Wem teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der Fuchs?
Walter Benjamin
Was
wäre, wenn die Dinge sprechen könnten? Was würden sie uns sagen? Oder
sprechen
sie schon und wir hören sie bloß nicht? Und wer wird sie übersetzen?
Fragen Sie Walter Benjamin. Er stellte diese recht bizarren Fragen bereits 1916 in einem Text namens „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“. Von allen sonderbaren Texten Benjamins ist dies definitiv der sonderbarste. In diesem Text entwickelt er das Konzept einer Sprache der Dinge. Benjamin zufolge ist die Sprache der Dinge stumm, sie ist magisch und ihr Medium ist die stoffliche Gemeinschaft. Wir müssen demnach annehmen, dass es eine Sprache der Steine, Pfannen und Kartons gibt. Lampen sprechen, als wären sie von Geistern bewohnt. Berge und Füchse pflegen Diskurse. Hochhäuser plaudern miteinander. Gemälde tratschen. Es gibt, wenn man so will, sogar außer der Sprache, die durch das Telefon vermittelt wird, eine Sprache des Telefons selbst. Und, folgt man Benjamins triumphierender Schlussfolgerung, ist niemand anders verantwortlich für diese stumme Kakophonie als Gott höchstpersönlich.
Aber, so könnten Sie fragen: Worauf will diese exzentrische Fabel hinaus? Nehmen wir mal an: auf Übersetzung. Denn natürlich muss die Sprache der Dinge übersetzt werden, um für die von uns verständlich zu werden, die ihrem stillen Glanz gegenüber taub sind. Aber das Konzept von Übersetzung, das Benjamin im Sinn hat, ist völlig verschieden von denen, die wir sonst kennen. Denn, von den gewöhnlichsten zu den sophistiziertesten Theorien der Übersetzung wird eines als selbstverständlich angenommen: dass Übersetzung zwischen verschiedenen menschlichen Sprachen oder den Kulturen, die sie angeblich nähren, stattfindet. Dabei werden Sprachen als Ausdruck verschiedener Kulturen und Nationen angesehen. Diese Kombination wird vorschnell als der politische Aspekt der Übersetzung und sogar der Sprache als solcher identifiziert. Und auf dieser Ebene ist die gewöhnliche Theorie der Übersetzung immer schon in politische Praxis und gouvernementale Strategien verwickelt.
Aber Benjamins Begriff der Übersetzung – zumindest in diesem Text – ignoriert kühn diesen offensichtlichen und vielleicht banalen Aspekt der Übersetzung. Und so entsteht ein ganz anderes Konzept einer Politik der Übersetzung. Statt nationaler Sprachen, die im Text nur en passant erwähnt werden, konzentriert er sich auf etwas, was ich Sprachen der Praxis nennen würde: die Sprache des Rechts, der Technologien, Kunst, die Sprache der Musik und der Skulptur. Wichtiger noch: Übersetzung findet nicht primär zwischen ihnen statt, sondern in ihrem Inneren – also an der Basis der Sprache selbst. So werden einige sehr wichtige Modifikationen in Bezug auf traditionelle Übersetzungstheorie eingeführt: Zunächst wird Sprache nicht durch einen gemeinsamen Ursprung, durch Herkunft oder Nation definiert, sondern durch eine gemeinsame Praxis. Zum zweiten findet Übersetzung vor allem innerhalb einer Sprache statt, nicht zwischen verschiedenen Sprachen. Und drittens betrifft Übersetzung das Verhältnis von menschlicher Sprache und Dingsprache.
Da Benjamin bestens mit den romantischen Theorien der Übersetzung vertraut war, die auf Konzepte wie den Volksgeist hinausliefen, muss seine bewusste Auslassung als ein mehr als gewagtes politisches Statement begriffen werden. Es ist eine himmelschreiende Deklaration der Irrelevanz kulturalistischer Ansätze. Statt Nationen und Kulturen wählt seine Perspektive auf Übersetzung die Materie und Gott als Referenzpunkte. Und dieses theologische-materielle Konzept der Übersetzung verschiebt die Definition einer Politik der Übersetzung radikal. Es wabert nicht mehr um organische Begriffe wie Gemeinschaft und Kultur. Es verortet Übersetzung statdessen ganz unverblümt im Kern einer wesentlich allgemeineren Fragestellung: Wie beziehen sich Menschen auf die Welt?
Statt einer Politik des Urspungs und des Inhalts, wie etwa dem Nationalstaat, der Kultur, dem Volksgeist oder der Nationalsprache – plädiert Benjamin für eine Politik der Form. Und diese Form entscheidet über die Politik der Sprache als solcher.
Potestas und Potentia
Aber was genau sind die politischen Prozesse, die an dieser Übersetzung beteiligt sind? Werfen wir einen genaueren Blick darauf. Denn in diesem Prozess werden zwei Sprachen miteinander vermittelt. Die Sprache der Dinge ist eine an sich produktive Sprache – Benjamin zufolge, weil sie den Überrest jener schaffenden Sprache Gottes enthält, der die Welt durch das Wort erschuf. Auf der anderen Seite steht die menschliche Sprache, die entweder versuchen kann, die Sprache der Dinge zu empfangen, zu verstärken und zu vertonen, indem sie die Dinge benennt, oder aber indem sie ihre Elemente klassifiziert, kategorisiert, fixiert und identifiziert und jene Sprache anwendet, die Benjamin als die des Urteils bezeichnet hat.
Wenn wir diese Entgegensetzung auf zeitgenössischere Debatten projizieren wollten, könnten wir auch sagen, dass Übersetzung zwischen jenen verschiedenen Sphären stattfinden kann, die als Macht und Herrschaft bezeichnet werden – oder auch pompöser als potentia und potestas. Während die Sprache der Dinge mit Potenzial aufgeladen ist, kann die Sprache der Menschen dieses entweder verstärken oder zum Instrument der Herrschaft werden. Und daher findet Übersetzung sowohl im Modus der Schöpfung als auch im Modus der Gewalt statt, und für gewöhnlich sind beide miteinander vermischt.
Daher findet Politik in den Formen statt, in denen sich die Übersetzung zwischen der Sprache der Dinge und jener der Menschen ereignet. Im schlimmsten Fall nimmt diese Beziehung die Form einer epistemologischen Diktatur an. Dass Menschen über Dinge herrschen wollten und ihre Mitteilung überhörten, führte zur Katastrophe von Babel. Zu beginnen, ihnen wieder zuzuhören, wäre der erste Schritt in Richtung einer kommenden Sprache, die nicht länger in der heuchlerischen Annahme einer Einheit der Menschheit verwurzelt wäre, sondern in einer viel allgemeineren materiellen Gemeinschaft. In diesem Fall bringt die Übersetzung die Sprache der Dinge nicht mehr zum Schweigen, sondern verstärkt ihr Potenzial der Veränderung.
Es ist jetzt klar geworden, dass in dieser Perspektive Übersetzung hochpolitisch ist, weil sie Machtverhältnisse direkt innerhalb der Sprachbildung anspricht. Sie betrifft die Beziehung der Menschen zur Welt als ganzer. Sie betrifft die Entstehung von Praxen und Sprachen, die ihnen entsprechen. Auf diese Weise bezieht Benjamin Übersetzung direkt auf Macht – indem er ihre Form untersucht, nicht ihren Inhalt. Die spezifische Form der Übersetzung wird darüber entscheiden, ob und wie die Sprache der Dinge mit den ihnen innewohnenden Kräften und produktiven Energien den Macht- und Wissenskategorien menschlicher Formen der Regierung unterworfen wird oder nicht. Sie entscheidet darüber, ob die menschliche Sprache herrschende Subjekte und unterworfene Objekte hervorbringt, oder ob sie sich mit den Energien der materiellen Welt einlässt.
Dies mag immer noch außerordentlich praxisfern scheinen, aber das Gegenteil ist der Fall. Man könnte sogar sagen, dass ein Großteil der menschlichen Praxis permanent in diesem Übersetzungsprozess begriffen ist – auch wenn er, wie Bruno Latour argumentiert, ständig verleugnet wird. Lassen Sie mich ein ganz offensichtliches Beispiel eines solchen Übersetzungsprozesses der Sprache der Dinge in die menschliche Sprache nennen. Und das ist das Beispiel der dokumentarischen Form.
Die dokumentarische Form als Übersetzung
Ein dokumentarisches Bild übersetzt ganz offensichtlich die Sprache der Dinge in die Sprache der Menschen. Auf der einen Seite ist es in der Sphäre der materiellen Realität verankert. Aber es nimmt auch an der Sprache der Menschen teil und insbesondere an der Sprache des Urteils, die das betreffende Ding objektiviert, seine Bedeutung festlegt und stabile Kategorien des Wissens konstruiert, um es zu verstehen. Es ist halb visuell, halb lautlich, zur selben Zeit rezeptiv und produktiv, es nimmt am Austausch der Dinge teil, aber friert die Verhältnisse zwischen ihnen auch in visuellen und begrifflichen Standbildern ein. Die Dinge artikulieren sich in der dokumentarischen Form - aber die dokumentarische Form artikuliert auch die Dinge.
Es ist auch offensichtlich, wie Benjamins Politik der Übersetzung im Hinblick auf das dokumentarische Bild funktioniert. In dokumentarischen Artikulationen können Dinge entweder als Objekte behandelt werden, als Beweismittel für menschliche Vorhaben, sie können der Sprache des Urteils unterworfen werden und so überstimmt werden. Ich habe dieses Verhältnis anderenorts als Dokumentalität bezeichnet, das bedeutet: die Weise, in der Dokumente Macht ausüben und in die Erzeugung von Macht/Wissen verwickelt sind.[1] Auf der anderen Seite können aber auch die Kräfte, die die Verhältnisse zwischen den Dingen organisieren, im Hinblick auf ihre Veränderung gebündelt werden. Die dokumentarische Form kann sich auch von der Sprache der Dinge verführen und sogar überwältigen lassen, obwohl wir sehen werden, dass dies nicht unbedingt eine gute Idee ist. Aber grundsätzlich wird auf diese Weise das Verhältnis zwischen potentia und potestas in der dokumentarischen Form artikuliert. Es ist das Verhältnis von Produktivität vs. Verifikation, das Verhältnis des Asignifikanten gegenüber dem Signifikanten, der materiellen Realität gegenüber ihrer idealistischen Interpretation.
Aber lassen Sie mich eines klarstellen: Sich mit der Sprache der Dinge einzulassen bedeutet nicht, realistische Abbilder von ihnen zu machen. Es geht dabei gar nicht um Repräsentation, sondern darum, das, was die Dinge zu sagen haben, zu präsentieren, das heißt in die Gegenwart zu überführen. Und das ist keine Angelegenheit des Realismus, sondern eher eines gewissen Relationalismus – es ist eine Angelegenheit der Präsentierung und so auch der Transformation jener sozialen, historischen und auch materiellen Verhältnisse, die die Dinge zu denen machen, die sie sind. Und wenn wir uns auf den Aspekt der Vergegenwärtigung, also der Präsentation anstatt der Repräsentation konzentrieren, lassen wir auch jene endlosen Debatten hinter uns, die nicht nur die dokumentarische Theorie, sondern auch die politische Theorie in eine Sackgasse gebracht haben.
Die Macht der Dinge
Aber warum, könnten Sie fragen, ist Benjamin überhaupt so hingerissen von der Sprache der Dinge? Wieso soll das, was die Dinge zu sagen haben, eigentlich so interessant sein? Lassen Sie uns einfach ignorieren, was Benjamin selbst zu dem Thema sagt: dass das Wort Gottes durch die stumme Magie der Dinge schimmert. In diese poetischen Wendungen ist möglicherweise nur eine Art hochtrabender Ratlosigkeit Benjamins gekleidet.
Lassen Sie uns stattdessen an die entscheidende Rolle denken, die materielle Objekte in Benjamins späterem Denken einnahmen, als er damit begann, die Moderne durch den Schweif des Abfalls zu entziffern, den sie hinter sich herzog. Bescheidene und sogar verworfene Objekte wurden zu Hieroglyphen, in deren dunklem Prisma die sozialen Verhältnisse in Bruchstücken eingefroren lagen. Sie wurden als Knotenpunkte verstanden, in denen sich die Spannungen eines bestimmten historischen Moments in einem Blitz der Erkenntnis entluden oder sich grotesk im Warenfetisch verkrampften. In dieser Perspektive ist ein Ding niemals nur irgendetwas, sondern ein Fossil, in dem ein Kräfteverhältnis versteinert ist. Benjamin zufolge sind Dinge nicht einfach unbelebte Gegenstände, mit inerter Materie angefüllte Hülsen oder passive Objekte, die dem dokumentarischen Blick zur Verfügung stehen. Sie bestehen hingegen aus Kräfteverhältnissen, aus verborgenen Mächten, die miteinander in Austausch oder in Spannung stehen. Diese Auffassung grenzt einerseits an magisches Denken, demzufolge die Dinge mit übersinnlichen Kräften ausgestattet sind. Auf der anderen Seite ist diese Vorstellung auch eine klassisch materialistische. Denn auch die Ware wurde von Marx nicht etwa als bloßer Gegenstand, sondern als Verdichtung eines Verhältnisses zwischen Menschen begriffen. In der Ware drücken sich menschliche Arbeitskraft ebenso aus, wie soziale Verhältnisse. Auf diese Weise lassen sich Gegenstände jeglicher Art als Kondensationen verschiedener Begehren, Intensitäten, Wünsche und Machtverhältnisse interpretieren.
Eine Sprache, die derart mit der Energie der Dinge aufgeladen ist, kann schließlich auch über ihre Beschreibung hinausgehen und kreativ werden. Sie ist auch imstande, die bestehenden Verhältnisse zu verändern, sie aktualisiert die Gegenwart.[2] Und das dokumentarische Bild partizipiert insoweit an dieser Sprache der Dinge, als es ihm gelingt, diese auf Veränderung drängenden Kräfte in sich aufzunehmen und weiterzugeben.
Während Benjamin auf ein solches Ereignis zu hoffen scheint, sieht er auch eine negative Seite seiner Verwirklichung voraus, die er Beschwörung nennt.[3] Wenn es sozusagen eine schöpferische Magie der Dinge gibt, die von Kreativität und Macht nur so strotzt, gibt es auch eine andere, die mit den Mächten des Tabus, der Illusion und des Fetischs aufgeladen ist. Die Macht der Beschwörung zapft die Kräfte der Dinge an, ohne sie zu reflektieren oder wie Benjamin es nennt: ohne sie durch Ausdruckslosigkeit zu unterbrechen.[4] Und aus diesen unvermittelten und ununterbrochenen chaotischen Kräften speist sich nicht nur die kapitalistische Verdinglichung, sondern auch das allgemeine Ressentiment. Um auf die dokumentarische Form zurückzukommen: Propaganda, Relativismus und Revisionismus sind alles Beispiele, wie Beschwörung – also Kreativität ohne reflexive Unterbrechung – innerhalb der dokumentarischen Form funktioniert. Sie lassen sich mit den Kräften des Ressentiments, der Hysterie, der Furcht und des individuellen Interesses ein, die allesamt mächtige, unvermittelte Begehren darstellen. Aber sie tun es sozusagen ohne angemessene Übersetzung und kontaminieren so alle Arten der Kommunikation mit ihrem bösartigen Drall.
Die Öffentlichkeit ohne Öffentlichkeit
Wir haben mehrere Arten untersucht, in denen eine interne Politik der Übersetzung die dokumentarische Form beeinflusst. Wie beziehen sich Menschen auf Dinge? Was bedeutet Kreativität in dieser Hinsicht? Und warum ist Letztere nicht immer hilfreich, wenn es um die dokumentarische Form geht? Aber es gibt auch einen externen Aspekt, der für eine Diskussion der dokumentarischen Form als Übersetzung relevant ist. Und dieser Aspekt betrifft die dokumentarische Form als Beispiel einer transnationalen Sprache. Denn obwohl die dokumentarische Form auf Übersetzung basiert, geht sie in gewissem Sinne auch über Übersetzung hinaus. Ihre standardisierten Formen der Erzählung werden in der ganzen Welt wiedererkannt und ihre Formen sind fast unabhängig von nationalen oder kulturellen Differenzen. Genau, weil sie so nahe an der materiellen Realität vorgehen, sind sie überall dort verständlich, wo diese Realität relevant ist.
Dieser Aspekt wurde schon in den 20er Jahren erkannt, als Dziga Vertov euphorisch die Qualitäten der dokumentarischen From anpries. Im Vorwort des Filmes „Der Mann mit der Kamera“ von Dziga Vertov heißt es, dass bestimmte dokumentarische Formen dazu in der Lage sind, sichtbare Fakten in einer wahrhaft internationalen absoluten Sprache zu organisieren, die eine „optische Verbindung“ zwischen den Werktätigen der ganzen Welt herstellen soll.[5] Vertov träumt in seinem Prolog von einer kommunistischen Bildsprache, in der filmische Fakten nicht nur zur weltweiten Verständigung, sondern auch zur Organisierung ihrer AdressatInnen beitragen. Diese Sprache geht über die bloße Übermittlung von Informationen hinaus, sie soll ihre Teilnehmer an einen universalen Kreislauf von Energien anschließen, der ihr gesamtes Nervensystem durchfließt. Es ist, als wolle Vertov sie direkt mit der Sprache der Dinge selbst verkabeln, mit einer pulsierenden Symphonie der Materie.
In gewissem Sinn ist Vertovs sozialistischer Traum heute wahr geworden, wenn auch nur in der Form eines globalen Informationskapitalismus. Denn ein international verständlicher Doku-Jargon „sichtbarer Fakten“ verbindet weltweit Menschen durch globale Mediennetzwerke. Die standardisierte Sprache von Nachrichtensendungen mit ihrer Aufmerksamkeitsökonomie, die auf Katastrophenangst, der rasenden Zeit flexibler Produktion und Hysterie basiert, ist so flüssig und affektiv, so unmittelbar und innervierend, wie Vertov sich das nur erträumen konnte. Sie schafft globale Öffentlichkeiten, deren TeilnehmerInnen nahezu physisch an sie angeschlossen sind und im Takt weltweiter Angst und Neugier mitfiebern. Insofern ist die dokumentarische Form heute potenter denn je und zwar genau, weil sie die spektakulärsten Aspekte der Sprache der Dinge beschwört und ihre Macht verstärkt. An diesem Punkt würde ich gerne auf die zur Vorsicht mahnende Bemerkung zurückkommen: Die Sprache der Dinge anzuzapfen ist nicht unbedingt eine gute Idee und ihr Potenzial ist nicht unbedingt ein Potenzial zur Emanzipation. Die asignifikanten Ströme komprimierter Information übersetzen ohne Unterbrechung und Reflektion. Ihre Formen ignorieren komplett die Verschiedenheit diverser Sprachen der Dinge. Sie sind zwar nicht kulturspezifisch, gehen aber auch nicht spezifisch auf verschiedene materielle Realitäten und Praxen ein, sondern übersetzen nur die Bedürfnisse privater und nationaler Medienmaschinen.
Aber hat diese Form der dokumentarischen Übersetzung überhaupt ein anderes politisches Potential als jenes für Propaganda und product placement? Ja, und hier sind wir wieder am Ausgangspunkt. Die dokumentarische Form ist weder eine nationale Sprache noch kulturspezifisch. Daher kann sie die Basis für anationale Öffentlichkeiten bilden und daher auch die Keime für einen politischen Raum jenseits nationaler oder kultureller Formationen. Aber im Moment ist diese Sphäre vollständig durch die Dynamik einer generellen Privatisierung kontrolliert. Es ist, wie Paolo Virno kürzlich argumentierte, eine Öffentlichkeit ohne Öffentlichkeit.
Aber das muss nicht unbedingt der Fall sein. Und in experimentellen dokumentarischen Produktionen sehen wir, dass andere Verhältnisse zu Dingen und den sozialen Unständen, unter denen wir mit ihnen in Austausch stehen, möglich sind. Der Grund ist sehr einfach. Die steigende Bedeutung globaler Dokujargons basiert auf der materiellen Grundlage des Informationskapitalismus, der durch Digitalisierung und Flexibilität gekennzeichnet ist. Und jede dokumentarische Form, die wirklich die Sprache dieser Angelegenheiten artikuliert, wird auch genau diese Bedingungen artikulieren, das heißt: die Bedingungen der prekären symbolischen Produktion. Die neuen dokumentarischen Produktionsformen an Heimcomputern und unkonventionellen Formen des Vertriebs können als Artikulationen verstanden werden, die den Umriss neuer Formen sozialer Komposition durchscheinen lassen. Diese Form der Bildproduktion beruht maßgeblich auf digitaler Technologie und tendiert daher dazu, mehr und mehr mit anderen Feldern der massenhafen symbolischen Produktion zu verschmelzen. Sie repräsentieren sozusagen das Negativ einer kommenden Öffentlichkeit, das entwickelt werden muss, um funktionieren zu können. Diese Form der Öffentlichkeit hat ihre Verwicklung mit nationalen und lokalen Mythologien abgestreift und wird durch ähnlich prekäre und oft transnationale Formen von Arbeit und Produktion gekennzeichnet. Und die politische Artikulation oder soziale Komposition dieser meist verstreuten und stark heterogenen Perspektiven oder Gruppen wird in den komplexen Montagen und Konstellationen der zeitgenössischen experimentellen Form vorweggenommen.
Aber nochmals: Ihre Politik wird nicht durch den Inhalt bestimmt, sondern durch ihre Form. Wenn sie nur die Standards der großen privaten und nationalen Affektmaschinen nachahmen, werden sie auch zu einem bestimmten Grad deren Politik übernehmen. Wie Benjamin es nennen könnte: Ihre Arten der Übersetzung sind sowohl zu unvermittelt als auch nicht unvermittelt genug. Nur wenn dokumentarische Formen die Inkongruitäten, die Ungleichheiten, die raschen Wechsel der Geschwindigkeiten, die Disartikulation und schwindelerregenden Rhythmen, die Entortung und die arhythmischen Pulsschläge der Zeit artikulieren, wenn sie dem vitalen Drang der Materie Einhalt gebieten und durch Ausdruckslosigkeit abtötet, wird sie sich mit der gegenwärtigen stofflichen Gemeinschaft einlassen. Nur wenn diese Form der Übersetzung gelingt, wird die dokumentarische Artikulation die Sprache jener Dinge reflektieren und somit verstärken, die schon jetzt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die ganze Welt gezerrt werden, um als Waren konsumiert zu werden oder im Gegenteil weggeworfen und ausrangiert als unbrauchbarer Müll zu enden. Und indem die Bedingungen der Produktion reflektiert werden, unter denen die dokumentarische Übersetzung stattfindet, könnten neue Formen der Öffentlichkeit entstehen.
Natürlich bezieht sich das alles nicht nur auf dokumentarische Formen, sondern auch auf andere Sprachen der Praxis. Man könnte ein ähnliches Argument anwenden, wenn es um die Praxis des Kuratierens geht, die die Sprache der Dinge in ästhetische Relationalitäten verwandeln kann. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gesehen, wie der Fetisch des Kunstwerks dekonstruiert wurde und auf soziale und andere Beziehungen zurückgeführt wurde. Aber auch in diesem Feld gilt die Warnung zur Vorsicht, denn diese Verhältnisse einfach im Kunstfeld zu repräsentieren, reicht nicht aus. Die Sprache der Dinge zu übersetzen ist nicht dasselbe, wie Objekte zu eliminieren oder stattdessen Kollektive zu fetischisieren. Es geht eher darum, unerwartete Artikulationen zu erfinden, die nicht so sehr prekäre Formen des Lebens repräsentieren als vielmehr prekäre, riskante, gleichzeitig kühne und anmaßende Artikulationen von Objekten und ihren Verhältnissen vergegenwärtigen, die Modelle zukünftiger Formen der Verbindung darstellen könnten.
[2] Christopher Bracken, The Language of Things: Walter Benjamin's Primitive Thought, Semiotica 138-1/4, 2002, S. 338.
[3] Vgl. Walter Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften“. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Suhrkamp. Ffm, 1977. 63–135, S. 116.
[4] Ibid., S. 116.
[5] Mann mit der Kamera und Kinoprawda und Radioprawda.