symbolischen mit der Substruktion sozialer Totalitäten zu bestimmen ist, dann ist es nicht mehr möglich, „Kultur“ als den Bereich „gesellschaftlicher Ausdrucksformen“, „signifikativer Praktiken“ oder sozialer „Kodierungsprozesse“ zu bestimmen, die auf ein homogenes oder heterogenes, jedenfalls aber als Totalität angenommenes soziales Substrat verweisen. Vielmehr wäre „Kultur“ selbst als historisch-politisch spezifische und kontingente Ausdrucks-Form zu begreifen (im Sinne der Regelung eines bestimmten Typus von Aussagen, Urteilen, Symbolisierungen, Repräsentationen), die sich mit einer ebenso historisch-politisch spezifischen und kontingenten Inhalts-Form durchdringt, gemäß welcher eine menschliche Mannigfaltigkeit als Totalität der Bevölkerung erscheint.32 Aus dieser Perspektive ist es also nicht das „Leben“ der Gesellschaft, das sich in der Kultur „ausdrückt“; es ist vielmehr die Ausdrucksform der „Kultur“, die sich auf die Inhaltsform der „Bevölkerung“ als Totalität „lebendiger“ Individuen bezieht und so eine „Kultur“ aktualisiert, die unterschiedliche integrative und differenzielle Bestimmungen durchlaufen kann, indem sie die Funktionen des Symbolischen finalisiert und die Materialität des Sozialen (re)organisiert. Zumindest wäre daraus die Konsequenz zu ziehen, der heute allenthalben so selbstverständlichen Rede von „Kultur“ und „Kulturen“ mit der entsprechenden Vorsicht zu begegnen und sich mit dem zu beschäftigen, was im modernen Interesse an der „Kultur“ vielleicht immer am Werk war: die Kulturalisierung des Sozialen.
Die
vollständige Version dieses Textes ist in S. Nowotny / M.
Staudigl (Hg.), Grenzen des Kulturkonzepts: Meta-Genealogien
(Wien: Turia + Kant 2003), erschienen. Mein herzlicher Dank gilt
Birgit Mennel und Andrea Salzmann für die Erstellung der
gekürzten Version.
1 R. Williams, Keywords, London 1983, 87. 2 E. Fink, „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie“, in: Ders., Nähe und Distanz, Freiburg/München 1976, bes. 185 f. 3 Ebd., 186. 4 Ebd., 189. 5 Vgl. R. Williams, a. a. O., 90. 6 Ebd., 91. 7 Ebd. 8 Vgl. zur Kritik der Vorstellung einer „expressiven Totalität“: S. Hall, „Cultural Studies. Zwei Paradigmen“, in: R. Bromley et al. (Hg.), Cultural Studies, Lüneburg 1999, 124 u. 127. 9 Vgl. S. Hall, „Kodieren/Dekodieren“, in: R. Bromley et al. (Hg.), Cultural Studies, a. a. O., 102 f. 10 C. Geertz, „Dichte Beschreibung: Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in: Ders., Dichte Beschreibung, Frankfurt/M. 51997, 9. 11 Vgl. ebd., 28 u. 22. 12 Wie anders ließe sich etwa folgende Aussage Geertz’ verstehen: „Nur ein ‚Eingeborener‘ liefert Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur“ (ebd., 23)? 13 S. Hall, „Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies“, in: Ders., Cultural Studies: Ein politisches Theorieprojekt, Hamburg 2000, 46. 14 T. Bennett, „Putting Policy into Cultural Studies“, in: L. Grossberg et al. (Hg.), Cultural Studies, London / New York 1992, 24. 15 Ebd., 25. 16 Ebd. 17 H. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 1994, 102–122. 18 Vgl. ebd., 113. 19 Ebd., 114. 20 G. Sandner, „Kultur als Gegennatur – Natur als Gegenkultur“, in: L. Musner et al. (Hg.), Cultural Turn, Wien 2001, 150. 21 T. Bennett, a. a. O., 25. 22 Zitiert nach: ebd., 25, bzw. R. Williams, a. a. O., 88. 23 T. Bennett, a. a. O., 25. 24 Ebd., 26. 25 Zit. nach: ebd., 27. 26 Ebd., 28. 27 Ebd., 27. 28 M. Foucault, „Die ‚Gouvernementalität‘“, in: U. Bröckling et al., Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt/M. 2000, 66. 29 Vgl. dazu auch S. Nowotny, „Ethnos oder Demos? Ideologische Implikationen im Diskurs der ‚europäischen Kultur‘“, http://eipcp.net/transversal/1100/nowotny/en. 30 E. Balibar, „Der Rassismus: auch noch ein Universalismus“, in U. Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde, Hamburg 1998, 184. 31 M. Foucault, a. a. O., 64. 32 Vgl. zu den Begriffen der „Ausdrucksform“ und der „Inhaltsform“ sowie für den allgemeineren machttheoretischen Hintergrund der hier angestellten Überlegungen: G. Deleuze, Foucault, Frankfurt/M. 21995, bes. 48 ff., 56 ff. u. 102. |
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