25 01 08 Den wirklichen Ausnahmezustand herbeiführenMacht der Ausnahme bei Agamben, Macht des Vermögens bei Negri1. Bartlebys Vermächtnis In einem zärtlichen Text über Bartleby aus dem Jahre 1993 setzt Giorgio Agamben den Schreiber, der es vorzieht, nicht zu schreiben, als Engel und Boten einer Ontologie des Vermögens ein. Mit seinem "Ich möchte lieber nicht" verkündet dieser blasse und erschöpfte Angestellte, der nichts mehr zu erledigen gedenkt, dass der Mensch, die Gemeinschaft und das Politische im Modus des Vermögens existieren. Das Sein ist potentiell. Erst als Potentielles ermöglicht es Gemeinschaft. Wäre es immer schon verwirklicht, wäre es immer schon diese Sache oder jene Identität, könnte es nur "zufällige Übereinstimmungen und faktische Aufteilungen"[1] geben. Das ist das erste Charakteristikum von Agambens Denkens, das ich zur Diskussion stellen will, die Ontologisierung des Politischen in der Figur des Vermögens. Zur Zeit können wir eine starke Rückkehr zur Ontologie in Teilen einer linken, sagen wir, der Analytik und Veränderung des Gesellschaftlichen verpflichteten politischen Philosophie beobachten – Nancys Ontologie des Mitseins, Agambens Ontologie des Vermögens, Zizeks ontologisierende Bestimmung des Kapitals als das Reale, Badious mathematische Ontologie der Mengenlehre, Negris Ontologie eines konstituierenden Vermögens der Multitude etc.[2] Aber selbst noch ein schwach ontologisches Denken, das paradoxale, leere, kontingente oder grundlose Gründungsfiguren des Seins einführt, arbeitet mit apriorischen und transhistorischen Setzungen, die die strategischen Konflikte des Gesellschaftlichen übersteigen und dadurch logisch oder ethisch gereinigt sind. Dadurch wird Derridas Aufforderung zur Deontologisierung genauso beiseite geschoben wie die poststrukturalistische Aufforderung, in den Wechselwirkungen von Praktiken zu denken, von Regierungs-, Verwertungs- und sozialen Praktiken. Im Poststrukturalismus wird Praxis niemals als rein vorgestellt, sie ist relativ. Genausogut wie sie ein Machtinstrument oder einen Machteffekt darstellen kann, kann sie zu einem Hindernis für die Macht werden, etwas, was ihr entgeht oder ihren Wirkungen eine andere Richtung gibt, einen Widerstandspunkt bildet oder den Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Dabei ist das Soziale niemals Effekt einer es erklärenden Instanz.[3] Was kennzeichnet das Vermögende als Bestimmung des Seins? In "Bartleby oder die Kontingenz" bestimmt Agamben das Potentielle als das, was dazu in der Lage ist, nicht zu sein. Potentiell ist, was nicht mehr dem Primat der Wirklichkeit, des Werkes, der Tat untersteht, sondern sein eigenes Unvermögen vermag und im Abgrund der Nichttätigkeit verharren kann. Für Agamben, der das Politische als Erlösung versteht, wird Bartleby damit zu einem neuen Messias, der kommen wird, nicht um das Wirkliche, sondern das Mögliche zu retten, das heisst, in der Vergangenheit zu erlösen, was hätte sein können, aber nicht eingetreten ist.[4] Zweites Kennzeichen des Agambenschen Denkens ist die Ankündigung und Theoretisierung einer Rettung. Im Tiqqun, im Zustand der Erlösung, wird das Mögliche in keinem Verhältnis zum Akt mehr stehen. Damit wird eine Untätigkeit erlaubt sein, die nicht auf Erschöpfung oder Faulheit reduzierbar ist, sondern eine eigene schwache Aktivität besitzt. Diese Aktivität der Untätigkeit besteht darin, den Raum und die Zeit für den Modus eines sich entziehenden Möglichen zu öffnen. Wir stoßen hier auf einen dekonstruktiven Standard: Das Mögliche wird ereignistheoretisch als etwas gedacht, was aus einer Unmöglichkeit hervorgeht und damit aus der Logik des Realisierbaren heraustritt. Ginge Möglichkeit nicht aus Unmöglichkeit hervor, wäre sie eine antizipierbare und kalkulierbare Option innerhalb der gegenwärtigen Ordnung. Die schwache Aktivität eines unmöglichen Möglichen liegt für Agamben in der Deaktivierung der Dinge und Verhältnisse. Damit führt er einen paradoxalen und mystischen Modus des Wirklichen ein: etwas verwirklicht sich, indem es de-aktiviert und an die Unwirksamkeit der Potenz zurückgegeben worden ist.[5] Verwirklichung und Möglichkeit werden damit tendenziell dasselbe. Um die Differenz zwischen Agambens und Negris Vorstellung von Vermögen zu erfassen, ist es spannend, Agambens Verwirklichung der Dinge durch ihre Deaktivierung mit der postoperaistischen Reinszenierung einer Verwirklichung der Klasse durch ihre Beseitigung zu vergleichen, mit der der politische Akt einer sich selbst erzeugenden Menschheit beschrieben und Marx' Idee eines reinen proletarischen Aktes einer "Klasse der Gesellschaft" aufgegriffen wird, "die keine Klasse der Gesellschaft mehr ist"[6], wie er in der Einleitung zur "Kritik der Hegelschen Philosophie des Rechts" geschrieben hat.[7] Agambens politische Ontologie des Vermögens mündet in ihrer positiven Perspektive in das ethisch gefasste Versprechen, dass eines Tages das Glück reinen Möglichseins eintreten wird.[8] Damit wird das Leben vom Verwirklichungsprimat befreit; es darf beliebig und irgendwie verlaufen. Gesellschaftliche Teilhabe wird an keiner einzigen Bedingungen gemessen werden. In dieser negativen Anthropologie, in der die Menschheit durch bedingungslose Zugehörigkeit ausgezeichnet ist, erklärt Agamben das beliebige So-Sein zum gefährlichsten Feind des Staates[9]: Drittes Kennzeichen seiner Theorie des Vermögen ist somit eine Ethisierung des Politischen, die der Begrenzung unterliegt, dass das Politische kategorial gesetzt wird. Während er über die materiellen Praktiken des Politischen schweigt, wird Radikalität rein begrifflich bestimmt, in diesem Fall als Feindschaft zwischen dem Staatsapparat und einem ihm diametral und vollkommen unverbunden gegenüberliegenden Nicht-Staat beliebigen Seins. Warum über Agambens und Negris beziehungsweise das postoperaistische Denken der Potentialität sprechen? Was ist der spannende Einsatz einer Theorie des Vermögens? Was ist ihr politisches Versprechen? Auf der einen Seite ist ein Denken des Möglichen, das sich dem Primat des Wirklichen entzieht, Ausgangspunkt für eine radikale Zurückweisung von kapitalistischen und biopolitischen Regierungs- und Selbsttechnologien. Darauf zu bestehen, in seinem Leben, etwas nicht zu tun und nicht zu sein, dazu zu gehören, ohne etwas geleistet zu haben, keinem kommunitären Anspruch zu gehorchen, distanziert sich maximal von kapitalistischer Selbstunternehmerisierung. Zur Zeit ist Nichtstun nur als kreative Ressource des Tuns vorstellbar, als Workout oder devianter Umweg zum Erfolg. Außerhalb dessen ist es Scheitern oder Strafe. Agambens Denken des Möglichen als "Potenz nicht zu sein oder nicht zu tun"[10] gibt eine Begrifflichkeit an die Hand, ein Leben zu denken, das sich Verwertung und Selbstaktivierung entgegenstellt und noch gegen Mobilisierungsforderungen in der Linken eingesetzt werden kann, die von der Tradition des Arbeitersportvereins über den Kader-Soldaten bis zur aktuellen postoperaistischen Figur der schöpferischen Kreativität der Menge reichen. Dabei schließt er an das an, was Nancy und Rancière an der humanistischen Linie des Marxismus kritisiert haben: der Mensch ist nicht Produzent seines eigenen Wesens in Gestalt seiner Arbeit und seiner Werke.[11] Es gibt kein protokommunistisches Vermögen, das im Menschen angelegt ist und sich durch aneignendes Handeln allseitig entwickeln und entfalten wird, wobei ein genauso tätiger wie kämpferischer Mensch seine noch latente Menschlichkeit erarbeitet und vervollkommnet[12]. Damit wird mit dem Immanentismus der frühmarxistischen Produktivkraft-Konzeption gebrochen, in der die positive Verwirklichung des Menschen und der negative Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise in einer Praxis, einem Akt, zusammengedacht wurden. Der postoperaistische Diskurs bezeugt, wie in der Linie Spinoza-Deleuze ein anderes Denken des Vermögens auftaucht. Es entzieht sich ebenfalls der Opposition Möglichkeit/ Wirklichkeit, denkt aber Potenz nicht als Doppel von "Potenz zu" und "Potenz nicht zu", sondern als Intensitätsgrad. Für Spinoza ist Vermögen Wirksamkeit. Es ist nicht Vermögen des Nicht, sondern Tätigkeitsvermögen, das in dem Maße wächst oder gemindert wird, in dem es Lust oder Unlust bereitend affiziert und affiziert wird. In dieser Spur Spinozas führt eine Theorie des Vermögens nicht zur schwachen Aktivität des Deaktivierens, zur eschatologischen Figur der Verwirklichung durch Unwirksam-Machen, sondern zu einer Steigerung des Tätigkeitsvermögens und der lustvollen Leidenschaften, mit der eine Gemeinschaft den intellektuellen Besitz ihrer Potentialität antritt, indem sie sich eine adäquate Idee von den Zusammensetzungen ihrer Affekte und Leidenschaften macht. Die Herausforderung der Deleuzeschen Wiederaufnahme Spinozas liegt in einer positiven Konzeption des Politischen als strategische Wechselwirkung von Kräften. Deleuze schließt hier an den Marxismus genauso an, wie er sich radikal von ihm absetzt. In den Analysen zur Arbeitszeitgesetzgebung und zur Entwicklung der großen Maschinerie hatte der Marx des "Kapital" bereits Argumentationsweisen entwickelt, die den dialektischen Zirkel, mit dem politische Subjektivität in die objektive Bewegung fortschreitender Verwertung projeziert wurde, verlassen. Deleuze radikalisiert die Elemente bei Marx, in denen Gesellschaftlichkeit als mehrwertiger Antagonismus von Macht- und Widerstandstrategien beschrieben wird, die sich in ihren Auswirkungen verschieben; er definiert diese Strategien als Linien unterschiedlicher Geschwindigkeit und Dimension. Sie bilden ein gesellschaftliches Feld, das nicht durch einen Widerspruch strukturiert, sondern durch die Linie stärkster Freisetzung bewegt wird. Damit steht er vor der Schwierigkeit, eine konstituierende Kraft der Deterritorialisierung vorauszusetzen, was er unablässig zu korrigieren versucht: Deterritorialisierung und Reterritorialiseirung seien gleich ursprünglich; Begehren existiere niemals spontan oder natürlich; es sei kein Trieb, sondern eine Anordung; es sei historisch bestimmt und der Effekt seiner eigenen Verbindungen. Gleichzeitig gewann Deleuze die Möglichkeit, das Politische nicht-subjektiv in einem Kräfteverhältnis zu theoretisieren, das davon bestimmt ist, dass der Macht etwas entgeht. Im neunten Kapitel von "Tausend Plateaus", "1933: Mikropolitik und Segmentarität", lokalisieren Deleuze und Guattari das Politische nicht in der Fluchtlinie, in der Bewegung absoluter Deterritorialisierung, sondern in dem, was sie das Molekulare nennen, in der Übersetzungszone, die zwischen Strömung und Segmentierung, d.h. institutionenbildender und verstaatlichender Verfestigung, liegt. Die Effekte, die man das Politische nennt, zeigen sich dort, wo gesellschaftliche Teilungen durch die Wirkkraft einer Fluchtbewegung verschoben werden. Diese Effekte von Dynamisierung oder Verhärtung sind an sich weder gut noch schlecht. Eine sehr schnelle Strömung kann in einem gesellschaftlichen Feld faschistoide oder reaktionäre Folgen zeitigen. Der Postoperaismus, der sich explizit in die Tradition dieser theoretischen Konzeption stellt, subjektiviert, produktiviert und positiviert die Grundannahmen dieses Denkens, wodurch es eine starke Veränderung erfährt und auf Produktivkraftveränderung und Subjektivität eingeschränkt bleibt. Die theoretische Konstellation einer Politik des Vermögens, die ich hier verhandele, wird von zwei Polarsternen durchstrahlt: Agambens negative Lehre von einer Autonomie des Vermögens als Unvermögen, eine Lehre, die er in "Homo sacer" in einer riskanten Wendung in eine Theorie des Ausnahmezustandes umschreiben wird; und Negris und Virnos positive Lehre einer Autonomie des Vermögens als biopolitischer Produktivkraft. Einen ihrer Spannungsmomente erreicht diese Gegenüberstellung, wenn man sich der Konzeption des nackten Lebens zuwendet. Während das nackte Leben für Agamben potentiell tötbares körperliches Material darstellt, das der Rechtsgewalt ausgesetzt ist, stellt es bei Negri und Virno eine konstituierende Macht dar, reine Produktivkraft[13], Fleisch des Lebens[14], wie Negri in Abwandlung eines späten Begriffs von Merleau-Ponty sagt. Der Ethik Agambens, dass aus der Lebens-Form niemals ein bloßes Leben herausgelöst werden darf, steht ein Vitalismus gegenüber, der aus Marx Begriff der lebendigen Arbeit ein Leben-ohne-Form gemacht hat, einen reinen proletarischen Akt, wie er nur im Denken des frühen Marx anzutreffen ist. Beide reontologisierenden Lesweisen des Politischen als Vermögen, werkloses, nicht-tätiges Möglich-Sein ohne Beziehung zum Akt und proto-kommunistisches schöpferisches Sein, sind von theoretischen Reduktionismen und gleichzeitig von gegenläufigen theoretischen Versprechen geprägt: Zurückweisung kapitalistischer Selbstunternehmerisierung, Sichtbarmachung souveräner Ausnahmepolitik auf der einen, die Beschwörung der positiven Kraft minoritären Widerstands mitten in den kapitalistischen Verhältnissen auf der anderen Seite. In einigen in den 80er Jahren verfassten Aufsätzen entwickelt Agamben aus einer häretischen Lektüre von Aristoteles Buch "Theta" der Metaphysik und einer Passage aus "De anima" die Figur der "Potentialität des Nicht"[15]. Dass das Mögliche impliziert, dass es auch nicht eintreten könne, weil es sonst schon immer in den Akt übergegangen wäre, stellt für Agamben das große Geheimnis der aristotelischen Lehre dar. Bemerkenswerterweise macht Agamben aus Aristoteles, der sich gerade im Buch "Theta" auf das begriffliche, wesenhafte und zeitliche Primat der Wirklichkeit festlegt, einen Theoretiker einer autonomen Macht der Potentialität des Nicht. Diese nicht-kanonische Interpretation geht auf kabbalistische und sufistische Lektüren des Mittelalters zurück. Was aber, fragt Agamben, passiert mit dem autonomen Unvermögen im Übergang zum Akt? Was passiert mit dem Vermögen der Dichterin, keine Gedichte zu schreiben, wenn sie es doch tut? Angeregt durch zwei Formulierungen von Aristoteles entwickelt er die mystische Figur einer Rettung der Potenz im Akt: Das Unvermögen wird mit der Verwirklichung nicht zerstört, sondern erfüllt. Es erschöpft sich darin, in die Verwirklichung einzugehen und dort de-aktiviert bewahrt zu sein.[16] Das ist die Gabe der Potenz an sich selbst, sie wendet sich auf sich selbst zurück, gibt sich, um wirklich zu werden. Diese Selbstaufhebung der Potenz im Akt markiert einen extremen Wendepunkt beziehungsweise eine extreme Schwelle in Agambens Denken, die in zwei verschiedene Räume führt, in den negativen Raum der Ausnahme und den positiven Raum der Gemeinschaft beliebigen Seins und der Erlösung. Eine Potenz, die über ihr Nicht-Sein-Können mit dem Akt in Beziehung bleibt, entspricht in "Homo sacer" der Struktur des souveränen Banns, ein Begriff, den Agamben von Nancy übernimmt. Der Bann bezeichnet einen Ausnahmeraum: Das Recht wendet sich auf das Leben an, indem es sich abwendet. Es behält sich vor, nicht zu gelten und weiterhin Recht zu sein. Es löst seine Gesetzeskraft aus sich heraus und überträgt sie auf Verwaltungsmaßnahmen. Dabei ist die Funktion des Banns biopolitisch; in ihm wird das, was für Agamben untrennbar ist, getrennt: Leben und Lebensform. Gleichzeitig wird das Unterschiedene ununterscheidbar: Recht und Gewalt tauschen ihre Plätze. So verwandelt Agamben seine positive Lehre von der Rettung des Unvermögens in eine negative Lehre abendländischer Souveränität. Durch die Bannstruktur – die eine Beziehung zwischen dem Beziehungslosen stiftet – erhält das Recht Zugang zu dem, was ihm nicht gehört, anomische Gewalt. Agamben theoretisiert Biopolitik als institutionelle Todespolitik humanitärer Verwaltung, die im Namen des Lebens operiert, und in dem Maße eine Politik des Ausnahmezustandes, der Außerkraftsetzung des Rechtes als Recht, etabliert, wie juridische Prozeduren in der internationalen Politik zugenommen haben. Er diagnostiziert so eine erneute Funktionsumkehr der Disziplin. Die erste hatte Foucault auf das 18. Jahrhundert datiert, als die Disziplinen vom harten Mechanismus der Quarantäne, der Anti-Desertion, der Anti-Vagabondage in normierende Mechanismen des Schul-, Klinik-, Armee- und Gefängnisregimes übergegangen waren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt es für Agamben erneut zu einer Konjunktur der Ausnahme-Disziplin, die als Bann, als ausschließende Einschließung funktioniert und die frühesten Mechanismen moderner Diziplinarität reaktualisiert: "die Bannung von Gefahren, die Bindung unnützer oder unruhiger Bevölkerungen, das In-Schach-Halten großer Menschenansammlungen"[17]. Politisch will Agamben darauf hinaus, dass Leben und Recht nicht zusammen gehören. Zwischen ihnen gibt es keine substantielle Verbindung. Sie sind im Ausnahmezustand fiktiv verbunden und dadurch erst in ihrer Form geschaffen worden: "Leben und Recht sind das Ergebnis des Bruchs von etwas, zu dem wir keinen anderen Zugang haben als über die Fiktion ihrer Verbindung"[18] Die Frage der Politik ist deshalb, wie Recht und Gewalt wieder zu trennen wären; Gesellschaftskritik ist die Demaskierung ihrer Verbindung, die Agamben in der problematischen Form von Entfaltung und Verfall vorträgt: Seine höchste Verdichtung erreichte der Ausnahmezustand während des Nationalsozialismus, seine größte Zerstreuung heute. Im Römischen Reich war für Agamben die Kraft des Ausnahmezustandes durch die Gewaltenteilung zwischen aristokratischen und plebejischen Institutionen eingedämmt, im Mittelalter durch die Trennung geistlicher und weltlicher Macht. Heute aber werde der Ausnahmezustand von den technokratischen Maschinen der Exekutiven zur Regel gemacht. Diese zur Regel gewordene Ausnahme der Selbstsuspension des Rechts bringt Agamben dazu, eine einzige Forderung an eine kommende politische Ontologie zu stellen, nämlich eine Potentialität ohne Beziehung zum Akt zu denken, auch nicht in der extremen Form der Bannbeziehung, und einen Akt ohne Beziehung zur Potenz zu denken, auch nicht in der extremen Form der Gabe der Potentalität an sich selbst und ihrer Rettung im Akt. Das Ringen zwischen Politik und Souverän um nicht-gesetzesförmige Gewalt analogisiert Agamben mit dem Ringen um das reine Sein in der Metaphysik.[19] Zwei große Schlachten in Politik und Metaphysik in einer einzigen Schlachtordnung: die Onto-Theologie bezieht das reine Sein in den Logos ein, die Ausnahmebeziehung bezieht die Gewalt ins Recht ein. Das wirft ein Schlaglicht auf die Struktur des Agambenschen Denkens: Analogisierung von Ontologie und Politik, vorschreibende Qualität aller beschreibenden Kategorien, Arbeit mit einer einzigen transhistorischen Figur der Macht, dem Bann, Reduktion des politischen Handelns auf eine einzige Gegenfigur: eine Gewalt, die dazu in der Lage ist, die Ausnahmebeziehung zwischen Recht und Gewalt zu unterbrechen. Was im Benjaminschen Sinne – auf den Agamben sich in seinem Denken der Ausnahme bezieht – hieße, den wirklichen Ausnahmezustand herzustellen. Diese Figur muss Agamben aber sofort wieder entkräften, damit nicht auch sein eigene Theorie von der Figur der Ausnahme ruiniert wird. Deshalb versucht er Benjamins Konzept einer göttlichen Gewalt und einer in ihre Spur gesetzten reinen revolutionären Tat zu korrigieren und darauf hinzuweisen, dass reine vorrechtliche Gewalt nicht existiere, sondern aus der politischen Auseinandersetzung um den Ausnahmezustand hervorgehe.[20] Die vitalistische Umkehrung der Figur des nackten Lebens bei Negri, Hardt, Virno und anderen postoperaistischen Autoren und Autorinnen – das bloße Leben als reiche Kraft lebendiger Arbeit – führt ebenfalls eine Idee des wirklichen Ausnahmezustandes mit sich. In "Die Arbeit des Dionysos" erklären Negri und Hardt die konstituierende Macht der Menge zur göttlichen Gewalt im Sinne Benjamins, die den Kapitalismus zerschlägt.[21] Stellt Agambens Bannbeziehung eine negative Fundierung des Politischen dar, die auf der juridischen Fiktion einer Gesetzeskraft ohne Gesetz basiert, gründen Negri, Hardt und Virno das Politische positiv im proletarischen Vermögen, sich selbst und die Welt zu erschaffen. Dem unterliegt eine doppelte theoretische Operation, zum einen die Aufpfropfung von Deleuze' Begriff des Begehrens auf Marx' Begriff der lebendigen Arbeit, zum anderen die Ineinssetzung von Foucaults Biomacht-Konzeption und Marx' These von der realen Subsumption der Arbeit unter das Kapital. Die postoperaistische Theoriebildung radikalisiert diese Marxsche These und geht davon aus, dass im imperialen Kapitalismus alle Bereiche des Sozialen, des Körperlichen und des Affektiven der Produktion unterstellt seien. Marx idealisierende Prophezeiung von sich vereinfachenden Klassenbeziehungen und zunehmender Proletarisierung überführen sie in die Konzeption einer universalen biopolitischen Produktivkraft, in der die qualitativen Unterschiede innerhalb der Arbeit immer geringer würden und keine substanziellen Differenzen, die Menge spalteten.[22] In dem biographischen Gespräch "Rückkehr" wendet sich Negri genauso wie in "Empire" gegen Agambens heideggerianische und verrätselte Theorie der "nuda vita", in der er eine Potenzialität ohne Beziehung zum Akt fordere und sie in der Radikalisierung von Heideggers Idee der Seinsverlassenheit finde, in der das Zusammensein des Seins und des Seienden nicht die Form einer Beziehung habe.[23] Als reine schöpferische Materialität wird das nackte Leben von Negri dagegen positiv als letztes Stadium der Produktivkraftentwicklung gedacht, als Leben ohne Form.[24] Der nackte Mensch, das ist im Postoperaismus der biopolitische Unternehmer, der nichts besitzt außer seiner einverleibten Produktionsmittel, dem Wissen und der Fähigkeit zur Kooperation. Er ist ein Mensch ohne Eigenschaften geworden und verkörpert die neuen Erscheinungsweisen von Subjektivität im Kapitalismus, die zugleich die protokommunistischen Voraussetzungen seiner Überwindung darstellen.[25] Diese postoperaistische Diagnose setzt den gesamten Gehalt der Foucaultschen politischen Anatomie der Körper außer Kraft und gründet in der These, die Dialektik der Produktionsmittel sei an ihr Ende gekommen. Mit der Hegemonie intellektueller, sprachlicher und steuernder Tätigkeiten stelle das Kapital den Arbeitenden nicht mehr ihre Arbeitsmittel zur Verfügung. Diese säßen inzwischen im Körper der Arbeitenden selber. Das Hirn, der allgemeine Verstand, die Sprache, die Affektivität seien primäre Produktionsmittel geworden, die potentiell über den Kapitalismus hinauswiesen.[26] Marx selber hatte sich nach den Niederlagen von 1848 davon verabschiedet, das Politische als reinen proletarischen Akt zu denken, in dem die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Freisetzung der Produktivkräfte von statten geht, sondern begonnen, es als strategischen Prozess der Organisation und Zusammensetzung von Kräften zu begreifen.[27] Der Postoperaismus aber schließt an diese frühere Marxsche Schicht an, die den nackten Menschen der Arbeit sans phrase vergegenwärtigt, einen im positiven Sinne von allen Fähigkeiten und Eigenschaften beraubten Menschen, einen Armen, der nichts als Arbeitskraft verkörpert. Sein Vermögen drückt in einem Wirklichkeit und die Veränderung der Wirklichkeit aus. In diesem Sinne würde das nackte Leben den Kommunismus selber produzieren, eine These, die Jacques Rancière als "onto-technologischen Trick" und Balibar als Fiktion eines "reinen proletarischen Aktes" bezeichnet haben.[28] Mit diesem Trick wird das komplexe Gefüge gesellschaftlicher Prozesse mit der Entfaltung eines in der Geschichte des Seins angelegten Vermögens identifiziert und mit der Entwicklung des Produktionsprozesses verbunden. Das Politische wird als Verwirklichung des Menschlichen im Zuge der Vergesellschaftung der Produktion gefasst, in der "die Affirmation der Arbeit die Affirmation des Lebendigen selbst"[29] geworden ist. Die Multitude wäre dann diese Klasse, die keine mehr ist, von der der junge Marx gesprochen hat, die "wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt"[30], was einer Figur von Verwirklichung und Beseitigung entspricht. So durchzieht auch den Postoperaismus genauso wie Agambens Denken eine eschatologische Linie: Eines Tages wird die Geschichte nichts anderes machen können, als im aufscheinenden Licht eines neuen Morgens ihre eigene Auflösung im Vermögen der Menge, die Welt hervorzubringen, zur Kenntnis zu nehmen. Beide theoretischen Operationen an der Figur des Vermögens, mit denen Agamben und Negri seit den 90er Jahren in gegenstrebiger Weise eine neue Ontologie der Potentialität verfasst haben, blockieren durch ihre Reduktionismen ein Denken des Politischen. [1] Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/ Berlin: Diaphanes 2001, 18. [2] vgl. Carsten Strathausen: A Critique of Neo-Left Ontology, in: Postmodern Culture, 156, No. 3, 2006, 1. [3] vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 115-118. [4] vgl. Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz, Berlin: Merve 1998, 71. [5] vgl. Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 112. [6] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, Berlin: Dietz 1976, 390. [7] vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 94-99. [8] vgl. Giogio Agamben: Mittel ohne Zweck, 14. [9] vgl. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, 79f. [10] Giorgio Agamben: Bartleby, 13. [11] vgl. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Patricia Schwartz Verlag 1988, 13. [12] vgl. 14. [13] vgl. Antonio Negri/ Michael Hardt: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M./ New York: Campus 2002, 374. [14] vgl. Antonio Negri: Eine ontologische Definition der Multitude, in: Thomas Atzert/ Jost Müller (Hg.): Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire, Berlin: ID Verlag 2003, 114. [15] Giorgio Agamben, Bartleby, 13. [16] vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2002, 56. [17] Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, 269f. [18] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 2004, 103. [19] vgl. 72. [20] vgl. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: Ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1988, 62-66; vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, 73. [21] vgl. Michael Hardt/ Antonio Negri: Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin: Edition ID Archiv 1997, 158f. [22] vgl. Michael Hardt/ Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/M./ New York: Campus 2004, 144f. [23] vgl. Antonio Negri: Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens, Frankfurt/M.: Campus 2003 95f., vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer, 71. [24] vgl. Antonio Negri: Eine ontologische Definition der Multitude, in: Thomas Atzert/ Jost Müller (Hg.): Kritik der Weltordnung, 116. [25] vgl. Michael Hardt/ Antonio Negri: Arbeit des Dionyos, 19. [26] vgl. Antonio Negri: Zur gesellschaftlichen Ontologie. Materielle Arbeit, immaterielle Arbeit und Biopolitik, in: Thomas Atzert et.al. (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt/ New York: Campus 2007, 21. [27] vgl. Etienne Balibar: Die Suche nach der Ideologie im Marxismus, in: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg: Hamburger Edition 2006, 167. [28] vgl. 156; vgl. Jacques Rancière: Von der Aktualität des Kommunismus zu seiner Inaktualität, in: Demopunk et.al.: Indeterminate. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur, Münster: Unrast 2005, 25. [29] Michael Hardt, Antonio Negri: Arbeit des Dionysos, 5. [30] Karl Marx/ Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin: Dietz 1969, 35. |
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