„Die Wirklichkeit geht immer zu
Lasten des Klägers.“
Jean-François Lyotard[1]
„Die Bezeugung ist in sich ein Prozess, der darin besteht, einem
Verlust ins Auge zu sehen […].“
Dori Laub[2]
Ich möchte die folgenden Überlegungen von der Spannung
zwischen den beiden oben zitierten Sätzen ausgehen lassen. Dies nicht allein
deshalb, weil diese Sätze ein erstes, vielleicht zentrales Paradox entfalten,
das sich mit Zeugenschaft verbinden kann – nämlich dass sie eine Wirklichkeit
zu manifestieren versucht, die sich auf einem Verlust errichtet. Zumindest
ebenso wichtig scheint mir, dass diese Sätze der Frage der Zeugenschaft,
jedenfalls für den europäischen Kontext (sicherlich nicht darauf begrenzt, aber
auch nicht in Bezug auf jeglichen Kontext verallgemeinerungsfähig), eine historisch-politische
Verortung geben: In beiden Fällen handelt es sich in einem eminenten Sinn um
„Sätze nach Auschwitz“[3];
um Sätze, die aus der Erfahrung und Auseinandersetzung mit der Bedingung geschrieben sind, in der sich
ein von „Auschwitz“ – all dem, was dieser Name benennt – Zeugnis gebendes
Sprechen wiederfindet und zugleich möglicherweise verliert. Dass eine Anklage
vorliegt, der es aufgebürdet ist, eine bestimmte Wirklichkeit zur Geltung zu
bringen, ist ein Teil dieser
Bedingung; ein anderer besteht darin,
dass die Bezeugung, die in erheblichem Maße daran mitwirken kann, diese
Wirklichkeit vorzubringen, ihrerseits nicht einfach einer gesättigten
Wirklichkeit, sondern zunächst einem Verlust ins Auge sieht. Die zitierten
Sätze dokumentieren somit einen Bruch, der kein beliebiger ist, der aber in
Bezug auf die Frage der Zeugenschaft weitreichende epistemische und politische
Konsequenzen hat: Es lässt sich nicht einfach über Zeugnisse sprechen wie über ein beliebiges Thema, und zwar
schon gar nicht in einem allgemeinen Sinn; sehr viel eher geht es darum, sich
zu ihnen zu verhalten, in ein spezifisches epistemisches, politisches, soziales
und sich über die eigene Situierung verständigendes Verhältnis mit ihnen
einzutreten.
Eben jene Zeugnisse, die von der Shoah, von der vielförmigen Gewalt der nazistischen Vernichtungspolitik sowie vom Leben und Sterben unter der Bedingung dieser Gewalt sprechen, sind es also auch, die meine Auseinandersetzung mit der Frage der Zeugenschaft in erster Linie situieren – und zwar in einem postnazistischen Kontext. Einem Kontext, in dem, nicht nur in den unmittelbar postnazistischen Ländern, sondern über diese Länder wie auch über Europa weit hinaus reichend, die Aussagen der ZeugInnen wie auch die Frage nach dem ungewissen Band, das die Rede der Überlebenden mit den Toten verbindet, nach wie vor durch Diskurse überlagert werden, die von ganz anderen Interessen bestimmt sind: vom feierlich-pompösen Tonfall staatlich inszenierter „Gedenkfeiern“ über die erneuten Orchestrierungen nationaler Unschuld oder Entsorgungen des Geschehenen ins „kulturelle Gedächtnis“ bis hin zu den diversen Bagatellisierungs- und Leugnungsnarrativen. Immer noch, und immer aufs Neue, hat in dieser Situation ein Wort Walter Benjamins Gültigkeit, das er wahrscheinlich um 1940, kurz vor seinem Suizid auf der Flucht vor den Nazis, niederschrieb: dass nämlich „auch die Toten […] vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein [werden]“[4]; und immer noch stellt sich die Aufgabe, herauszufinden, worin dieser Feind, auch wenn er vermeintlich unterlegen ist, vorläufig doch in mancherlei Hinsicht gesiegt hat.
Der Einsicht in diesen Tatbestand ist indessen kein generelles Interpretationsraster für sämtliche Kontexte zu entnehmen, in denen sich Praxen der Bezeugung sowie eine spezifische Reflexion dieser Praxen entwickelt haben. Als Beispiele seien hier nur die umfangreiche lateinamerikanische Testimonio-Literatur[5], die Rolle von Zeugnissen im Zusammenhang von „Wahrheitskommissionen“ (wie etwa im Argentinien der 1980er nach Ende der Militärherrschaft[6] oder in Südafrika nach dem Ende der Apartheid[7]) oder auch die Zeugnisse palästinensischer Flüchtlinge und Vertriebener insbesondere aus der Zeit der jüdisch-arabischen Konflikte 1947/48 sowie der israelischen Staatsgründung 1948[8] genannt.
Es wäre natürlich absurd, zu behaupten, dass es keinerlei Verbindungen dieser Kontexte zur Rolle der Zeugenschaft in der Auseinandersetzung mit der Shoah bzw. in explizit postnazistischen Zusammenhängen gibt. Im Gegenteil, solche Verbindungen und Verflechtungen sind – wenn sie auch nicht von vornherein in jedem einzelnen Fall vorausgesetzt werden können – zum Teil offenkundig, etwa auf der Ebene von Rechtsformen und -praktiken, die an die Nürnberger Prozesse anschließen. Noch deutlicher, und zugleich noch komplizierter, stellen sich diese Verflechtungen auf der Ebene arabisch-palästinensischer nakba-Erzählungen[9] dar, die sich mitunter – keineswegs systematisch, wie manche glauben machen wollen[10] – in eine direkte und feindselige „Konkurrenz“ zu jüdisch-israelischen Shoah-Narrativen setzen und eine Art Frontstellung der Zeugnisse produzieren, deren Ausläufer bis zur Shoah-Leugnung reichen können. Zugleich aber handelt sich bei nakba-Erzählungen um ein Sprechen, das in der israelischen Öffentlichkeit sowie im israelischen Schulsystem nahezu generell keinen Platz findet, dessen diskursiver Ort also nicht allein durch selbstgewählte Grenzlinien und Frontstellungen demarkiert ist – und zwar selbst dann, wenn es um das Sprechen von „anwesenden Abwesenden“[11] geht.
Der vorliegende Text wird keine Antworten auf die Fragen, die diese Zusammenhänge aufwerfen, vorschlagen können – mit schnell formulierten Gewissheiten ist ihrer Beantwortung wahrscheinlich auch am wenigsten gedient. Ich will diesen Fragen (ebenso wie anderen, wie etwa der Frage nach der „identitätsstiftenden“ Funktion von Wahrheitskommissionen, die in sogenannten Übergangsgesellschaften oft genug die Wiederherstellung „nationaler Einheit“ über die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen stellen) aber auch nicht ausweichen, sondern sie wenigstens in Erinnerung rufen. Es ist, so meine ich, diese Art von Fragen, die die politischen Einsätze dessen markiert, was in der Frage nach Zeugenschaft auf dem Spiel stehen könnte. Und sogleich führen uns diese Fragen auf ein zweites Paradox der Zeugenschaft, das in den folgenden Überlegungen wieder und wieder auftauchen wird: dass die Zeugenrede nämlich wohl kaum jemals einen „reinen“ oder „authentischen“ Bericht über das Vorgefallene artikuliert, sondern sich in einer stetigen Überlagerung durch bestehende diskursive Formationen sowie unter der Bedingung der Zuweisung bestimmter diskursiver Orte vollzieht.
Zeugnisse ohne Gericht?
Der klassische diskursive Ort der Zeugenrede ist das Gericht. Es kann daher nicht verwundern, wenn der eingangs angeführte Satz von Lyotard unmissverständlich auf eine Situation verweist, die die Existenz eines Gerichts impliziert, an das sich eine Klage adressieren lässt. Stellen wir diesen Satz in seinen Kontext:
„Kläger ist, wer behauptet, dass etwas vorliegt; er muss – mittels wohlgeformter Sätze und mit Verfahren zur Ermittlung der Existenz ihrer Referenten – den Beweis dafür antreten. Die Wirklichkeit geht immer zu Lasten des Klägers. Der Verteidiger braucht nur die Argumentation zu widerlegen und den Beweis mittels eines Gegenbeweises zu verwerfen. […] Die Verteidigung ist nihilistisch, die Anklage vertritt das Seiende. […] Unsere Art zu denken begreift die Wirklichkeit nicht als ein Gegebenes, sondern als Anlass zur Stellung des Antrages, dass die sie betreffenden Ermittlungsverfahren durchgeführt werden.“[12]
„Dass etwas vorliegt“, kann demnach nicht durch eine einfache Anzeige (entsprechend etwa dem im Deutschen gegebenen etymologischen Zusammenhang zwischen „zeigen“ und „bezeugen“), und auch nicht durch einen einfachen Bericht (entsprechend etwa dem französischen Sprachgebrauch, der das Wort „témoigner“ mitunter in die eher unspezifische Nähe eines „Berichtens“ rückt), zur Geltung gebracht werden. Die Geltung hat vielmehr ihre eigenen Konstitutionsbedingungen. Und sie konstituiert sich im Rahmen einer gegebenen institutionellen Form, die die Sätze durchformt, in denen eine Klage formuliert wird, und die – unter der Voraussetzung, dass diese Sätze hinreichend „wohlgeformt“ sind – bestimmte Ermittlungsverfahren in Bezug auf die „Wirklichkeit“ autorisiert. Die Verteidigung kann diese Prozedur, in der sich Autorisierung und Ermittlung ineinander verschränken, an verschiedenen Punkten durchkreuzen, ohne aber deshalb, außer unter den spezifischen Bedingungen einer Beweislastumkehr, jene unbewiesene „Wirklichkeit“, auf der (bzw. auf deren Geltung) sie beharrt, eigens untermauern zu müssen – es genügt bisweilen, dass sie die Form der Klageführung delegitimiert.
Es ist offensichtlich, dass die ZeugIn in diesem Setting mit der KlägerIn zunächst so wenig identifiziert werden kann wie mit irgendeiner anderen der genannten Instanzen: Sie wird aufgerufen, vor das Gericht zitiert (um möglichst Zitables zu äußern), dem von ihm produzierten Text gleichsam eingefügt und damit in das beschriebene Kräftefeld einbezogen. Die ZeugIn kann zunächst keinesfalls einfach mit der Klageführung vor Gericht identifiziert werden, auch wenn die Wirklichkeit, von der sie spricht, möglicherweise, auch in einem anderen Sinn, „zu ihren Lasten“ geht. Dies nicht nur deshalb, weil die Anklage selbst, nicht zuletzt angesichts der Anforderungen der gerichtlichen Prozeduren, ein mehr oder weniger ausgeprägtes Interesse daran entfalten kann, die „Wahrheit“ oder „Glaubwürdigkeit“ des Zeugnisses zu überprüfen. Dem Zeugnis kommt in diesem Vorgang noch eine andere Rolle zu, die ich hier in den Vordergrund stellen möchte und die sich in ihren Grundzügen bereits in einem durch Festus überlieferten Fragment aus einem verloren gegangenen Stück von Plautus formuliert findet. Dort tritt eine Figur mit den Worten auf: Nunc mihi licet quidvis loqui: nemo hic adest superstes („Nun ist es mir gestattet, alles zu sagen, was ich will; es ist kein Zeuge anwesend“).[13]
Unabhängig von jeder konkreten Zeugenaussage erscheint hier die schiere Anwesenheit von ZeugInnen (bzw. die schiere Möglichkeit der Widerrede und Gegenbehauptung, die sich mit dieser Anwesenheit verbindet) als Unterbrechung eines ungehemmten Diskurses, der seine Sätze auf eine „Wirklichkeit“ gründet, welche dem Beweiswert plumper Behauptungen anvertraut und somit komplexerer Wahrheitsprozeduren enthoben wird. Die Zeugenaussage lässt sich also nicht nur darauf hin befragen, welchen Wahrheitsprozeduren sie selbst unterzogen werden kann oder, in einem gegebenen Rahmen, unterzogen werden sollte. Sie besetzt auch einen strukturellen Ort, von dem her eine spezifische Bestreitung unzureichender Wahrheitsprozeduren hinsichtlich jenes Diskurses möglich wird, in den sie interveniert – eine Bestreitung, die sich im Gerichtssetting übrigens grundsätzlich auf alle autorisierten Instanzen der Wahrheitsproduktion beziehen kann.
Lyotard gibt dem Motiv einer ungehemmt veranschlagten „Wirklichkeit“, die der Bestreitung durch Zeugnisse enthoben wird, eine spezifische Wendung, wenn er schreibt:
„[…] das ‚perfekte Verbrechen‘ [bestünde] nicht in der Beseitigung des Opfers oder der Zeugen (das hieße weitere Verbrechen hinzufügen und die Schwierigkeit erhöhen, alle Spuren zu tilgen), sondern darin, die Zeugen zum Schweigen zu bringen, die Richter taub zu machen und die Zeugenaussage für unhaltbar (unsinnig) erklären zu lassen. Neutralisieren Sie den Sender, den Adressaten, die Bedeutung [sens] der Zeugenaussage; alles sieht dann so aus, als ob es keinen Referenten (keinen Schaden) gäbe.“[14]
Es ist möglich, dass die Abwesenheit von ZeugInnen selbst Verdacht erregt, dass also die in solcher Abwesenheit errichteten Wahrheitsprozeduren gerade aufgrund dieser Abwesenheit als unglaubwürdig erscheinen und infolgedessen andere Wahrheitsprozeduren herausfordern, wie etwa das Aufsuchen von Spuren eines Ereignisses. Unter diesem Gesichtspunkt kann daher die sprachliche Vernichtung der Zeugenaussage, der zerstörerische Angriff auf ihre Komponenten, als „perfektere“ Strategie erscheinen denn die physische Vernichtung der ZeugInnen. Selbst dort, wo kein Zweifel darüber bestehen kann, dass die physische Vernichtung einen Kerntatbestand des Ereignisses bildet – nämlich in den nazistischen Vernichtungsmaschinerien –, zeigt sich dieses Motiv der sprachlichen Vernichtung. Es tritt in dem Moment auf, in dem die Mörder ihre Opfer als mögliche ZeugInnen adressieren. Primo Levi stellt es an den Beginn seines Buches Die Untergegangenen und die Geretteten, indem er einen Zusammenhang zwischen der Ungläubigkeit der Öffentlichkeit angesichts des Ungeheuerlichkeit dessen, was die ersten, 1942 Verbreitung findenden Zeugnisse aus den Vernichtungslagern schilderten, und den bewussten Motiven der Täter herstellt:
„Es ist bezeichnend, dass diese Ungläubigkeit von den Schuldigen selbst lange vorher vorausgesagt wurde. Viele Überlebende erinnern sich daran (unter anderem Simon Wiesenthal auf den letzten Seiten seines Buches Doch die Mörder leben […]), was für ein Vergnügen es den SS-Leuten bereitete, den Häftlingen zynisch vor Augen zu halten: ‚Stellen Sie sich nur vor, Sie kommen in New York an, und die Leute fragen Sie: »Wie war es in diesen deutschen Konzentrationslagern? Was haben sie da mit euch gemacht?« […] Sie würden den Leuten in Amerika die Wahrheit erzählen […] Und wissen Sie, was dann geschehen würde? […] Sie würden Ihnen nicht glauben, würden Sie für wahnsinnig halten, vielleicht sogar in eine Irrenanstalt stecken. Wie kann auch nur ein einziger Mensch diese unwahrscheinlich schrecklichen Dinge glauben – wenn er sie selbst nicht erlebt hat?‘“[15]
Die viel gebrauchte und doch zumeist wenig reflektierte Rede von einer „Sinnlosigkeit“ der Gewalt erhält hier eine präzise Erläuterung. Es handelt sich um eine von der Gewalt produzierte Sinn-losigkeit, die die Möglichkeiten des Sprechens über diese Gewalt – aus der Erfahrung dieser Gewalt – von den Sphären abspaltet, in denen Sinn zirkulieren kann. Kurz: „Sinnlosigkeit“ bezeichnet hier ein aktives Moment der Gewalt, und nicht eine ihrer Eigenschaften, die in einem Gegensatz zu ihrer „Rationalität“ stünde; eben darum kann die sinnloseste Gewalt zugleich durch und durch rational sein.
An dieser Stelle scheint es mir daher unausweichlich, die Frage zu stellen: Was, wenn es für bestimmte ZeugInnen keine Gerichtshöfe gibt, vor denen sie gehört werden (ob es sich nun um Gerichtshöfe der Rechtsprechung oder solche der Vernunftsprechung handelt)? Was, wenn es ZeugInnen gibt, die nirgendwo aufgerufen, nirgendwohin zitiert werden, deren mögliches Sprechen also isoliert bleibt, insofern ihm noch nicht einmal die eigenwilligste Idiomatik zugestanden wird, weil es schlicht und einfach als eine Form der „Idiotie“, als ein in sich selbst verfangener Unsinn angesehen wird? Und was, wenn es ZeugInnen gibt, die nicht Zeugnis geben können, weil das Ereignis, das sie vielleicht zu bezeugen hätten, Traumatisierungen hinterlassen hat, die nicht notwendigerweise das Sprechen überhaupt, wohl aber das Sprechen über genau dieses da – über jene nicht-diskursivierbaren „sinnlichen Gewissheiten“, die den Knoten der Traumatisierungen bilden – verhindern?
Bezeugen, überleben
Kehren wir zunächst zu jenem Plautus-Zitat zurück, das ich weiter oben angeführt habe und das dem Vocabulaire des institutions indo-européennes von Emile Benveniste entnommen ist. Das lateinische Wort für „Zeuge“ in diesem Zitat lautet superstes, und das ist deshalb erwähnenswert, weil superstes im Lateinischen nicht das einzige Wort ist, das gewöhnlich mit „Zeuge“ übersetzt wird. Mit ihm konkurriert das Wort testis, dessen Bedeutungshorizonte erneut in die Nähe der Gerichtssituation weisen: „Etymologisch betrachtet“, schreibt Benveniste, „ist testis derjenige, der einem Geschehen, an dem zwei Personen beteiligt sind [où deux personnages sont intéressés], als ‚Dritter‘ (*terstis) beiwohnt.“[16] Der testis/terstis qualifiziert sich mithin als Zeuge gerade durch seine interesselose Anwesenheit, und eben diese Qualität rückt ihn, wie Benveniste an anderer Stelle seines Vocabulaire[17] analysiert, in eine spezifische Nähe zum (Schieds-)Richter, dem arbiter als Spezialfall des iudex. Es gilt hier indessen einen bemerkenswerten Unterschied festzuhalten: Beide, testis und arbiter, wohnen als Unbeteiligte einem Geschehen bei, doch „der testis ist im Angesicht und in Kenntnis der Parteien da, der arbiter sieht und hört, ohne gesehen zu werden“[18]. Aus dieser Differenz zwischen Gesehen-Werden und Nicht-gesehen-Werden leitet sich im antiken lateinischen Sprachgebrauch die Eignung des einen (testis) zum vor Gericht gerufenen Zeugen sowie die Eignung des anderen (arbiter) zum urteilenden, Recht sprechenden (Schieds-)Richter ab; oder umgekehrt: der mit der Entscheidung von Schiedssachen betraute iudex kann als entfernter Zeuge konstruiert werden.
Wie aber verhält es sich mit dem superstes, von dem das Plautus-Fragment spricht? – Das Wort lässt sich zunächst als substantiviertes Adjektiv analysieren, das sich von superstare ableitet: Das dem Verb stare („stehen, bestehen“) vorangesetzte Präfix super- ist hier, wie Benveniste ausführt, weniger als „darüber“ zu verstehen, sondern vielmehr als „darüber hinaus“. In diesem Sinn bedeutet denn auch superstare „‚sich darüber hinaus erhalten, darüber hinaus bestehen [subsister]‘, nämlich über ein Ereignis hinaus, das den Rest vernichtet hat. Es gab einen Todesfall in einer Familie; die superstites blieben über das Ereignis hinaus bestehen; wer über eine Gefahr, eine Erprobung, eine schwierige Zeitspanne hinweggeschritten ist, wer dabei überlebt hat, ist ein superstes.“[19] Superstare muss sich indessen nicht unbedingt, so Benveniste, auf ein Unglück oder den Tod beziehen; es kann auch bedeuten, „‚durch ein beliebiges Ereignis gegangen zu sein und über dieses Ereignis hinaus fortzubestehen‘, mithin dessen ‚Zeuge‘ gewesen zu sein. Oder auch der, ‚der sich über (super) der Sache selbst hält (stat), der ihr beiwohnt; der anwesend ist‘. Dies sollte, in Bezug auf das Ereignis, die Situation des Zeugen sein.“[20]
In keinem Fall jedoch ist der superstes als ein unbeteiligter Dritter zu verstehen. Im Gegenteil, insbesondere als Überlebender ist er in das zu bezeugende Geschehen in höchstem Maße involviert, und die Fähigkeit, sich „über der Sache selbst“ zu halten (bzw. sich über sie hinaus zu erhalten) und zu einem Sprechen darüber zu gelangen, ist in verschiedenen Hinsichten äußerst prekär. Ich möchte, um dies zu verdeutlichen, die alte semantische Nähe zwischen dem Überlebenden und dem Zeugen, die Benveniste am Begriff des superstes beschreibt, für einen Augenblick auf das zitierte Fragment von Plautus anwenden – nicht um eine „adäquatere“ Übersetzung vorzuschlagen, sondern um dessen Konnotationshorizonte zu Gehör zu bringen. Das Fragment lautet dann: „Nun ist es mir gestattet, alles zu sagen, was ich will; es ist kein Überlebender anwesend.“
Immer, so scheint es, verweist die Figur des Zeugen auf Fragen der Anwesenheit. Während im Bedeutungsfeld des testis, mit seiner spezifischen Differenz zum arbiter, jedoch zum einen seine Unbeteiligtheit am Geschehen sowie zum anderen die Frage, ob er im Wissen der an diesem Geschehen beteiligten Parteien anwesend war, im Vordergrund steht, ist der superstes gerade durch seine Involviertheit charakterisiert und seine Anwesenheit ist nicht nur prekär, sondern auch von vornherein aufgespannt zwischen zwei Situationen: derjenigen, die er bezeugt (und bezeugen kann, weil er überlebt hat), sowie derjenigen, in der er über die erste Situation spricht. Eben diese doppelte Anwesenheit ist es, auf die sich die Formel „sich über die Sache hinaus erhalten, sich über der Sache selbst halten“ beziehen lässt. Was aber ist dann „die Sache“? Und wie ist der prekäre Charakter dieser doppelten Anwesenheit zu verstehen?
Halten wir zunächst fest, dass es sich bei der Nähe zwischen Überleben und Bezeugen, die sich im lateinischen Wort superstes dokumentiert, um mehr als eine bloß alte und bloß semantische Nähe handelt. Ihr korrespondiert die unheimliche Nachbarschaft zwischen physischer und sprachlicher Vernichtung, die ich weiter oben im Ausgang von Lyotard angesprochen habe – und zwar insbesondere dort, wo ein Interesse an der Ausübung des zweifelhaften Rechts besteht, „zu sagen, was man will“, ohne mit den Interventionen eines anderen Sprechens konfrontiert zu sein. Verlassen wir, um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, den antiken Kontext, und wenden wir uns Carlo Ginzburgs Text „Just One Witness“[21] zu, der – in Absetzung von der römischen Rechtsformel Unus testis, nullus testis („Ein Zeuge ist kein Zeuge“) und damit von einer Reduktion der Frage der Zeugenschaft auf das Gerichtssetting überhaupt – unter anderem den Status von Zeugenaussagen im historiographischen Verfahren diskutiert: Ginzburg beginnt mit der Diskussion eines Zeugnisses aus dem Jahr 1348, das in wenigen Zeilen in einem Exemplar der Tora festgehalten ist, welches sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien befindet: Das Zeugnis berichtet von der Auslöschung der gesamten jüdischen Gemeinde im provenzalischen La Baume am 16. Mai 1348, kurz nach Auftreten der Pest, für deren Verbreitung Juden und Jüdinnen verantwortlich gemacht wurden; sein Verfasser, Dayas Quinoni, hat nur deshalb überlebt, weil er zum Zeitpunkt des Mordens für einige Tage das Dorf verlassen hatte. Und Ginzburgs Überlegungen richten sich zugleich zentral gegen die Argumentationen von postnazistischen „Revisionisten“ à la Robert Faurisson, die die Existenz nazistischer Vernichtungslager nicht zuletzt unter dem Hinweis auf die angebliche Unmöglichkeit von ZeugInnen bestreiten.[22]
Ginzburgs Text diskutiert die Verknüpfung dieser beiden „Fälle“ nicht eigens. Sie ist indessen durchaus bemerkenswert, handelt es sich doch bei dem Zeugnis von Dayas Quinoni um die Hinterlassenschaft eines Zeugen, der bei der bezeugten Tat gerade nicht physisch anwesend war – und der eben deshalb, als Überlebender, überhaupt Zeugnis ablegen konnte. Der „revisionistische“ Taschenspielertrick Faurissons hingegen läuft darauf hinaus, dass diejenigen, die als ZeugInnen auftreten, deshalb unglaubwürdig sind, weil sie die bezeugte Tat, wäre diese in Übereinstimmung mit den Zeugnissen erfolgt, unmöglich überleben und also auch nicht bezeugen hätten können. Der Zynismus dieser Argumentation zeigt sich im Übrigen nicht zuletzt daran, dass Faurisson im selben Atemzug, in dem er die Existenz der nazistischen Mordmaschinerien bestreitet, deren gewaltförmige Logik in doppelter Hinsicht übernimmt: erstens, indem er eine vollständige Übereinstimmung zwischen physischer und sprachlicher Vernichtung postuliert, um dadurch im Umkehrschluss die These zu stützen, dass keine physische Vernichtung im Sinne der Zeugnisse stattgefunden habe; und zweitens, weil Faurisson das Sprechen der ZeugInnen – derer, die die Vernichtung in der Tat überlebt haben –, als unsinnig zu disqualifizieren sucht und sich damit als später Vollstreckungsgehilfe jener SS-Leute in Szene setzt, die den Lagerinsassen ankündigten, dass ihnen, sollten sie jemals über ihre Erfahrungen berichten können, ohnehin niemand glauben würde.
Wie aber können wir uns angesichts der von Ginzburg verknüpften Zeugniskontexte jener doppelten Anwesenheit (Anwesenheit beim bezeugten Geschehen; Anwesenheit im Sprechen über das Geschehene bzw. in einer bestimmten Sprechsituation) nähern, die dem bisher Gesagten zufolge eine wesentliche Bedingung der Zeugenrede bildet?
Die doppelte
Sozialität der Zeugenrede
Die Zeugnisse, die es, und zwar auch in Bezug auf die nazistischen Vernichtungslager, in der Tat gibt (so wie es überdies natürlich reichlich anderweitiges historisches Beweismaterial gibt[23]), verdanken sich nicht allein dem nackten, unwahrscheinlichen Überleben der einzelnen ZeugInnen, sondern einem spezifischen Subjektivierungsgeschehen sowie einer spezifischen Sozialität, die sich mit diesem Überleben verknüpfen.[24] Denken wir noch ein Mal an das Zeugnis von Dayas Quinoni aus dem Jahr 1348: Wie ist hier die Anwesenheit des Zeugen zu verstehen? Seine physische Anwesenheit zum Zeitpunkt der bezeugten Tat hätte aller Wahrscheinlichkeit nach niemals ein Zeugnis zustande kommen lassen. Sollte im Gegenzug die physische Abwesenheit das Zeugnis eines Menschen entwerten, dessen unmittelbarstes soziales Umfeld mit einem Schlag ausgelöscht wurde und der eben deswegen in höchstem Maße in das bezeugte Geschehen involviert ist?
Eine solche prinzipielle Entwertung wäre einmal mehr nachträgliches Werk der Gewalt, einer Gewalt, die nach der physischen Vernichtung der Opfer auch noch die Reste des sozialen Bandes zu unterschlagen versucht, auf welche sich die Zeugenrede stützt (umgekehrt mag die konkrete Wertung des Zeugnisses historiographische Wahrheitsprozeduren auf den Plan rufen, deren Fähigkeit zur Rekonstruktion eines Geschehens eigenen Bedingungen unterliegt). Die Zerschlagung der Sozialität potenzieller ZeugInnen kann jedoch auch zu einem unmittelbaren Strategem der Gewalt werden. Abseits des spezifisch nazistischen Gewaltkomplexes ist wird dies vielleicht am deutlichsten an den mörderischen Praxen des „Verschwindenlassens“, welche im 20. Jahrhundert etwa die französische Armee zur Zeit des Algerienkrieges – und später, in den 1990ern, auch postkoloniale algerische Militärregierungen – oder die Militärregimes in Guatemala, Chile und Argentinien verfolgt haben: Der Begriff des „Verschwindenlassens“ bildet dabei nicht nur einen Euphemismus für Folterung und Mord, sondern bezeichnet auch die gezielte und nachhaltige Beschädigung des sozialen Lebens der Hinterbliebenen, deren Verlusterfahrung von Ungewissheit überlagert bleibt und die sich in Ermangelung von Todesurkunden etwa auch, im Falle des Verlusts von EhepartnerInnen, nicht wiederverheiraten können. – Die „Mütter der plaza de Mayo“ in Buenos Aires halten dieser Gewalt, und zwar bis auf den heutigen Tag, das sichtbare Zeugnis ihrer verletzten und beraubten Sozialität entgegen: Sie können nicht bezeugen, was genau geschehen ist; umso sprechender ist ihre Bezeugung dessen, dass etwas geschehen ist, dessen Gewaltförmigkeit schon daran offenbar wird, dass der Mantel der konspirativen Verschwiegenheit, der über die Ereignisse gebreitet wurde, auch nach dem Ende der Diktatur nicht vollständig gelüftet werden konnte.
Ich möchte jene „Anwesenheit“, die sich von alters her als Vorbedingung der Zeugenrede darstellt, vor diesem Hintergrund als sozial verfasste – und gerade auch in diesem Aspekt prekäre – Anwesenheit interpretieren: Es handelt sich nicht einfach um eine Anwesenheit „bei der Sache“, sondern um eine Anwesenheit, die dadurch charakterisiert ist, dass die Möglichkeit einer gemeinsamen, geteilten, mitgeteilten Anwesenheit „bei der Sache“, die sich über das zu bezeugende Geschehen hinaus erhält, prekär geworden ist. Daher die Möglichkeit eines Zeugnisses, das sich nicht der physischen Präsenz und nicht dem Augenschein verdankt (ja gar nicht verdanken könnte), sondern eben jener Sozialität, von deren Zerstörung es berichtet; daher aber auch die Einsamkeit der Zeugenrede, die sich vielfach nur noch unter der Bedingung einer gebrochenen und zerbrochenen Sozialität artikulieren kann – und daher vielleicht zuletzt eine spezifische Verunmöglichung der Zeugenrede, die dann eintritt, wenn das Zerbrechen der Sozialität, in der sich eine Rede artikulieren könnte, auf die innere Rede selbst übergreift:
Der Psychoanalytiker Dori Laub scheint an diesen Punkt zu rühren, wenn er in Bezug auf die Shoah von „der einzigartigen Weise“ spricht, „wie, im Zuge seines historischen Auftretens, das Ereignis keine ZeugInnen produzierte. Nicht nur versuchten die Nazis die physischen ZeugInnen ihres Verbrechens in der Tat auszulöschen; sondern die in sich unbegreifliche und trügerische psychologische Struktur des Ereignisses verhinderte seine Bezeugung, und sei es durch dessen eigenste Opfer.“[25] Die Stelle benennt sehr präzise den komplexen Bruch, den es im Zusammenhang mit Zeugnissen stets zu bedenken gilt, nämlich den Bruch zwischen dem Historischen und der Erinnerung bzw. der artikulierten Erinnerung.[26] Den Grenzfall dieses Bruchs bildet ein historisches Ereignis, das keine ZeugInnen produziert, das also die Erinnerung in sich brüchig oder unaussprechlich werden lässt.
Dass die Shoah ein solches Ereignis war, sagt hier mit Dori Laub indessen jemand, der nicht nur selbst Überlebender ist und als solcher spricht, sondern der auch ein Videoarchiv für Holocaust-Zeugnisse an der Universität Yale mit begründet hat und dessen Tätigkeit über viele Jahre der „Hervorbringung“ von Zeugnissen galt.[27] Es kann daher nicht verwundern, wenn Laubs Reflexionen über Zeugenschaft in hohem Maße mit der Frage beschäftigt sind, wie es möglich ist, Zeugnisse gerade dort hervorzubringen, wo das zu bezeugende Ereignis „im Zuge seines historischen Auftretens […] keine ZeugInnen produzierte“. Die Frage verweist auf die zweite Dimension jener doppelten Anwesenheit der ZeugIn, von der oben die Rede war: die Anwesenheit, die es erlaubt, „sich über der Sache zu halten“ und über sie zu sprechen, also die Anwesenheit der Sprechsituation. Wie die erste Dimension der Anwesenheit der ZeugIn, nämlich jene, die sich auf das bezeugte Geschehen bezieht, scheint auch diese zweite Dimension prekär, gebrochen – und zugleich durch und durch sozial verfasst zu sein.
Laub[28] schildert beispielsweise ein Zeugnis, das eine Auschwitz-Überlebende, die zumeist in flüsterndem und monotonem Tonfall sprach, in ihren späten Sechzigern gab. Erst als sie von dem Aufstand zu sprechen begann, den Häftlinge des „Sonderkommandos“ in Auschwitz-Birkenau am 7. Oktober 1944 unternommen hatten[29], erfüllte sich ihre Erzählung mit Intensität, und sie schilderte die Explosion der vier Rauchfänge der Krematorien. Bei einer einige Monate später stattfindenden Konferenz, bei der die Videoaufnahme des Gesprächs diskutiert wurde, erhoben etliche HistorikerInnen Bedenken bezüglich dieses Zeugnisses, wurde doch während des Aufstands nur eines der Krematorien von Auschwitz-Birkenau in die Luft gesprengt; der inexakte Charakter des Zeugnisses spiele zuletzt sogar möglicherweise den „Revisionisten“ in die Hände. Laub resümiert sein eigenes Widersprechen gegenüber diesen Einwänden folgendermaßen: „Tatsächlich war [diese Frau] dazu gelangt, nicht die empirische Anzahl der Rauchfänge zu bezeugen, sondern den Widerstand, die Affirmation des Überlebens, das Durchbrechen des Rahmenwerks des Todes […]. Das war ihre Art zu sein, zu überleben, Widerstand zu leisten. Es ist nicht nur ihre Rede, sondern die sie umgebenden Ränder des Schweigens selbst, die heute wie in der Vergangenheit diese Geltendmachung des Widerstands attestieren.“[30]
Folgt man den Ausführungen Laubs, ist es somit weniger die – gemäß einem generalisierten Modell von Intersubjektivität – überprüfbare „Wahrheit“ der Aussage als vielmehr die Möglichkeit der sozialen Anwesenheit des Aussageakts, die in der Zeugenrede in erster Linie prekär ist (und vielleicht entscheidet sich an eben dieser Frage der Möglichkeit einer aktuellen sozialen Anwesenheit der Zeugenreden, ob und inwieweit die At-testierungen dieser Reden vom Pro-test, der sich in ihnen möglicherweise zu artikulieren sucht, abgespalten werden bzw. ob und inwieweit es gelingen kann, neue Artikulationen von Attestierung und Protest hervorzubringen). Bereits die von Laub beschriebenen HistorikerInnen, denen man keine prinzipielle Unaufgeschlossenheit vorwerfen wird, sind mehr an der exakten Wahrheit der Aussage interessiert als an der komplexen Gebrochenheit der Rede. Und es lässt sich kaum beurteilen, inwieweit nicht sogar Laubs Interpretation dieser gebrochenen Rede als „Geltendmachung des Widerstands“ Gefahr läuft, ihr eine zu große Eindeutigkeit zu unterlegen. Doch diese Interpretation bezieht sich nicht so sehr auf die Geltung eines Aussagegehalts, sondern auf den Vollzug einer Subjektivierung, welche die Rede, sofern sie sich Präsenz und Kontur verleihen kann, nicht weniger hervorbringt als das Flüstern, die Monotonie und das Schweigen, das sie umgibt. Laub rührt damit an jene die Rede begleitenden Spuren, die, als Spuren, niemals eindeutig sind, die aber unter anderem auf jene Hemmungen verweisen können, die ich weiter oben bereits anklingen lassen habe: die Hemmungen einer Traumatisierung.
Und dennoch, in dem, was in Bezug auf die Möglichkeit der Rede als Hemmung erscheint, kann in Bezug auf die Subjektivierung der Überlebenden noch immer eine – wie auch immer in sich zurückgedrängte – Affirmation liegen. Ich zitiere hier nur die folgende eindringliche Beschreibung von Dori Laub, der diese Hemmungen aus der Erfahrung von Interview-Settings schildert und dabei die Aufgaben des Zuhörens unterstreicht, das einen irreduziblen Teil der Sozialität von Sprech- und Schweigeakten bildet:
„[Der Zuhörer] muss wissen, dass, wer ein Trauma überlebt hat und davon Zeugnis gibt, über kein vorgängiges Wissen, kein Verstehen und keine Erinnerung bezüglich dessen verfügt, was geschehen ist. Dass er oder sie ein solches Wissen zutiefst fürchtet, vor ihm zurückschreckt und im Augenblick der Konfrontation mit ihm jederzeit dazu neigt, sich zu versperren. Er muss wissen, dass ein solches Wissen alle Schranken auflöst, alle Grenzen von Zeit und Raum, von Selbst und Subjektivität durchbricht. Dass diejenigen, die über ein Trauma sprechen, auf einer bestimmten Ebene das Schweigen vorziehen, um sich selbst vor der Furcht zu schützen, die sich damit verbindet, dass ihnen zugehört wird – und dass sie sich selbst zuhören. Dass das Schweigen, obwohl und indem es eine Niederlage ist, ihnen als Zuflucht dient und zugleich einen Ort der Fesselung bildet. Das Schweigen ist für sie ein Exil, das über sie verhängt wurde, aber auch ein Zuhause, ein Bestimmungsort und ein bindender Fluch. Aus diesem Schweigen nicht zurückzukehren ist eher die Regel als die Ausnahme.
Der Zuhörer muss all dies und noch mehr wissen. Er oder sie muss dem Schweigen zuhören und es hören, einer Stille, die sich stumm im Schweigen wie in der Rede ausspricht und die ebenso aus einem Raum hinter der Rede wie aus dem Inneren der Rede spricht. Er oder sie muss jenes Schweigen erkennen, anerkennen und adressieren, selbst wenn dies einfach Respekt bedeutet – und das Wissen darum, wie zu warten ist.“[31]
Ich möchte diese Beschreibung nicht im Einzelnen kommentieren, sondern stattdessen zu einer Art Schluss kommen: Zeugnisse, in dem Sinne, wie ich hier von ihnen zu sprechen versucht habe, eignen sich kaum dafür, einen wie auch immer motivierten direkten Zugriff auf das Wirkliche zu etablieren – auch wenn die Zeugenrede eine Sprechweise bildet, die sich mehr als andere auf Erfahrenes gründen mag. Und dies hat nicht so sehr mit einem „Mangel“ der Zeugenrede zu tun, der durch spezifische Wahrheitsprozeduren „ergänzt“ werden könnte. Es hat vielleicht im Gegenteil mit einem „Zuviel“ der Zeugenrede zu tun, einem Zuviel an Rede (als Akt einer Aussage), einem Zuviel an Schweigen, einem Zuviel an Erfahrung, das die Aussage und ihren möglichen Gehalt überbordet. Die Konstruktion eines Mangels der Zeugenrede – eines „Mangels an Wahrheit“ –, trägt wahrscheinlich ihren Teil dazu bei, dass wir dieser Rede heute möglicherweise nur durch den Versuch eines Abtragens der diskursiven Überlagerungen begegnen können, die sich in ihr selbst ebenso wie in den zugehörigen Verstehens- und Verständigungsprozessen einstellen. Doch am anderen Ende dieser abtragenden Bewegung, so sie zu einem Ende zu bringen ist, wartet keine wirklichkeitsgesättigte Bedeutung, sondern eine in sich vielfältig gebrochene Rede, ein in sich vielfältig gebrochenes Schweigen – und vielleicht trotz allem eine Affirmation, die sich durch diese Rede und durch dieses Schweigen hindurchzieht. Auch darum habe ich bereits am Beginn dieses Textes davon gesprochen, dass es darum geht, in ein soziales Verhältnis mit ZeugInnen und Zeugnissen einzutreten: in ein soziales Verhältnis, das noch dem Schweigen zuzuhören in der Lage ist.
[1] Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, München: Fink 1987, S. 26.
[2] Shoshana Felman / Dori Laub, Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York u. London: Routledge 1992, S. 91.
[3] Vgl. J.-F. Lyotard, „Streitgespräche, oder: Sätze bilden ‚nach Auschwitz‘“, in: Elisabeth Weber / Georg Christoph Tholen, Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien: Turia + Kant 1997, S. 18–50.
[4] Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 691–704, hier: S. 695.
[5] Vgl. dazu z. B. John Beverley, Testimonio. On the Politics of Truth, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004.
[6] Vgl. z. B. Ruth Fuchs, Staatliche Aufarbeitung von Diktatur und Menschenrechtsverbrechen in Argentinien. Die Vergangenheitspolitik der Regierungen Alfonsín (1983–1989) und Menem (1989–1999) im Vergleich, Hamburg: Institut für Iberoamerika-Kunde 2003.
[7] Vgl. z. B. Claire Moon, Narrating Political Reconciliation: South Africa’s Truth and Reconciliation Commission, Lanham: Lexington Books 2008.
[8] Vgl. z. B. Nur Masalha (Hg.), Catastrophe Remembered. Palestine, Israel and the Internal Refugees. Essays in Memory of Edward W. Said, London u. New York: Zed Books 2005.
[9] Der arabische Begriff nakba bedeutet „Katastrophe“, wird v. a. auf die Ereignisse von 1948 bezogen und geht in seiner spezifischen politischen Bedeutung auf das Buch Ma‘na al-nakba (Beirut 1948 [„Die Bedeutung der Katastrophe“]) des arabisch-nationalistischen Historikers Constantine Zurayk zurück.
[10] Ich denke hier natürlich u. a. an einige sogenannte „antideutsche“ Zusammenhänge in den unmittelbar postnazistischen Ländern, die von diesen Erzählungen überhaupt nur dort Kenntnis nehmen wollen, wo sie in ihnen faschistische Wiedergängerei oder „Djihadismus“ erblicken zu können meinen, und dabei jegliche Ansprüche einer kritisch-differenzierenden Gesellschaftsanalyse zugunsten antiislamischer und zum Teil offen neokolonialer Haltungen über Bord werfen.
[11] Als „anwesende Abwesende“ werden in Israel lebende palästinensische Flüchtlinge und Vertriebene („interne Flüchtlinge“) bezeichnet. Vgl. dazu sowie zum oben angesprochenen Problem: Eitan Bronstein, „The Nakba in Hebrew: Israeli-Jewish Awareness of the Palestinian Catastrophe and Internal Refugees“, in: Nur Masalha (Hg.), Catastrophe Remembered, S. 214–241; Bronstein ist Leiter der jüdisch-israelischen Organisation Zochrot, die in Zusammenarbeit mit internen Flüchtlingen die nakba sowie die Frage einer möglichen Rückkehr der Flüchtlinge zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung zu machen versucht.
[12] J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, S. 26.
[13] Zit. nach Emile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, 2: Pouvoir, droit, religion, Paris: Editions de Minuit 1969, S. 276.
[14] J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, S. 25.
[15] Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München: dtv 21995, S. 7.
[16] E. Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, 2, S. 277.
[17] Vgl. ebd., S. 119–122.
[18] Ebd., S. 120.
[19] Ebd., S. 276.
[20] Ebd.
[21] Ich beziehe mich hier auf die französische Ausgabe dieses Textes in: Carlo Ginzburg, Un seul témoin, Paris: Bayard 2007.
[22] Die „revisionistischen“ Strategien des rechtsextremen französischen Literaturwissenschaftlers Robert Faurission reichen über die Frage der Zeugenschaft hinaus. Dennoch nimmt diese Frage bei Faurisson einen zentralen Platz ein, versucht er doch über die prinzipielle Delegitimierung von Bezeugungen der nazistischen Mordmaschinerie die Diskussion auf „wissenschaftlich-objektive“ Fragen wie jene der technischen Machbarkeit von zu Tötungszwecken eingesetzten Gaskammern zu verschieben. Lyotard fasst Faurissons Argument folgendermaßen zusammen: „Um einen Raum als Gaskammer identifizieren zu können, akzeptiere ich nur ein Opfer dieser Gaskammer als Zeugen; nun kann es dort – meinem Kontrahenten zufolge – nur tote Opfer geben, sonst wäre diese Gaskammer nicht das, was er behauptet; es gibt also keine Gaskammer“ (Der Widerstreit, S. 18). Vgl. zu Faurisson, neben den Texten Lyotards und Ginzburgs, bes. auch: Pierre Vidal-Naquet, Les assassins de la mémoire. „Un Eichmann de papier“ et autres essais sur le révisionnisme, Paris: La Découverte 1987 (dt. Übers. v. Alice Pechriggl: Die Schlächter der Erinnerung. Essays über den Revisionismus, Wien: WUV 2002).
[23] Vgl. zum „revisionistischen“ Umgang mit Zeugnissen wie auch der Beweiskraft von Dokumenten die zusammenfassende Analyse bei P. Vidal-Naquet, Les assassins de la mémoire, S. 36–41. – Es gibt im Übrigen auch „Täterzeugnisse“, vgl. z. B. die beiden explizit gegen Leugnungsversuche gewandten Berichte und Stellungnahmen in dem Band Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, hg. v. H. G. Adler, Hermann Langbein u. Ella Lingens-Reiner, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 42003, S. 78–81.
[24] Giorgio Agamben hat in seinem Buch Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III), übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, bes. S. 137–144, eine sprachphilosophisch-messianologische Deutung des Zusammenhangs zwischen Überleben und Subjektivierung gegeben. Wenn ich im Folgenden v. a. den Aspekt der Sozialität hervorhebe, dann auch deshalb, weil die Sozialität des Zeugnisses in Agambens Buch merkwürdig unterbelichtet bleibt. Obwohl sich in ihm Sätze finden wie etwa: „Der Mensch kann den Menschen überleben, er ist das, was nach der Zerstörung des Menschen als Rest übrig bleibt […]“ (ebd., S. 117 f.), verbleibt „der Mensch“ nicht nur nominell, sondern auch innerhalb der Analyse Agambens weitgehend im Singular; die Schwelle zum Tod erscheint bei Agamben dementsprechend, ganz heideggerianisch, in erster Linie als Schwelle zum eigenen Tod, und nicht als Schwelle zum Tod anderer. Wer vom „Menschen“ redet, hat es aber mit einer irreduziblen Pluralität und Sozialität zu tun, und nicht weniger gilt dies für denjenigen, der vom „Überleben des Menschen durch den Menschen“ redet: Überlebende sind in diesem Sinne nicht nur jene, die die „Katastrophe des Subjekts“ (ebd., S. 129) – im Sinne eines je eigenen Subjektivierungsgeschehens – überlebt haben, sondern auch jene, die der Katastrophe anderer beigewohnt haben und nach deren faktischem Tod „übrig geblieben“ sind.
[25] Sh. Felman / D. Laub, Testimony, S. 80.
[26] Pierre Vidal-Naquet, Les assassins de la mémoire, S. 8: „Zwischen der Erinnerung und der Geschichte kann es eine Spannung, ja sogar einen Gegensatz geben.“
[27] Ich zitiere Dori Laubs eigene Kennzeichnung der mehrfach bestimmten Perspektiven, aus denen er spricht: „[al]s Mitbegründer des Fortunoff-Videoarchivs für Holocaust-Zeugnisse in Yale; als Interviewer von Überlebenden, die Zeugnis geben; als Psychoanalytiker, der Holocaust-Überlebende und ihre Kinder behandelt, sowie als jemand, der als Kind selbst überlebt hat“ (Sh. Felman / D. Laub, Testimony, S. 75, Fußn.).
[28] Vgl. für das Folgende bes.: ebd., S. 59 f.
[29] Vgl. dazu auch: Israel Gutman, „Der Aufstand des Sonderkommandos“, in: Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, S. 213–219.
[30] Ebd., S. 62.
[31] Ebd., S. 58.