15 09 08 Die Autonomie der MigrationDie Tiere der undokumentierten MobilitätÜbersetzt von Birgit Mennel und Stefan Nowotny
I. Unwahrnehmbarkeit Das Konzept des Werdens versucht eine politische Praxis zu artikulieren, in der soziale AkteurInnen ihren normalisierten Repräsentationen entfliehen, sich im Akt dieser Flucht neu begründen und dabei die Bedingungen ihrer materiellen Existenz verändern. Werden ist eine Kraft, die sich nicht nur gegen etwas richtet (nämlich vor allem gegen das allgegenwärtige Modell des methodologischen Individualismus und die souveränen Regime der Bevölkerungskontrolle), sondern ist auch eine Kraft, die Begehren ermöglicht. Jedes Werden ist eine Transformation von einer Mannigfaltigkeit zu einer anderen, schreiben Deleuze und Guattari; jedes Werden radikalisiert das Begehren und erschafft neue Individuationen und Affektionen. Werden ist ein Drift. Aber die kontinuierlichen Werdensprozesse, jener unaufhörliche Vorgang der Diversifizierung und Transformation, fabrizieren keine unendliche Serie von Differenzen. Deleuze ist kein Ingenieur von Differenzen. Deleuze ist ein akribischer Produzent von Einheit. Differenzen, Individuationen und Modalitäten sind nur der Ausgangspunkt; sie sind die Baumaterialien der Welt. Daher ist es interessanterweise nicht das Wuchern von Vielfalt und Differenz, sondern deren Verschwinden, welches das Ende aller Werdensprozesse ausmacht. Unwahrnehmbar-Werden ist das immanente Ende aller Werdensprozesse; es handelt sich um einen Prozess des Jede/r- und Alles-Werdens, und zwar indem der Gebrauch von Namen zur Beschreibung dessen, was den Moment überschreitet, eliminiert wird. Ununterscheidbar-Werden, Unpersönlich-Werden, Unwahrnehmbar-Werden ist das universelle politische Projekt von Deleuze und Guattari, haben wir doch in uns selbst all das unterdrückt, was unser Gleiten zwischen den Dingen und unser Wachsen inmitten der Dinge verhindert.[1] Dieser Abschnitt wird den politischen Implikationen des Begriffs der Unwahrnehmbarkeit nachgehen, und zwar hinsichtlich der Migration und ihrer Rolle für die Herausbildung neuer Kooperations- und Handlungsweisen. Ausgehend von einer Diskussion des Begriffs des Nomadismus werden wir argumentieren, dass die Praktiken der gegenwärtigen transnationalen Migration uns dazu zwingen, die von Deleuze und Guattari vorgenommene Aufspaltung zwischen Nomadismus und Migration zu revidieren. Das Diktum des Nomadismus: „Man kommt niemals irgendwo an“ bildet die Matrix der heutigen Migrationsbewegungen. Der darauf folgende Abschnitt versucht, verschiedene Modi eines nomadischen Werdens zu skizzieren, die die verkörperten Erfahrungen von MigrantInnen beherrschen: Tier-Werden, Frau-Werden, Amphibisch-Werden, Unwahrnehmbar-Werden. Im letzten Abschnitt werden wir schließlich diskutieren, wie sich diese flüchtigen Transformationen den allgegenwärtigen Politiken entziehen, die sich auf das Modell von Repräsentation, Rechten und Sichtbarkeit stützen. Dieser Exodus konfrontiert die heutigen Anordnungen politischer Souveränität mit einer unwahrnehmbaren Kraft, welche die „Mauern, die rund um die Welt errichtet werden“, unwiderruflich porös werden lässt: Es handelt sich dabei um die Kraft der Autonomie der Migration. Obwohl die Ankunft von Sir Alfred Mehran in vielen europäischen Polizeidienststellen für Zuwanderungsangelegenheiten erfasst wurde, bleibt diese Figur ein Rätsel. Sir Alfred Mehrans Biographie scheint emblematisch für die Figur des Nomaden zu stehen. Sein Begehren war es, nach Großbritannien zu kommen, und zwar mit einem auf seinen ursprünglichen Namen Mehran Karimi Nasseri lautenden Flüchtlingspass. Im Jahr 1988 flog er von Brüssel über Paris nach London. In London wurde ihm die Einreise verwehrt und er wurde nach Paris zurückgeschickt. Aber auch Frankreich verweigerte ihm die Einreise und Brüssel nahm ihn nicht wieder zurück. Seit damals lebte er in der Transitzone des Terminal 1 im Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Als er schließlich einen UNHCR-Pass erhielt, wieder reisen und den Transitraum verlassen konnte, verweigerte er die Anerkennung und Unterzeichnung jener Dokumente und argumentierte, dass die Person Mehran Karimi Nasseri nicht mehr existiere. Diese Person existierte 1988, heute sei er Sir Alfred Mehran. Dieser Ereignisverlauf stellt den Idealtypus eines nomadischen Lebens dar. Die nomadische Bewegung ist keine Fortbewegung, sondern die Aneignung und Neugestaltung von Raum. Was die NomadIn charakterisiert, ist nicht ihr Passieren von Einfriedungen, Grenzen, Hindernissen, Türen oder Barrieren. Die NomadIn hat kein Ziel, sie durchläuft kein Territorium, lässt nichts zurück, geht nirgendwohin. Die NomadIn verkörpert das Begehren, zwei Punkte miteinander zu verbinden, und besetzt daher immer den Raum zwischen diesen beiden Punkten. Das Rätsel von Sir Alfred Mehrans Ankunft resultiert nicht aus seinen vielfachen Dislozierungen und seiner schlussendlichen Festsetzung in Paris; vielmehr verweist es darauf, dass eben jener Moment der Ankunft sich über 17 Jahre erstreckt. Die Ankunft hat eine longue durée, sie umfasst beinahe das ganze Leben der NomadIn: Man ist immer da und immer auf dem Sprung, man ist stets im Aufbruch begriffen und manifestiert fortwährend die Materialität des Ortes, an dem man sich befindet. Niemals kommt man irgendwo an. Sir Alfred Mehrans spektakuläre Geschichte bricht mit einer klassischen Konzeption der Migration als eines Prozesses, der in eine Richtung verläuft, zielgerichtet und intentional ist. In jenem Verständnis von Migration – das für fordistische Gesellschaften typisch ist – ist die MigrantIn der Signifikant einer bestimmten Konzeptualisierung von Mobilität: das individualisierte Subjekt, das aufwendig das Kosten-Nutzen-Verhältnis seiner Reise kalkuliert und sich dann auf einen Weg mit festgelegtem Ausgangs- und Ankunftsort macht. Aber Migration ist keine individuelle Strategie, und sie bezeichnet auch nicht die Option „Exit“. Vielmehr ist sie durch die steten Verlagerungen und radikalen Neuartikulationen individueller Bewegungsbahnen gekennzeichnet. Migration bedeutet nicht die Evakuierung eines Ortes und die Besetzung eines anderen, sondern die Gestaltung und Neugestaltung des eigenen Lebens auf der Weltbühne: Sie ist Weltgestaltung. Migration lässt sich nicht an Positions- oder Ortsveränderungen bemessen, sondern an dem, was sie zunehmend in sich einbezieht, an der wachsenden Reichweite ihrer Intensitäten. Selbst wenn Migration mitunter als eine Art Dislozierung beginnt (erzwungen durch Armut, patriarchale Ausbeutung, Krieg, Hunger), ist ihr Ziel nicht Relozierung, sondern die aktive Transformation des sozialen Raums. Durch ihre Einbettung in weitläufigere Netzwerke intensiver sozialer Veränderung verbindet sich Migration mit einer Herausforderung und Neugestaltung der souveränen Bevölkerungskontrolle, die ausschließlich über die Identifikation und Kontrolle der Bewegungen des individuellen Subjekts funktioniert. Sir Alfred Mehran repräsentiert in besonders radikaler Weise eine nicht-repräsentierbare MigrantIn: Die Person, die die Reise antritt, ist an deren Ende nicht dieselbe, der bewohnte Raum ist nicht der angestrebte, die Dokumente verweisen nicht darauf, wer man ist oder war, sondern wer man im Verlauf der Reise wird. Reisen wird das Gesetz, Werden wird der Code. Der Koyote ist mehr als ein canis latrans an der Grenzlinie zwischen den USA und Mexiko. Er steht für all jene gewerblichen „Guides“, welche die nationalen Grenzen überqueren sowie illegale Migrationsbewegungen und undokumentierte Mobilität organisieren können. Britische Seeleute bezeichnen die schwer zu fassenden HelferInnen von blinden PassagierInnen als Haie, an der griechisch-albanischen Grenze werden sie korakia, Raben, genannt. Im Chinesischen bezeichnet man sie als shetou, Schlangenkopf – eine Person, die so listig ist wie eine Schlange und die weiß, wie sie ihren wendigen Kopf einzusetzen hat, um sich einen Weg durch schwierige Situationen zu bahnen. Shetou war auch der Name des chinesischen Netzwerks, das im öffentlichen Anti-Schlepperei-Diskurs für die Tragödie von Dover verantwortlich gemacht wurde, also für den Tod von 58 illegalen MigrantInnen in einem Lastwagencontainer in Dover zu Beginn dieses Jahrtausend. Der offizielle Anti-Schlepperei-Diskurs ist einer souveränen Konzeption von Grenzpolitik verpflichtet: Er individualisiert die Grenzüberquerung und präsentiert MigrantInnen als Opfer der Schmugglermafia. Im souveränen öffentlichen Imaginären ist Migration ein illegal organisierter Skandal, in dem es nur zwei AkteurInnen gibt: Gesetze brechende MigrantInnen und kriminelle SchmugglerInnen. Aber die Kriminalisierung des Grenzübertritts und die Reduktion des komplexen und polymorphen Netzwerks, das die Migrationsbewegungen stützt, auf ein Stück mit einem Akt und zwei AkteurInnen, all das verschleiert, dass die scheinbar souveräne humanitäre Doktrin einer „Rettung der Menschen“ nichts anderes ist als eine gewaltsame Fixierung auf die Politik einer „Rettung nationaler Grenzen“ und auf den Schutz des nationalen Korpus vor unkontrolliertem Eindringen. (Wir werden später darauf zu sprechen kommen, wie wichtig diese ständige Sorge um Grenzen für die Konstitution der nationalen Souveränität ist.) Migration ist kein eindimensionaler Prozess, der sich auf eine individuelle Wahl zurückführen lässt, sie ist kein Effekt der Push- und Pull-Mechanismen von Angebot und Nachfrage nach Humankapital. Migration passt sich auf unterschiedlichste Weise dem jeweiligen Kontext an, sie verändert ihr Gesicht, verbindet unerwartete soziale AkteurInnen miteinander, absorbiert souveräne Dynamiken, die auf ihre Kontrolle abzielen, und formt sie um. Migration ist arbiträr in ihren Strömen, sie ist entindividualisiert, sie begründet neue transnationale Räume, welche die souveräne Politik überschreiten und neutralisieren. Migration gleicht großen Wellen: Diese tauchen niemals genau dort auf, wo sie erwartet werden, ihr Anbranden lässt sich niemals exakt vorhersagen, aber sie kommen immer an, und sie erreichen ein Ausmaß, das die gesamte gegebene Geographie einer Meeresküste neu anzuordnen vermag – die Sandbänke, den Meeresboden, die Meerestiere und -pflanzen, die Felsen, den Strand. In der Türkei ist der Handel mit MigrantInnen – koyun ticareti, der Schafhandel – mehr als eine Angelegenheit von korrupten PolizistInnen und hat wenig mit dem Phantom einer global aktiven Mafia von „SchmugglerInnen“ gemein. Beim „Schafhandel“ an der Küste handelt es sich um ein ganzes Mobilitätsregime, um die Gesamtheit eines informellen Netzwerks, an dem Hundertschaften von verschiedenen AkteurInnen mit jeweils verschiedenen Einsätzen teilnehmen, um Grenzen durchlässig zu machen. Migration lässt materielle und psychosoziale Räume porös werden, im Sinne einer Benjamin’schen Porosität, in der sich das Öffentliche und das Private vermengen und in der Devianz und Norm neu verhandelt, Zonen der Ausbeutung und der Gerechtigkeit neu angeordnet und formelle wie informelle Situationen umgestaltet werden. Staatsapparate und Grenzen porös zu machen ist die von MigrantInnen angewandte Taktik, um sich der Kontrolle des Begehrens zu widersetzen. Tier-Werden ist weder eine bloße Metapher für die Transaktionen im gegenwärtigen Mobilitätsregime noch lediglich ein neuer akademischer Theorietrend; es ist die Chiffre für das körperliche Substrat der transnationalen Migration in Zeiten eines globalen Regimes erzwungener Illegalität. Denken wir zum Beispiel an die Bedeutung des Werdens im Zusammenhang von MigrantInnen, die die Grenze der Straße von Gibraltar überschreiten: Im Jahr 1991 führte Spanien die Visumpflicht für MigrantInnen aus der Maghrebregion ein. Seither scharen sich in Tanger MigrantInnen aus Marokko, Mali, Mauretanien und aus dem Senegal, die auf einen geeigneten Moment zur Überquerung des Mittelmeers warten. Man nennt sie „Herraguas“, die VerbrennerInnen – Menschen, die bereit sind, ihre Dokumente zu verbrennen, wenn sie die spanische Schengengrenze erreichen, um auf diese Weise die Rückführung in ihr Herkunftsland zu verhindern. In dem Film Tanger, le rêve des brûleurs (Marokko/Frankreich 2002) folgt Leila Kilani den Wegen von Rhimo, Denis und anderen und dokumentiert die entindividualisierten Träume und Praktiken all dieser VerbrennerInnen. Aber die Strategie der Entidentifizierung ist in erster Linie keine Frage von sich verlagernden Identitätszuschreibungen, sondern sie ist eine materielle und verkörperte Seinsweise. Bei der Strategie der Entidentifizierung handelt es sich um eine freiwillige „Entmenschlichung“, in dem Sinn, dass die Beziehung zwischen Namen und Körper gekappt wird. Ein namenloser Körper ist ein unmenschliches menschliches Wesen, ein Tier, das rennt. Unmenschlich ist er, weil er das humanistische Regime der Rechte vorsätzlich verlässt. Die Flüchtlingskonvention des UNHCR schützt die Rechte von Migrantinnen bei der Ankunft, aber nicht, wenn sie auf dem Weg sind. Und wir wissen bereits, dass die Ankunft eine longue durée kennt und dass sie nichts mit dem Moment des Ankommens zu tun hat, sondern die ganze Reise, ja beinahe das ganze Leben betrifft. Wir sehen hier, wie die Migration das Rätsel der Ankunft löst. Wie die Verbrenner sagen: Wenn du die spanische Grenze überqueren willst, reicht es nicht aus, deine Papiere zu verbrennen, du musst selbst ein Tier werden. Werden ist wesentlich für Mobilität. Die Trope des Tier-Werdens ist nur eine der Optionen, deren sich MigrantInnen bedienen, um ihre Bewegungsfreiheit zu behaupten. Frau-Werden, Kind-Werden, Älter-Werden, Land-Werden, Flüssig-Werden, Tier-Werden sind die Antworten der MigrantInnen auf die Kontrolle ihres Begehrens. Betrachten wir beispielsweise die „ewigen“ Werdensprozesse einer der Personen, die wir interviewt haben: eines Chinesen auf dem Weg nach Frankreich, den wir im Zuge unserer Feldarbeit für ein Projekt über transnationale Migrationsrouten in einem Lager in Nordgriechenland trafen. Er war gezwungen worden, für einige Zeit in Rumänien zu bleiben, wo er heiratete und eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Er stellte einen Visumsantrag für die EU, der abgelehnt wurde. Er stellte einen neuen Antrag und erhielt eine dreimonatige Arbeitserlaubnis, die ihn nach Paris führte. Nachdem er die Gültigkeit seines Visums mehr als zwölf Monate überschritten hatte, wurde er gefasst und zurück nach Rumänien abgeschoben (was bedeutet, dass zehn Jahre lang kein neuerlicher Visumsantrag für die EU gestellt werden kann). In Rumänien änderte er seine Identität und sein Geschlecht, heiratete – diesmal als Frau – erneut, stellte wieder einen Visumsantrag für die EU, fuhr nach Paris, wechselte erneut seine Identität und heiratete in Frankreich, wo er schließlich eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Einige Zeit später sandte uns diese Person eine E-Mail mit der Nachricht, dass er oder sie – die grammatikalischen Konventionen dieses Satzes zwingen uns dazu, ein Pronomen zu verwenden – in Kanada angekommen sei. Werden ist der innere Antrieb der Migration. MigrantInnen treten nicht durch Repräsentation und Kommunikation ihrer wahren individuellen Identitäten miteinander in Beziehung, und ebenso wenig dadurch, dass sie für andere übersetzen, was sie besitzen oder was sie sind. MigrantInnen brauchen keine Übersetzung, um zu kommunizieren, Migration braucht keine Vermittlung. MigrantInnen schaffen und unterhalten eine Verbindung zueinander durch ihre Werdensprozesse, durch die graduelle und sorgfältige, manchmal schmerzhafte Transformation ihrer gegebenen körperlichen Verfassung. Sie verwirklichen ihr Begehren, indem sie ihre Körper verändern, ihre Stimmen, Akzente, Mundarten, Haare, Farbe, Größe, ihr Geschlecht, ihr Alter und ihre Biographien.
Wie wir jedoch bereits zu Beginn dieses Abschnitts argumentierten, löst Werden keinen Prozess unaufhörlicher Diversifizierungen und Differenzen aus. Vielmehr bringt das Werden der MigrantInnen die unbestimmte Materialität hervor, auf deren Grundlage neue Verbindungen, Sozialisierungsfähigkeiten, gemeinsame Fluchtlinien, informelle Netzwerke und Transiträume gedeihen. Werden ist die Art und Weise, wie das Rätsel der Ankunft und das Rätsel der Herkunft in einem Prozess der Entidentifizierung miteinander verknüpft werden. Wir verstehen Entidentifizierung hier wörtlich, im Sinne eines Mehr-als-eine/r-Werdens. Die materiellen Werdensprozesse von MigrantInnen münden nicht in einen neuen Seinszustand, sie konstituieren das Sein vielmehr als Ausgangspunkt, aus dem neue Werdensprozesse hervorgehen können. Sein ähnelt jenen Transiträumen, in denen MigrantInnen eine Zeitlang verweilen, sich wieder mit ihren Communities in Verbindung setzen, ihre Verwandten und FreundInnen anrufen, mehr Geld verdienen, um die SchmugglerInnen zu bezahlen, Kräfte sammeln und ihre neuen Werdensprozesse vorbereiten. Sein ist lediglich eine Zwischenstufe des Werdens. Wenn das Sein die Nummer eines Passes ist, dann sind die Werdensprozesse von MigrantInnen zahllos. Sie sind die Vervielfältigung des Seins. Zwei, drei, viele Pässe! Entidentifizierung heißt: Alle-Welt-Sein. Denn man muss alle Welt sein, um überall zu sein. Deleuze und Guattari bezeichnen dies als die kosmische Formel der Mannigfaltigkeit: Unwahrnehmbar-Werden. Die Unwahrnehmbarkeit der Migration bedeutet nicht, dass Migration selbst unwahrnehmbar wäre. Ganz im Gegenteil, je stärker und effektiver Migrationsbewegungen durch die Materialisierung ihrer Werdenspraktiken werden, umso mehr werden sie zu den privilegiertesten Zielen der Erfassung, Regulierung und Restriktion durch die souveräne Macht. Unwahrnehmbar-Werden ist ein immanenter Widerstandsakt, da es die Identifizierung der Migration als einen aus festgelegten kollektiven Subjekten bestehenden Prozess unmöglich macht. Unwahrnehmbar-Werden ist das genaueste und effektivste Werkzeug, das MigrantInnen einsetzen, um sich dem individualisierenden, quantifizierenden und repräsentationalen Druck zu widersetzen, der von der sesshaften, konstituierten geopolitischen Macht ausgeübt wird. Welche Art von politischem Subjekt bringt die Unwahrnehmbarkeit hervor? In welcher Weise ist Migration in das Auftauchen einer postrepräsentationalen Ära der Politik eingewebt? Die Politiken der Differenz der achtziger und neunziger Jahre greifen in die gegebenen Repräsentationsverhältnisse ein, verhandeln sie neu und betreiben ihre Neuartikulation unter dem Imperativ, dass Widerstand möglich ist. Cultural Studies, Postkolonialismus, postfeministische Positionen, Queer Studies, radikaldemokratische Ansätze, all dies brachte zum Vorschein, dass die gegebenen Repräsentationssysteme die Auslöschung bestimmter Differenzen mit sich bringen (MigrantInnen, Queers, Subalterne, Ausgeschlossene) und führte eine neue subversive Strategie der Sichtbarkeit ein. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Krise des Multikulturalismus, die Schwierigkeiten, die sich damit verbanden, Queer-Politiken mit anderen radikalen sozialen Bewegungen zusammenzuführen, die sukzessive Vereinnahmung postfeministischer Positionen durch kommunitaristische Neoessentialismen sowie die obsessive Fixierung radikaldemokratischer Ansätze auf Fragen formaler Rechte markieren allesamt eine Phase der Stagnation subversiver Politiken sowie deren Absorption in den Gravitationsbereich liberalen Denkens. Das ist das Ende der Politik der Repräsentation. Und der Niedergang der Repräsentation bedeutet zugleich das Ende der Sichtbarkeitsstrategie. Statt Sichtbarkeit sagen wir: Unwahrnehmbarkeit. Anstelle des Wahrnehmbar-, Erkennbar- und Identifizierbar-Seins setzt die gegenwärtige Migration eine neue Form von Politik sowie eine neue Formierung aktiver politischer Subjekte auf die Tagesordnung, deren Ziel nicht darin besteht, ein politisches Subjekt zu werden und zu sein, sondern die sich weigern, überhaupt ein Subjekt zu werden: Sir Alfred Mehran weigerte sich, seinen ursprünglichen Namen zu verwenden, als ihm 1999 ein UNHCR-Pass angeboten wurde, der ihn für die Assimilationslogik der liberal-nationalen Administration identifizierbar machte. Statt auf eine Entscheidung über ihren Asylstatus zu warten, flüchten viele in Grenzlagern untergebrachte MigrantInnen aus den Lagern und tauchen in den informellen Netzwerken klandestiner Arbeit in den Metropolen unter. MigrantInnen, die an den nördlichen Küsten Afrikas auf die Überfahrt in schwimmenden Särgen warten, entscheiden sich für das Verbrennen ihrer Dokumente sowie für ein Leben, das sie de facto außerhalb jedweder Sichtbarkeitspolitik stellt. Währenddessen ist Sichtbarkeit im Zusammenhang von illegaler Migration ein Bestandteil der Technologien zur Überwachung von Migrationsströmen. Selbstverständlich werden MigrantInnen stärker, wenn sie Rechte erhalten und sichtbar werden, aber die Ansprüche von MigrantInnen und die Dynamiken der Migration erschöpfen sich nicht im Streben nach Sichtbarkeit und Rechten. Denn Sichtbarkeit wie Rechte wirken als Marker der Differenzierung, die eine deutliche und sichtbare Verbindung zwischen der Person und ihren Herkünften, zwischen dem Körper und einer Identität herstellen. Und genau dies wollen MigrantInnen nicht, die klandestin unterwegs sind. Sie wollen alle Welt werden, unwahrnehmbar werden. Sie versuchen, wie alle anderen zu werden, indem sie sich weigern, etwas zu sein und in die Logik der Grenzadministration integriert und aufgenommen zu werden. Migration ist der Moment, in dem es man vorzieht, zu sagen, ich möchte lieber nicht sein. Dies ist nicht nur ein Charakteristikum der gegenwärtigen Migration. Nur die Fixierung der Sozialwissenschaften (sowie des mit ihnen einhergehenden öffentlichen Diskurses) auf ein begriffliches System, das sich an einer kommunitaristischen, humanistischen und identitären Politik orientiert, hindert uns daran, Migration als eines der größten Laboratorien der Subversion liberaler Politik zu verstehen. Selbst ein emblematischer Ort wie Ellis Island kann nicht als jener Melting Pot verstanden werden, aus dem die neue amerikanische BürgerIn hervorging; er bietet sich vielmehr als Raum dar, in dem endlose Geschichten virtueller Identitäten erfunden wurden, mit dem Ziel, die Berechtigung zu erwerben, das „goldene Tor“ ins amerikanische Land zu durchschreiten. Die ganze Vision eines Amerika, das alle, die aus dem Ausland kommen, willkommen heißt und offen ist für Differenz, gründet in einer unendlichen Serie von Erfindungen und Lügen. Wertvolle Lügen, nette Lügen, vitale Lügen, die die Geschichte Amerikas und die List der Migration miteinander verknüpfen. Migration ist die Schwester der Flüchtigkeit und Unbeständigkeit, sie schafft vermengte Formen, bringt Frauenmänner, neue Spezies hervor. Die List der Migration züchtet Tiere. Wie sollen diese in den sauberen und pedantischen Archiven der Administration registriert werden? Wie auf ein Schaf oder einen Raben reagieren, wenn dieses Tier den Mut hat, dem Blick der BürokratIn in einer Polizeidienststelle für Zuwanderungsangelegenheiten zu begegnen und Asyl zu beantragen? Wie all diese Grenztiere registrieren? Wie all diese papierlosen Subjekte verzeichnen? Wie all diese kontinuierlichen Werdensprozesse kodifizieren? Eine Unmöglichkeit. Selbstverständlich ist die Waffe der Unwahrnehmbarkeit, über die die Migration verfügt, nicht immer erfolgreich, sie ist eine Reise ohne Garantien, sie bringt Schmerzen, Leiden, Hunger, Verzweiflung, Tortur, ja selbst den Tod von tausenden Menschen mit sich, deren Boote in den Ozeanen der Erde versinken. Wir haben uns in diesem Text jedoch absichtlich dazu entschlossen, Migration nicht ein weiteres Mal als humanitären Skandal oder Abweichung von der evolutionistischen Menschenrechtsdoktrin der westlichen Moderne darzustellen. Ist es denn ein Zufall, dass die in den Medien und im öffentlichen Diskurs weit verbreiteten Bilder der Migration als monströser Tragödie die allgegenwärtigen humanitären Diskurse und die fremdenfeindlichen und rassistischen Politiken der erzwungenen Rückführung gleichermaßen nähren? Dieser Text versucht die Perspektive zu wechseln und sich der Migration im Sinne eines für die gegenwärtige soziale Transformation konstitutiven Moments zu nähern, eines Moments, das vorrangig durch Kooperation und Solidarität, durch die Inanspruchnahme weitläufiger Netzwerke und Ressourcen sowie durch ein gemeinsames, geteiltes Wissen und durch kollektive Antizipation aufrechterhalten wird. Dieses Verständnis von Migration setzt die Frage der BürgerInnenschaft direkt auf die Tagesordnung eines postnationalen Gemeinwesens (denken wir an die drei unterschiedlichen Forderungen von Migrationsbewegungen, die mit einer Ausweitung der traditionellen Konzeptualisierung von BürgerInnenschaft verknüpft sind: kulturelle BürgerInnenschaft, flexible BürgerInnenschaft und universelle BürgerInnenschaft). Der Niedergang der Strategie der Sichtbarkeit markiert einen Wendepunkt bezüglich der Art und Weise, wie wir Politik verstehen. Auf welche Weise eröffnet Migration Möglichkeiten, die uns das Ende der gegenwärtigen Formen von Souveränität neu zu denken erlauben? Die Politik der Repräsentation und ihre subversiven Reartikulationen gehören zum Inventar der historischen Verwirklichung einer demokratischen sozialen Organisationsform. Ihr Kernprinzip ist die nationale Souveränität, also die ideale Entsprechung und Deckungsgleichheit von „Volk“ und Territorium. Die nationale Souveränität versucht diese Übereinstimmung in zwei aufeinander folgenden Schritten zu etablieren: Erstens teilt sie die Menschen eines Territoriums auf und ordnet sie mittels der Signifikationsverfahren der Repräsentation in Gruppen und soziale Schichten ein; zweitens weist sie jeder dieser repräsentierten Gruppen Partizipationsrechte zu. Nationale Souveränität gründet hinsichtlich einer potenziell egalitären Verteilung von Rechten auf dem nationalen sozialen Kompromiss zwischen verschiedenen Gruppen und Schichten. Migration ist ein Teil dieses Prozesses, auch wenn sie in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich gehandhabt wurde. In den meisten europäischen Ländern wurde Migration beispielsweise in Form von Gastarbeit assimiliert, also einer zeitlich befristeten Beschäftigung, die eine Inklusion des Rechts auf Arbeit auf der nationalen Ebene vollzog, ohne dass sich damit eine umfassende Zuerkennung gleicher politischer Rechte verbunden hätte. In Ländern, welche Zuwanderung aktiv anregten, wurden MigrantInnen dem nationalen sozialen Kompromiss einverleibt, indem sie als integraler Bestandteil des nationalen Projekts im Allgemeinen akzeptiert wurden. In diesem Fall wurden ihnen nicht nur volle Arbeitsrechte, sondern auch politische Rechte gewährt. Aber trotz der scheinbar egalitären Behandlung der Migration in diesem zweiten Fall trafen MigrantInnen auf rassistische Dispositive, die in diesen Gesellschaften vorherrschten. Gleiche Rechte zu haben bedeutete nicht, über das gleiche symbolische Kapital im Rahmen der Politik der Repräsentation zu verfügen. Dass die Cultural Studies und der Postkolonialismus (die, wie wir bereits sagten, insbesondere mit der Kritik des Repräsentationsdefizits befasst sind) in erster Linie in jenen Ländern entstanden und erst später in Kontinentaleuropa auftauchten, ist ein Ergebnis dieser besonderen historischen Erfahrung, nämlich der Koexistenz von gleichen Rechten und rassistischer Behandlung, von formaler Gleichheit und de facto stattfindender ethnischer Segmentierung. Trotz all dieser Variationen im Umgang mit Migration bestand die Hauptfrage in der Zuerkennung von Rechten und repräsentationaler Sichtbarkeit gegenüber MigrantInnen. Die Forderung nach uneingeschränkten Rechten und umfassender Repräsentation, das so genannte Doppel-R-Axiom, ist Ergebnis des Drucks, den Migration auf die nationale Souveränität in Richtung einer Umgestaltung der funktionalen Beziehung zwischen Menschen und Territorium ausübt. Das konstitutive Außen der nationalen Souveränität ist keine weitere, extraterritoriale nationale Souveränität, sondern die Grenze als materielle Manifestation ihrer Beziehung. Das Doppel-R-Prinzip organisiert nicht nur das national-territoriale Korpus, sondern kennzeichnet in erster Linie die Beziehung zu außerhalb seiner verorteten Staaten und deren Bevölkerung. Auf diese Weise bestimmt das Doppel-R-Axiom zugleich die Matrix von positiven Rechten und Repräsentation innerhalb des nationalen Territoriums und die Nichtexistenz von Rechten und symbolischer Präsenz jenseits seiner Grenzen. Wenn wir über das Doppel-R-Axiom nachdenken, müssen wir immer berücksichtigen, dass es auch auf sein genaues Gegenteil verweist, nämlich auf das Fehlen von Rechten und Repräsentation. Daher wurde und wird der Ausnahmezustand in der modernen politischen Theorie als das entscheidende Moment der modernen nationalen Souveränität erachtet. Denn die nationale Souveränität trägt immer die Negierung ihrer selbst in sich. Sie kann ihre eigene Grundlage immer verneinen und sich von ihrer Funktion zurückziehen, die in der Zuweisung des Doppel-R-Axions besteht. Der Ausnahmezustand ist jener Moment, in dem die Grenzen im Inneren des nationalen Territoriums errichtet werden, wodurch jede scheinbare Gesellschaft von Gleichen in Stücke gerissen wird. Ungeachtet der Konzeptualisierung der Nation als egalitärer Einheit von Menschen bzw. „des Volkes“ ist die nationale Souveränität um eine innere Grenze herum organisiert, welche die ganze Gesellschaft von allem Anfang an durchzieht: die hierarchische Anordnung von Geschlechterverhältnissen sowie die Strukturierung des nationalen Imaginären entlang einer maskulinisierten und homophoben Ideologie. Die nationale Souveränität ist institutionalisierte Geschlechterunterdrückung. Es gibt keine Nation, die Frauen und Männern, Heterosexuellen und Queers gleiche Rechte und gleiche symbolische Macht garantiert. Die Macht der nationalen Souveränität besteht mithin, seit sie existiert, darin, Grenzen in ihrem eigenen Korpus errichten zu können; sie kann chirurgische Eingriffe an ihrem eigenen Körper, der Gesellschaft der Menschen, vornehmen. Während die nationale Souveränität der alles einschließende und alles verdauende Magen des Leviathan ist, entleert der Ausnahmezustand, Ergebnis der Errichtung von Grenzen innerhalb der eigenen Gesellschaft, den Magen und spuckt aus, was destabilisierend wirkt. Moderne nationale Souveränität ist das organisierende Handlungsprinzip, das Rechte gewährt und den Zugang zu symbolischer Macht sicherstellt, und gleichzeitig dessen Antithese, eine Macht, die Rechte systematisch für nichtig erklärt und Repräsentation beschneidet. Bis hierher haben wir gesehen, wie Grenzen unter dem Druck von Migration die veränderlichen Gesichter und Entwicklungen der Souveränität hervortreten lassen. Nun wollen wir dieselbe Sache unter einer anderen Perspektive erhellen: jener der Massen in Bewegung. Wie erhalten Grenzen, als integrale Bestandteile nationaler Souveränität, spezifische Formen der Kontrolle von Migrationsbewegungen aufrecht? Historisch war die systematische Kontrolle der Arbeitskraftmobilität eine Reaktion auf die Flucht der Massen aus ihrer Versklavung und vertraglichen Verdingung an Berufsstände (Zünfte, Gilden etc.). Die Einführung der Lohnarbeit stellt den Versuch dar, die Freiheit der vagabundierenden Massen in produktive, nutzbare und ausbeutbare Arbeitskraft zu übersetzen. Die Freiheit zur Wahl und zum Wechsel der ArbeitgeberIn ist keine falsche oder ideologische Freiheit, wie klassische Arbeiterklasse-MarxistInnen nahe legen, sondern vielmehr ein historischer Kompromiss, der darauf abzielt, die neu freigesetzte, desorganisierte und umherschweifende Arbeitskraft in ein neues Produktivitätsregime einzugliedern. Tatsächlich ist die Lohnarbeit von Anfang an eher ein Prinzip, das der Ordnung des Freiheitsüberschusses der ArbeiterInnen dient, denn ein bloßer Unterdrückungsmechanismus. Erst später, mit dem Auftauchen und der globalen Ausweitung kapitalistischer Produktion, wird die Lohnarbeit allmählich erneut zur repressiven Einschränkung der potenziellen Freiheit von ArbeiterInnen. Die fordistische Lohnarbeit verwandelt die Freiheit der ArbeiterInnen zur Mobilität in einen festen und stabilen Arbeitskräftemarkt. Der Fordismus verwandelte die verheißungsvolle Kraft der Bewegungsfreiheit in eine wettbewerbsmäßig organisierte, aufsteigende soziale Mobilität. Disziplinierungsinstitutionen bereiten Männer darauf vor, in den fordistisch organisierten Arbeitsmarkt einzutreten, und binden Frauen an den sozial getilgten und symbolisch entwerteten Reproduktionsbereich. Die Einverleibung der Spaltung zwischen produktiven und reproduktiven Feldern ins fordistische Regime stabilisierte die der nationalen Souveränität dienliche hierarchisch-patriarchale Ordnung der Geschlechterverhältnisse. Der Neoliberalismus und die biopolitische Wende führten zum Zusammenbruch der nationalen Souveränität und des fordistischen Regimes. Einerseits vollzog das globale Kapital seinen eigenen Exodus aus der nationalen Regulierung; andererseits intensiviert die gegenwärtige grenzüberschreitende Arbeitsmobilität den existierenden Druck auf nationale Grenzen. Der Neoliberalismus führte die virtuelle Ordnung globaler Märkte ein und unterminierte unwiderruflich das Machtmonopol der nationalen souveränen Staaten. Parallel schleuste die Biopolitik eine deregulierte und verflüssigte Gouvernanz der Bevölkerung ins Herz des etablierten fordistischen Immobilitätsregimes ein. In ihrem Zusammenwirken trieben Neoliberalismus und Biopolitik die nationale Souveränität ihrem Ende entgegen. Die doppelte Dynamik des Transnationalismus und der Migration beschleunigten die bereits erwähnte innere Ambivalenz der nationalen Souveränität – sieht sich doch die nationale Souveränität zusehends versucht, ihr Recht auf Ausnahme in ihrem eigenen Körper auszuüben, indem sie immer mehr Grenzen inmitten der eigenen Gesellschaft errichtet: wuchernde Lager, Guantanamo, Gated Communities, Banlieues, industrieller Gefängniskomplex, Favelas etc. All dies jedoch bildet nur den nackten Körper des neu entstehenden Souveräns. Wir stehen am Anfang einer Phase, in der Neoliberalismus und Biopolitik ihre Aufgabe der Dezentralisierung nationaler Souveränität erfüllt haben und in eine Periode eintreten, in der sie sich selbst außer Kraft zu setzen beginnen. Eine neue große Transformation der Gegenwart vollzieht sich, eine Transformation, welche das Nachkriegsmodell der nationalen Souveränität ebenso wie den Neoliberalismus und die Biopolitik der achtziger und neunziger Jahre hinter sich lässt und uns zu einer postnationalen und postliberalen Formierung von Souveränität führt. Unter den aufkommenden postliberalen Bedingungen wird die Arbeit mobil und MigrantInnen werden Tiere, die ihre subjektiven Fluchtlinien aus den rigiden und ausbeuterischen Akkumulationsregimes der Gegenwart ausdrücken. Trug die Biopolitik auch dazu bei, die Bewegungsfreiheit in Konfrontation mit fordistischen nationalen Kontrollregimen erneut anzuregen, so hat sie langsam aber sicher damit begonnen, ein globales System der Unterdrückung zu stärken, das die frei gewordenen Migrationsströme kontrolliert und die Autonomie der Migration unterbindet. In diesem Text haben wir versucht, die nomadische Philosophie von Deleuze und Guattari als Ausgangspunkt für die Überwindung der Begrenzungen des biopolitischen Verständnisses von Migration zu verstehen. Deleuze und Guattari bieten Konzepte an, die die heilige Dualität der gegenwärtigen Migrationstheorie erschüttern und somit herausfordern: das ökonomistische Denken der neuen Mobilitätsstudien, das den Humanitarismen des kommunitären Denkens wie auch der Flüchtlingsstudien gegenübersteht. Das Konzept des Werdens kann uns dabei unterstützen, den liberalen Diskurs der neuen MigrantIn als nützliche und anpassungsfähige Arbeitskraft ebenso zu überwinden wie die Opferlogik, die im paternalistischen Interventionismus der NGOs vorherrscht. In der Perspektive einer Theorie der Autonomie der Migration, inspiriert durch die Philosophie von Deleuze und Guattari, ist Migration die paradigmatische Antriebskraft einer neuen postliberalen Souveränität. Dies jedoch ist zugleich der schlimmste Albtraum des neu auftauchenden Souveräns, dessen neue Kleider in den Sweatshops dieser Erde hergestellt werden. Die in Bewegung befindlichen Meuten mobiler ArbeiterInnen, die in schwimmenden Särgen von Kontinent zu Kontinent übersetzen, schaffen unzählige neue, unbenannte, ungezügelte und nicht identifizierte Subjektivitäten. Menschen agieren gemeinsam und machen Welt, ohne ihren Allianzen und Existenzbedingungen irgendwelche bleibenden Namen zu geben. Ohne jemals darauf abzuzielen, kommt diese Mannigfaltigkeit von Subjektivitäten einer Unzweideutigkeit gleich. Sie ist ein Moment der Ausübung sozialer Kontrolle von unten, wo soziale Veränderung ohne Subjekt auskommt, wo neue, schwer zu fassende historische AkteurInnen die Welt der Unwahrnehmbarkeit bewohnen und den beharrlichen und unersättlichen Überschuss einer Sozialität in Bewegung hervorbringen, eine neue Welt im Herzen der alten: die Welt 2. Die Welt 2 ist keine Einlösung oder Erlösung dieses Überschusses an Sozialität, in Form der Errichtung einer neuen totalisierenden und messianischen Version einer besseren demokratischen Polis, sondern sie begründet den Exodus aus der Polis – die Erste Transnationale? Wir danken Niamh Stephenson für ihre aufschlussreichen Kommentare und ihre Drei-Wörter-Gabe, Jim Clifford für all jene Ideen in diesem Text, die unseren inspirierenden Diskussionen in Santa Cruz entspringen, Efthimia Panagiotidis für den Gedankenaustausch zu unserer gemeinsamen Feldarbeit und Brigitta Kuster für ihre Anregungen zu Dokumentarfilmen über Migration. Ein Teil der hier präsentierten empirischen und theoretischen Forschung wurde von der Alexander von Humboldt Stiftung und von der deutschen Kulturstiftung des Bundes finanziert (Forschungsprojekt „Transit Migration“). Die in diesem Text diskutierten Ideen haben durch die Debatten im Theorie- und Grenzaktivismusnetzwerk Frassanito viele Bereicherungen erfahren.
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