Übersetzt von Tom Waibel
Wir können nicht angeben, wer das erste Opfer des Terrors in Guatemala war, seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts haben aufeinander folgende Wellen des Terrors Plätze, Straßen und Wohnungen tausender GuatemaltekInnen mit Blut beschmiert. Verschiedene politische Ereignisse haben es der Bevölkerung erlaubt, Aussichten auf ein Ende dieser Nacht des Terrors zu hegen – der Frühling des Oktobers, die Aufstandsperiode der 1960er und 1980er und die Unterzeichnung der Friedensübereinkünfte 1996 waren drei Versuche, ein besseres soziales Zusammenleben zu erlangen; soziale Anstrengungen, die nicht ausgereicht haben, um angeben zu können, wer das letzte Opfer der Gewalt sein wird, doch die Wahrheit hat allmählich zu keimen begonnen.
Das vergangene Jahrhundert war von Eroberungen sozialer Art gekennzeichnet, die den transnationalen Konzernen und der Oligarchie mit Feuer und Blut entrissen wurden: Die Modernisierung des Landes, seine Demokratisierungsversuche, die Freiheit von Meinung und Presse, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen, das Arbeitsrecht und das Recht auf Versammlung, Zusammenschluss und Teilnahme am politischen und administrativen Leben, die Sozialversicherung und die Autonomie der Bezirke und der staatlichen Universität haben die erste Hälfte des Jahrhunderts geprägt. Die Anerkennung der Multikulturalität, die Menschenrechte, der Aufbau von formalen demokratischen Strukturen und der Kampf um die Entmilitarisierung der Machtstrukturen haben den Kalten Krieg in seiner letzten heißen Phase gegen Ende des 20. Jahrhunderts begleitet.
Nach dem Abschluss einer Normalschule in der Hauptstadt der Republik entscheide ich mich 1991, an der Universität San Carlos[1] Archäologie zu studieren, mit der Absicht, die notwendigen Kenntnisse zu erwerben, um den Glanz der antiken Maya-Zivilisation durch die Erforschung ihrer architektonischen Spuren wiederzuentdecken. 1995 beteilige ich mich an einer der Gruppen für forensische Anthropologie, die mit ähnlichen Zielen Ausgrabungen an Orten vornehmen, an denen Massaker verübt wurden, die Knochenreste und Materialien aus der Erde holen und Testimonios[2] von Opfern und Überlebenden aufzeichnen. Eine Arbeit, die derjenigen, für die ich ausgebildet wurde, sehr fremd ist. Während meiner Kindheit war ich Zeuge und Opfer des Prozesses der „Gewalt“, den man im Land erlebte, etliche Staatsstreiche und Ausgangssperren begleiteten meine Grundschulzeit. Manchmal verhinderten militärische Operationen Ferienpläne oder Reisen ins Landesinnere, es war undenkbar, an bestimmte Orte zu gelangen, aber dennoch schien alles fremd, entfernt, man sprach nicht davon oder man sprach mit leiser Stimme, im Vertrauen. Eine vielgeliebte Cousine verschwand aus dem familiären Umfeld ohne zusammenhängende Erklärung, Jahre später kam sie zurück und erwähnte, dass sie sich in Mexiko niedergelassen habe; ohne weitere Details erklärte sie mir, dass ihre Entfernung von der Familie „notwendig“ gewesen war, dass ihr Kompromiss mit „der Sache des Volkes“ sie dazu gezwungen hatte, sich zu verstecken und später in jenes Bruderland zu flüchten. Wenig oder nichts wurde offen über den Krieg gesagt, über die Kämpfe, das Verschwinden, die Folterungen, die außergesetzlichen Hinrichtungen und Massaker, die sich Tag für Tag ereigneten und von denen ich Jahre später Beweise sammeln würde. Wir waren alle zum Schweigen gebrachte ZeugInnen, viele von uns waren in irgendeiner Weise KomplizInnen der Straflosigkeit, die bis zum heutigen Tag währt.
Meine erste Erfahrung auf dem Land war unheilvoll: Begriffe, theoretische Elemente und Ratschläge derer, die mir mit größerer Erfahrung rieten, wie ich mich zu verhalten habe und was zu tun sei, stießen mit einem grausamen Kontext zusammen; weder Ratschläge oder Empfehlungen noch Texte halfen mir, die Rohheit der Testimonios zu ertragen, die wir täglich entgegennahmen. Obwohl meine besondere Aufgabe anfangs nicht darin bestand, „Testimonios zu sammeln“, bezog der Kontext alle mit ein: Dutzende Personen um die Massengräber[3] herum beobachteten schweigend den Fortschritt der Ausgrabung, die aus dem Erdreich die Körper ihrer Familienangehörigen, Nachbarn, Väter, Mütter oder Geschwister, Kinder, Freunde, nahen oder entfernten Verwandten sowie etwas von der Wahrheit zurückerstatten sollte, die ihnen für lange Zeit verweigert worden war und die damals aufzublühen begann. Die Kommission für historische Aufklärung (CEH) stellt fest: „Während ihrer Arbeit auf dem Land erhielt die CEH Testimonios, die es ihr ermöglichten, 626 Massaker zu dokumentieren, die von der Staatsgewalt verübt wurden, vor allem vom Heer, das in vielen Fällen von paramilitärischen Strukturen wie den PAC [Patrouillen zur zivilen Selbstverteidigung] und den militärischen Bevollmächtigten unterstützt wurde.“[4] Die Mehrheit der Todesopfer dieser Massaker und diejenigen, die in ihrer Folge starben, wurden in klandestinen, illegalen Gräbern verscharrt, die besondere Orte in der Kartographie des Gedächtnisses markieren: Es sind geheime Räume, von denen man sagt, dass die Toten dort „keinen Frieden haben“. Jeder Versuch, diese Kartographie zu entziffern, verweist uns auf den sozialen Charakter des Gedächtnisses: „Das Gedächtnis lässt sich als eine in die soziale Tätigkeit eingeschriebene symbolische Repräsentation der Vergangenheit begreifen, als ein Bündel von Praktiken und Interventionen; d. h. um zu verstehen, wie das Gedächtnis in der Herausbildung sozialer Beziehungen für Identitäten konstitutiv wird, muss man deren praktische Gebräuche erweitern und fragen, wie die Wahrnehmungsstruktur Politiken bestimmt und einzelne Situationen erklärt.“[5]
Die von Überlebenden angebotenen Hinweise, die von NachbarInnen gegebenen Testimonios und die systematische Arbeit der Organisationen von Familienangehörigen der Verschwundenen, von Witwen und Waisen, Menschenrechtsorganisationen und spezialisierten Gruppen haben es bis jetzt ermöglicht, die Leichen aus dutzenden klandestinen Gräbern zu exhumieren, von denen viele mit „klandestinen“ Blumen geschmückt sind, die symbolisch bewahrt wurden – jeder Ort unmerklich gekennzeichnet, jeder Ort innig und im Geheimen erinnert. Trotz der gesammelten Erfahrung von Instanzen, die sich um die Durchführung von Exhumierungen bemühen, von Organisationen für psychologische Betreuung und von Kirchen, ist die Aufgabe langsam und traumatisch, und wir sind sehr weit davon entfernt, den letzten Spatenstich zu machen. Immer besteht die Hoffnung, die Gesamtheit der Körper der Ermordeten und Verschleppten zu finden, bevor die Exhumierungsarbeit an jedem Ort formell beendet wird. Darum nehmen die BewohnerInnen freiwillig und ohne Rücksicht auf Glauben oder Geschlecht daran teil, durchkämmen die Gegend, erinnern sich, suchen in ihrem Kopf nach Details, sehen schweigend zu, erinnern sich an die Opfer, schließen ihre Augen und versuchen geistig zu rekonstruieren, was passiert ist – der Terror kehrt zurück. Der Exhumierungsprozess erfordert es, nach dieser dunklen Vergangenheit zu fragen, den Tod zu erinnern: Welche Kleidung hatte er/sie an? Wie groß war er/sie? Wie alt? Was ist passiert? Wie viele Schläge haben sie bekommen? Wie viele Machetenhiebe? Wo waren Sie selbst? – Das sind einige der Fragen, die die Erinnerung der Leute an die Geschichte aufwühlen. Welchen Sinn hat es, diese Geschichte aufzuwühlen? Welchen Sinn, die Wunden aufzureißen? Für viele ist es eine Anerkennung ihrer Vergangenheit, für andere bedeutet es, den Toten „Genüge zu tun“, Zeremonien abzuhalten, Riten zu feiern, Gerechtigkeit zu suchen, die Seele zu heilen, anzuklagen.
Den Toten Genüge tun
Unter den Gemeinschaften mit Maya-Herkunft hat der Tod besondere Bedeutungen: Es besteht eine fortwährende Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten, die Letzteren verlieren niemals die Beziehung zu „ihren Leuten“, und die Überlebenden gedenken der Toten durch besondere Riten; Dialoge in Träumen erhalten die Kommunikation zwischen den einen und den anderen aufrecht, die Toten stellen Bitten, die Lebenden bieten Rituale an, die Vorfahren behüten die Gemeinschaften, gewähren ihnen Schutz. Darum wurden die Exhumierungen vielfach als Antwort auf die Forderung der Toten nach einem würdigen Ort, um „auszuruhen“, nach einem rechtmäßigen „Friedhof“ aufgefasst. Manches Grab ist aufgrund eines Testimonios gefunden worden, dem zufolge die Toten in einer besonderen Gegend umherirren gesehen wurden, und alle fordern einstimmig, sie an einen Ort bringen zu können, an dem sie uneingeschränkt und offen besucht werden können, um alle Arten von Zeremonien abzuhalten.
Zu den Opfern zählen wir gewöhnlich die Personen, die während einer Gewalttat gestorben sind, im Fall von Guatemala bezieht man sich meist auf Opfer von außergerichtlichen Hinrichtungen, Folterungen, Entführungen oder Massakern. Selten bezieht man sich auf die Überlebenden dieser Ereignisse, auf Männer und Frauen, Väter und Mütter, die auf der Suche nach ihren entführten Söhnen und Töchtern erfolglos Krankenhäuser, Kommissariate, Gefängnisse, Militärkasernen und versteckte Gräber absuchen. Die, die zu Witwen und Waisen geworden sind, werden nicht erwähnt, ebenso wenig wie diejenigen, die um den Tod „herumgekommen“ sind und vor den Repressionskräften in die Berge geflüchtet sind, die den Verfolgungen in Flussbetten und Schluchten entronnen sind, die dem Regen, der Kälte und dem Hunger ausgesetzt ihre Leben verteidigt haben. Tausende Personen kamen angeschossen in ihre Dörfer zurück, nachdem sie versucht hatten, die Reste des Todes wegzuschaffen; viele versuchen, die Bilder des Terrors auszulöschen, sich der Erinnerung zu entziehen; sie, die Überlebenden, sind ebenfalls Opfer. Nach den anthropologischen Befunden begleiten wir auch einfache und respektvolle Begräbnisse der gefundenen Reste, begleiten die aufgerüttelten Gemeinschaften, die nun ZeugInnen von Akten der Wahrheit sein wollen, von anständigen, gerechten und würdigen Begräbnissen; Gefühlsmischungen am Rande geschmückter Gräber, Monumente der Wahrheit, des Glaubens, des Durchhaltevermögens der Lebenden und Toten. Unter den Opfern dürfen wir jene nicht vergessen, die den Terror erlebt haben und ihn verschweigen mussten, die lebten und ihn verborgen haben, die litten und ihre Geschichte verleugnet haben.
Auf perverse Weise fuhren die Täter im Lauf der Zeit fort, die Bevölkerungen zu Opfern zu machen und sie zu kriminalisieren, indem sie die Tatsachen verleugneten und die Barbarei rechtfertigten. Von einer Exhumierung zur nächsten kam die Wahrheit ans Licht, die Sprecher der amtierenden Regierungen versuchten zuerst die Wahrheit zu bestreiten, indem sie sagten, dass die Hinrichtungen nicht stattgefunden hätten; als ihnen die (exhumierten) Körper vorgewiesen wurden, behaupteten sie, das wären Guerrilleros, die im Kampf umgekommen seien, als Zeichen von Fesselungen und Folterspuren nachgewiesen wurden, argumentierten sie, dass es sich um am Konflikt Beteiligte handle, als Körper von schwangeren Frauen und Kindern exhumiert wurden und die Intervention des Heeres nachgewiesen wurde, schwiegen sie. Etwas ist erreicht worden, den Überlebenden, die als Lügner, Manipulateure und Spinner verleumdet wurden, ist in einem schmerzhaften Prozess ein Teil ihrer Vergangenheit zurückgegeben worden.
Ich habe niemals die Familienangehörigen sagen oder andeuten gehört, dass die Exhumierungen unnötig seien, wohl aber die Mörder, Staatsbeamten, Heeresmitglieder, militärischen Bevollmächtigten, Mitglieder der Patrouillen für zivile Verteidigung und die religiösen Anführer nordamerikanischer Sekten. Kein Akteur hatte so viel Angst vor der Wahrheit wie die Vollstrecker und ihre Befehlshaber. Doch die Wahrheit brach sich eine Bahn, ausgehend von den ersten Testimonios häuften sich hunderte inmitten von Einschüchterungen, Drohungen, Spott und negativen Kommentaren, die sich nicht nur gegen die Bevölkerungen richteten, sondern auch gegen Organisationen, die sich dem Thema widmeten. Forensische ExpertInnen, JournalistInnen, BegleiterInnen und OrganisatorInnen wurden durch anonyme Briefe, Telefonanrufe, E-Mails, öffentliche Erklärungen von Befehlshabern des Heeres individuell oder kollektiv bedroht, doch die Wahrheit brach sich eine Bahn, sie war stärker.
Obwohl immer gefordert wurde, dass die Bräuche respektiert werden, dass fortwährend Zeiten für Trauer, Zeremonien und den „Schmerz“ eingehalten werden, trifft es zu, dass es nicht jeder Exhumierungsprozess erlaubt, vollständig die notwendigen Schritte zu beachten; manchmal brauchte es viele Tage, um mit den Personen in Beziehung zu treten, bis sie bereit waren, ihre Geschichte zu erzählen. Erstens ist es kein alltägliches Ereignis für die Gemeinschaft, zweitens bestehen Beschränkungen von Zeit, Mitteln und Begleitung, und die Leute wissen das, es sind Verpflichtungen, die auf sich genommen werden, um ein wenig Ruhe zu erlangen. Daher bringt das zur Identifikation der Opfer und zur Rekonstruktion der Vorgänge aufgenommene Testimonio Belastungen mit sich, Verunsicherungen, etwas Ungewissheit, aber der Augenblick des Sprechens ereignet sich, und das ist der Augenblick, um die Wahrheit zu sagen, ein Augenblick, an dem man sich bemüht, alles zu sagen: Eigene Erinnerungen und fremde, Zweifel und Gewissheiten, Bilder und Worte, die, seit sich die Vorfälle ereigneten, verweigert wurden, erstehen von neuem mit Klarheit.
Etwas, das ich niemals gedacht habe, als ich mich an dieser Arbeit beteiligte, war die Tatsache, dass eine Exhumierung auf so starke Weise zur Wiedererlangung der Würde der Opfer beiträgt: durch die Rückgabe des Werts des Wortes, das offiziell nicht anerkannt worden war, durch die Rückgabe an die ZeugInnen des Offenbaren, dass etwas so Grausames niemals ein Spiel der Vorstellungskraft gewesen war, durch den Erhalt eines „sicheren“ Ortes, an dem an besonderen Tagen mit den Toten gefeiert werden kann. Das entschädigt für vieles, das ermöglicht es uns, auf andere Art hören zu lernen, „was die Leute sagen“. Das soziale Gedächtnis ist ein Netz, ob individuelle Erfahrung oder nicht, das Testimonio hat viele Werte, es gibt Rechenschaft über die Vergangenheit: Im Falle der Opfer, die Massaker überlebt haben, erlaubt es die bloße Tatsache der Offenlegung der Ereignisse, dass eine Person sich gestärkt fühlt und die Würde, die man ihr zu nehmen versuchte, wiedergewinnt. Das veröffentlichte Testimonio rührt auch an die zwischenmenschliche Solidarität, macht auf das Unbekannte aufmerksam und gestattet es auch, ein Beispiel zu geben: Diejenigen, die so lange Zeit hindurch Schweigen wahrten, sehen in anderen Testimonios die Möglichkeit zu sprechen. Dadurch stärkt, ehrt und schmiedet das individuelle Testimonio Solidarität; das gemeinschaftliche Testimonio stärkt, ehrt und schmiedet Solidaritäten.
Die Rückgabe des Wortes
Die unterschiedlichen Bemühungen, individuelle oder kollektive Testimonios zu unterstützen und zu bekräftigen, sind nicht antagonistisch. John Beverley bemerkt über die Politiken der Wahrheit: „Einer der wichtigsten Aspekte im Friedensprozess in Guatemala, ebenso wie in anderen Ländern, die ähnliche Erfahrungen von Genozid durchgemacht haben, ist die Arbeit der forensischen Anthropologie, die den Genozid rekonstruiert, der von Militärs und Paramilitärs während des aufstandsbekämpfenden Krieges verursacht worden ist. Was Menchú in ihrem Testimonio macht und was ein/e forensische/r WissenschafterIn in der Rekonstruktion einer Vergangenheit, die von der Gewalt der Macht ausgelöscht wurde, macht, stellt weder eine Alternative noch einen Antagonismus dar, sondern es handelt sich um einander ergänzende Unternehmungen, die während ihres eigenen Entwicklungsprozesses Formen von Dialog, Kooperation und Koalition zwischen Intellektuellen, WissenschafterInnen, LehrerInnen, KünstlerInnen und sozialen Bewegungen von Subalternen schaffen, die frühere Grenzen von Klasse, Geschlecht und Ethnie überschreiten.“[6]
Es ist nicht leicht, Grenzen zu überschreiten und die Macht zu sprechen sowie die Fähigkeit zu hören zu entwickeln. Unter uns, die wir uns in Menschenrechtsorganisationen betätigen und an Aktivitäten beteiligen, die auf eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gerichtet sind, blieb auch eine Art des Schweigens bestehen. Es war schwer für uns, „darüber“ zu sprechen, manchmal lehnen wir es ab, uns an diesen Teil des Terrors, den auch wir erleben, zu erinnern. Unsere Arbeit war kein Thema für angenehme Unterhaltungen, es war nichts, wovon man im Überschwang oder in den Erholungspausen gesprochen hätte, es war kein gewöhnliches Gesprächsthema mit der Familie; als die Tochter einer Arbeitskollegin, ein achtjähriges Mädchen, in der Schule gefragt wurde: „Was macht deine Mutter?“, antwortete sie: „Sie sucht Sachen, vergrabene Sachen, Sachen, die die Leute verloren haben.“ Aber dennoch, die Begegnung mit den Toten unter den „Sachen, die die Leute verloren haben“, ist ein Prozess, der Gedächtnis hervorbringt und zwischen verschiedenen sozialen AkteurInnen Formen von Kooperation ausbildet, die den Wert des Wortes zurückerstatten, indem sie zum Schweigen gebrachte Wahrheiten vernehmbar machen.
Eine erstaunliche Tatsache bei der Aufzeichnung von Testimonios ist für mich die Bestimmtheit und Flüssigkeit, mit der sich die Opfer ausdrücken. Wenn das Schweigen einmal gebrochen war, schien es leicht, das Vorgefallene Schritt für Schritt zu schildern; am auffälligsten war die Sorge, verstanden zu werden, die genauen Orte anzugeben und präzise Erklärungen abzugeben. Im Laufe der Zeit bestand die technische Arbeit fast nur mehr darin, das zu bestätigen, was die Testimonios angaben, die AugenzeugInnen zeigten mit Sicherheit jene Elemente an, die im Gelände oder im Labor in der Mehrzahl der Fälle bestätigt wurden. Es ist die Art der offenbar ohne Beklemmung erfolgenden Nacherzählung der Ereignisse, die uns von der Vergangenheit her Schrecken einjagen – diejenigen, die den Tod aus der Nähe gesehen haben, beschreiben ihn vor Ort mit Nüchternheit, sie sind mehr darüber besorgt, dass keiner ihrer Toten unexhumiert bleibt, als über die Möglichkeit einer Wiederholung des Vergangenen.
Es war nicht möglich, die Ausgrabung von 100 % aller klandestinen Gräber zu gewährleisten, „praktische Kriterien“ haben das verhindert, manchmal wurden Prioritäten aufgrund des Ausmaßes der angezeigten Vorfälle gesetzt, aufgrund der Wichtigkeit des jeweiligen Falles, aufgrund von Kontexten und Umständen, in denen die Ereignisse erfolgten, der politischen Relevanz des Vorgefallenen, den technischen Möglichkeiten und den gesetzlichen Implikationen. An vielen klandestinen Friedhöfen konnten aus „technischen“ Gründen keine Exhumierungen vorgenommen werden, viele Tote fordern noch immer ihre Würde ein, die juridischen und politischen Prozesse haben es nicht erlaubt, „kulturelle“ Gründe anzuerkennen, um eine Exhumierung durchzuführen, denn die Mehrzahl der Fälle müsste ebenso zum Teil eines Forschungsprozesses wie eines „Strafprozesses“ werden, und das erfordert lästige bürokratische Abläufe, die letztlich die Gemeinschaften in ihrer ProtagonistInnenrolle in einem für sie so transzendenten Prozess einschränkt.
Von den bislang thematisierten Massakern haben es sich zwei Projekte zur Aufgabe gemacht, an der Rekonstruktion eines Teils der Vergangenheit des Terrors in Guatemala zu arbeiten, und keines der beiden konnte als „wahrhaftig“ bezeichnet werden. In beiden wurden Informationen, Erzählungen, Testimonios aufgenommen und aufgearbeitet, wurden offizielle und inoffizielle Quellen erforscht, wurden die „AkteurInnen“ des so genannten „bewaffneten inneren Konflikts“ interviewt, der hunderttausende Leben gekostet hat und bezüglich dessen man sich noch immer davor hütet, von einem „Krieg“ zu sprechen (aber worin besteht der Unterschied?). Beide Projekte haben ihre wertvollen Bemühungen systematisiert und beide haben Vorschläge, Empfehlungen und Forderungen formuliert, es wurden feierliche Akte für die Toten gesetzt und ein wichtiger Raum eröffnet, um über die Vergangenheit zu sprechen. Die Empfehlungen genügten nicht, um die Repressionsmechanismen zum Verschwinden zu bringen, im Gegenteil, sie wurden ausgefeilter: Im Verborgenen verhindern sie noch immer, dass es möglich wird, die ganze Wahrheit zu sagen, eine ihrer Formen, die Vergangenheit zu leugnen, besteht darin, den neuen Generationen die Möglichkeit zu versagen, die Geschichte kennen zu lernen. Die Maya-Gemeinschaften müssen wie in der Vergangenheit von neuem auf die mündliche Überlieferung zurückgreifen, die ihren Platz von einer Generation zur anderen einnehmen wird, von den Eltern zu den Kindern, um die Bewahrung des sozialen Gedächtnisses zu ermöglichen. Die Mechanismen des Terrors bleiben erhalten und dauern auf unterschiedliche Arten fort, und daher bleiben die Erinnerungen, auch wenn sie sich in einigen Gemeinschaften äußern und manifestieren konnten, in vielen anderen verborgen, klandestin, begraben und warten auf ihren Augenblick …
Der Name des Autors dieses
Materials wurde auf Bitte des Informanten durch ein Pseudonym ersetzt. Zwei
Gründe motivieren diese Entscheidung: Der erste besteht in der Erwägung, dass
man über diese Themen noch immer nicht in völliger Sicherheit sprechen kann,
der zweite in der Tatsache, dass dieses Testimonio als kollektives Eigentum
angesehen wird.
[1] Einzige staatliche und autonome Universität des Landes, führend in der Hochschulausbildung.
[2] Testimonio, wörtl: Zeugnis, Zeugenaussage. Da der Begriff im Laufe des 20. Jahrhunderts sich in Lateinamerika eng mit einer meist von Befreiungsbewegungen inspirierten narrativen Form verknüpft, einer Literatur der ZeugInnenschaft, die dem nahe kommt, was Ranajit Guha „die leise Stimme der Geschichte“ nennt, geben wir im gesamten Text den Begriff im spanischen Original wieder (Anm. d. Übers.).
[3] Die Opfer der Massaker wurden wie Getreide in improvisierten Massengräbern verscharrt, die manchmal von ihnen selbst vor ihrer Hinrichtung gegraben worden waren. Es wurden auch natürliche Gegebenheiten wie Höhlen oder Flussbette benützt, deren absichtlicher Zerfall herbeigeführt wurde, um die Körper zu bedecken, Wasserstellen oder Latrinen, verlassene Straßenabschnitte und Baugruben wurden als Orte für Begräbnisse verwendet. In anderen Fällen ließen die Vollstrecker die Körper der Opfer auf der Erdoberfläche als „Todesbotschaften“ liegen, NachbarInnen und/oder Familienangehörige nahmen es auf sich, die Körper zu holen, um sie so zu beerdigen, wie sie es eben konnten. In allen Fällen werden die Orte, wo die Opfer begraben wurden, als „klandestine Friedhöfe“ angesehen.
[4] Comisión de Esclarecimiento Histórico (CEH), Guatemala: Memoria del Silencio 1995, Bd. 3, Kap. II, S. 715.
[5] Alon Cofiño und Peter Fritzsche, „Introduction: Noises of the Past“, in: Dies. (Hg.), The Work of Memory, Urbana: University of Illinois Press 2002, S. 1–19.
[6] John Beverley, Testimonio. On the Politics of Truth, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 6.