In den Mobilisierungen zum EuroMayday1 und in zahlreichen Publikationen zum Thema Prekarisierung2 wird versucht, im Zustand der Prekarität das verbindende Element ganz unterschiedlicher Lebenssituationen im neoliberalisierten Empire zu finden – und vielleicht gar eine Basis für ein geteiltes gemeinsames, radikales Bewusstsein. In den Texten über Kognitariat und Migration, den Kämpfen der "Justice for Janitors" Kampagne in den USA und der "Intermittents" in Frankreich, in den mitreißenden Demonstrationen3 der EuroMayday-Paraden und deren Verbindung mit Mobilisierungen für migrantische Rechte entsteht ein Bild, das die theoretischen Überlegungen gerechtfertigt erscheinen lässt.
Hier ist ein Bericht über das Callcenter in London, in dem ich seit 2001 immer wieder mal gearbeitet habe – ganz zufrieden damit, immer dann, wenn andere Jobs ausblieben, darauf zurückgreifen zu können, aber auch zunehmend frustriert über die Zumutungen dieser monotonen und zunehmend kontrollierten Beschäftigung. Es wäre mir leichter gefallen, ein Flugblatt zum Thema Prekarisierung zu schreiben, als diesen Bericht. Die Alltagserfahrung im Callcenter sträubt sich dagegen, als Illustration politischer Überzeugungen hergenommen zu werden. Verbindungen zwischen einem drögen Arbeitsalltag und der bunten Praxis auf Planet Activism entstehen ganz offensichtlich nicht von selbst.
So ist das Anliegen der folgenden Montage ein bescheidenes: Die Arbeit in einem bestimmten Londoner Callcenter aus der Sicht einiger Kolleg/innen und meiner eigenen darzustellen. Die folgende Montage beruht auf meinen Tagebuchnotizen, Gesprächen und Interviews mit Kollegen und Kolleginnen. Alle Namen sind geändert.
"Wir sind alle in London und machen das Beste draus"
Um es gleich klarzustellen: Ich bin kein Callcenter-Agent. Eigentlich bin ich, wie die meisten hier, was ganz anderes. Wir sind Schauspieler, Web-designerinnen, Marketingleute, Sozialarbeiter, Toningenieurinnen, Studenten, Filmemacherinnen, Künstler, Journalisten, Schriftsteller und vieles mehr.
"Wer in London Fremdsprachen spricht, und jung genug ist, diesen Job machen zu wollen, lebt downtown, ist mitten drin im Geschehen."
Die Versprechungen der Metropole London mit ihrer Musik-, Unterhaltungs- und Medienszene ist für viele attraktiv. In einem sizilianischen Dorf etwa lebt es sich als schwuler Mann nicht besonders gut. Ein Punkmusiker findet in London eher Gleichgesinnte als in der deutschen Provinz. Ein Callcenter Job in London ist immer noch besser als gar kein Job im englischen Norden, in Kuba, Polen oder Portugal.
" [Der Job eignet sich ] für jemanden, der vorher keine berufliche Laufbahn verfolgt hat, jemanden, der studiert und diese Arbeit macht, um durchzukommen, oder jemanden, der die Zeit zwischen zwei Jobs überbrücken muss. Es ist noch nicht mal so schlecht, man arbeitet von 9 bis 5, man kriegt 3 Pfund mehr als den gesetzlich festgelegte Mindestlohn, das reicht, um soziale Beziehungen zu pflegen."
Wir arbeiten im Callcenter, weil wir, anders als zum Beispiel in der Gastronomie, mehr bezahlt kriegen als den gesetzlich festgelegten Mindestlohn, von dem wir hier in London noch nicht mal eine Tageskarte für die U-Bahn kaufen könnten, weil wir eigentlich ganz andere Projekte verfolgen und uns nicht auf einen dauerhaften Job festlegen wollen, weil wir außer unserer Mehrsprachigkeit und unseren gefälligen Telefonstimmen keine formalen Qualifikationen haben, oder weil wir neu in London sind und die, die wir haben, nicht zu Geld machen können.
"Das Callcenter wird als Sprungbrett genutzt, das Individuum, das seine Tore passiert, ist zwischendrin und unterwegs."
Jasmin und Erdem aus Deutschland haben gerade ihr Jurastudium beendet und sind auf der Suche nach einem besseren Job. Eduard aus der Ukraine studiert Betriebswirtschaft und trägt immer einen Anzug. Dean bringt sich gerade bei, Webseiten zu machen. Währenddessen verdient er im Callcenter mehr als in seinem alten Job als Sozialarbeiter und hat weniger Stress. Simon und Russel haben ihre gutbezahlten Jobs verloren, weil ihre Firmen pleite gemacht haben. Sabrina wollte nach ihrer Lehre zur Industriekauffrau raus aus der deutschen Provinz.
"Aber jemand, der einen richtigen Job gewöhnt ist – das kann nicht gutgehen ."
Und doch sind einige schon seit vier Jahren bei der gleichen Firma. Manche sind zu SupervisorInnen aufgestiegen oder hoffen gar auf einen festen Vertrag. Schließlich haben auch unsere Manager einmal als Interviewer angefangen...
Arbeitsabläufe
Wir sitzen in 8 Reihen mit jeweils 6 Terminals. An beiden Enden dieses Blocks ist je eine Supervisorin platziert. Egal wo du sitzt, eine von beiden hat dich und deinen Bildschirm immer im Blick. Nebeneinander stehende Bildschirme sind so aufgebaut, dass sie voneinander abgewandt sind, zum miteinander reden muss man sich halb drehen. Trennwände zwischen den einander gegenüberliegenden Terminals verhindern, dass wir einander sehen, aber nicht, dass wir uns durch die Trennwand unterhalten.
Das Callcenter betreibt Marktforschung. Über 40 Interviewer/innen rufen bei Firmen an und befragen die für einen bestimmten Bereich zuständigen Angestellten über ihre Einschätzungen und die Praktiken der jeweiligen Firma. Nur selten müssen wir Leute zu Hause anrufen, und wir müssen nichts verkaufen.
Die Standardabläufe sind immer die gleichen, 80, 100, 150 mal am Tag:
"Telefonnummer am Bildschirm aufrufen, Telefonnummer ins Telefon eintippen, auf die Verbindung warten, Sprüchlein aufsagen: "Guten Tag, hier ist soundso von xy, kann ich bitte mit dem Zuständigen für Stromleiterzyklisierung sprechen", in der Warteschlange grauenhafte Musik ertragen, weiterfragen, abgewimmelt werden, Notiz in die Bildschirmmaske eintragen: Ansprechpartner nicht am Platz, zurückrufen. Ansprechpartner in Urlaub, zurückrufen. Gespräch abgelehnt, Firmenpolitik. Abgelehnt, keine Zeit. Hörer auflegen, Maske schließen, neue Telefonnummer aufrufen."
Wenn man einen Namen für potenzielle AnsprechpartnerInnen hat, ist es einfacher durchzukommen. Manchmal findet sich was Brauchbares über Google. Mit der Zeit findet man sich in den diversen Firmenstrukturen besser zurecht, lernt die Sesam-öffne-dich Formulierungen, mit denen man an den Torhütern der verschiedenen Abteilungen vorbeikommt.
Aus über 100 Anrufen pro Tag ergeben sich selten mehr als fünf Interviews. Die Interviewfragen müssen wörtlich vom Bildschirm abgelesen werden. Wer beim Umformulieren erwischt wird, wird später vom Supervisor gerügt. Die Antworten, Bewertungen auf einer Skala von eins bis fünf, Antworten auf Multiple-Choice-Fragen usw., werden direkt in den Computer eingegeben, anschließend serviert das Programm die nächste Frage.
Cyborgs: "wie Charly Chaplin in "'Modern Times'"
Während des Telefonierens, acht Stunden täglich mit einer Stunde Mittagspause, ist der Körper in kommunikationstechnologische Gerätschaften eingespannt:
"Deine Augen sind auf den Bildschirm fixiert, über deinen Ohren sitzt der Kopfhörer, vor deinem Mund ist ein Mikrofon, deine Finger bewegen sich zwischen Tastatur, Maus und den Wahltasten des Telefons. Sehen, Hören, Fühlen stehen im Dienst der Arbeit, deine Sinne sind auf die Bedürfnisse der Caty-Callcentersoftware reduziert.Es ist wie bei Charlie Chaplin in 'Modern Times'. Der Geschmackssinn ist außer Kraft gesetzt, denn deinen Mund brauchst Du zum Reden"
Auch nach der Arbeit kann dieser cyborgartige Zustand im Körper eingeschrieben bleiben:
"Nachdem ich eine Woche lang ständig auf den Bildschirm gestarrt hatte, konnte ich meine Augen auf nichts anderes mehr fokussieren. Wenn ich im Gespräch Blickkontakt mit jemandem aufnehmen wollte, taten mir die Augen weh. Ich fand es irritierend, ohne Blickkontakt mit jemandem zu reden, für eine Weile bin ich Gesprächen aus dem Weg gegangen. Inzwischen haben sich meine Augen dran gewöhnt. Als freundliche Geste bietet uns die Firma ein Sonderangebot für Brillen an – 50 Pfund das Paar."
"Wenn ich abends nach der Arbeit, oder am Wochenende, privat telefoniere, tippen meine Finger immer noch automatisch die Vorwahl "9" ein. Manchmal bin ich drauf und dran, mein Sprüchlein von der Arbeit aufzusagen, sobald ich am Telefon bin."
Manche haben einen regelrechten Hass auf das Headset:
"Und dann ist da der Kopfhörer mit dem Mikrofon, das war mir peinlich. Das war Callcenter-Uniform. Wenn ich das verdammte Ding aufhatte, hatte ich dauernd Sorge, dass man abends, wenn ich in die Stadt ging, sehen könnte, dass ich den ganzen Tag ein Headset getragen hatte, weil es schließlich die Frisur beschädigt."
"... fast wie beim Militär"
Jeden Abend müssen wir unsere Schreibtische leer räumen und die wenigen Arbeitsunterlagen in einem speziellen Eingangskörbchen deponieren. Außer Telefon und Computer darf nichts auf den Schreibtischen zurückbleiben – keine Papierstöße, keine Kaffeetasse, keine Stifte, Fotos, Ordner, Locher, Büroklammern, Zettel. Zuwiderhandlungen werden mit Ermahnungen auf kleinen gelben post-it-Zetteln geahndet, die man am nächsten Morgen auf der Tastatur vorfindet.
"Es ist fast wie beim Militär, wo sie dir jegliche Individualität wegnehmen, bis hin zu... Sie könnten dir grad so gut auch noch den Kopf rasieren. Alles ist uniformiert – du darfst nichts Persönliches auf dem Schreibtisch haben. Hier gibt's nichts Persönliches."
Essen am Schreibtisch ist nicht erlaubt. Dazu ist die Teeküche da, durch Glasscheiben vom übrigen Büro abgetrennt, von allen Seiten einsehbar. Manche wärmen sich dort ihr Mittagessen auf, dann weht der Geruch von Thunfischspaghetti oder Gemüsereis durch die Schreibtischreihen. Das Management ist ständig darum bemüht, uns anzugewöhnen, dass wir uns nur in den Pausen oder vor Arbeitsbeginn Kaffee holen.
Wer an welchem Schreibtisch sitzt, wird vom Büromanagement entschieden. In manchen Firmen werden die Arbeitsplätze täglich nach dem Prinzip "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" verteilt, hier haben wir immerhin für die Dauer eines Projekts den gleichen Platz.
Wie beim Militär gibt es auch hier kleine Siege: Eine Kollegin hat wie eine Löwin um einen dauerhaften Schreibtisch gekämpft. Eine andere hat es geschafft, sich den einzigen Bildschirm im Büro zu sichern, der nicht von einer Supervisorin eingesehen werden kann.
Auch manche Supervisoren sind von diesem quasi-militärischen Regime nicht gerade begeistert. Einer ermahnte mich wegen einer Kaffeetassenlappalie, um dann hinzuzufügen: "Ich komme mir vor wie ein Polizist".
"Die monitoren dich ja!"
"Alles wird immerzu gemessen, das ist das Ding mit diesem Job, es wird auf Schritt und Tritt gemessen. Erstens können Deine Telefonate mitgehört werden, zweitens kann sich jemand in Deinen Computer einloggen und sehen, was du auf dem Bildschirm hast. Weil Du ständig unter Beobachtung bist, ist der Stresslevel enorm. Ich meine, in den ersten paar Wochen schwitzt Du die ganze Zeit vor Angst. Und am Abend tut dein Hals weh, und dein Rücken tut weh, und deine Ohren tun weh, und deine Augen tun weh, und alles tut weh, alles für einen doch ziemlich undankbaren Job."
Eine Kollegin schaut mir über die Schulter und sagt: "Die monitoren dich ja!" Ich frage: "Wie weißt du das?", und sie macht mich auf ein kleines Icon am unteren Bildschirmrand aufmerksam. Wenn ich den Cursor darüberhalte, erscheint der Name meiner Bewacherin. Nicht alle im Büro wissen dieses Icon zu interpretieren:
"Ich denke mal, dass die Leute, die von Zeitarbeitsfirmen kommen, das nicht wissen. Die leben eben in Angst und schauen, dass sie klarkommen, weil sie nicht wissen, ob man sie beobachtet oder nicht. Aber erfahrene Leute wissen, wann jemand sich in ihren Bildschirm eingeloggt hat, und können sich entsprechend verhalten."
Dass Supervisorinnen ausgewählte Interviews mithören, ist Routine. Dass auch die Bildschirme routinemäßig überwacht wurden, war mir neu. Einem neuen Gesetz zufolge darf man nicht mehr ohne eigenes Wissen überwacht werden. Immerhin weiß ich jetzt, wer jeden einzelnen Schritt verfolgt, den ich auf diesem Computer mache. Ich hoffe nur, dass sie gerade nicht hingesehen haben, als ich die Indymedia-Webseite aktualisiert habe, und dass niemand das Chatroom-Fenster bemerkt hat...
In der Callcenter-Untersuchung von Kolinko wird beschrieben, wie man in manchen Firmen noch die kleinste Pinkelpause ins System eingeben muss, oder wie das System selbst auf "ohne Grund abwesend" schaltet, wenn der Hörer nicht abgehoben wird.4
Hier dagegen herrscht eine seltsame Kombination aus hochtechnisierten und altertümlichen Kontrollmethoden. Technisch gesehen, kann das Management Statistiken über alles mögliche erstellen: Wie lange wir im Internet gesurft haben, wie oft wir in Prozent der Monatsarbeitszeit gefehlt haben, wieviele Minuten jemand durchschnittlich zu spät kommt, wieviele Interviews jede/r einzelne durchschnittlich und im Vergleich zu anderen abschließt, und so weiter. Gelegentlich werden Leistungsstatistiken in bunten Farben ausgedruckt, ausgehängt und von den meisten InterviewerInnen ignoriert.
Eine Stechuhr gibt es nicht. Diese Funktion übernehmen die Supervisorinnen, die Ankunft und Arbeitsende jedes einzelnen von Hand notieren und dann in eine Tabelle übertragen. Wer zu spät dran ist, wird auf dem Weg zum Schreibtisch zurückgerufen und muss sich rechtfertigen:
- Du bist vier Minuten zu spät – warum?
- Ich habe den Zug verpasst.
- Warum hast Du nicht angerufen?
- Weil ich den nächsten Zug nicht auch verpassen wollte.
- Bitte denk das nächste Mal dran: Wenn Du zu spät dran bist, musst Du anrufen.
- In Ordnung.
"It rains from the top": Distinktion und Selbsterhaltung
Wer wo sitzt, wer welche Regeln einzuhalten hat und wer sich über sie hinwegsetzen kann, wer mit welchen Projekten beauftragt wird, wer welche Art von Vertrag hat, und wer mit wem rauchen geht, daran lässt sich die Position der Einzelnen in der komplexen internen Hierarchie ablesen. Oder besser gesagt, anhand solcher Signale ordnen wir uns selbst ein.
Ganz unten sind die Leute von der Zeitarbeitsagentur. Dann kommen diejenigen, die ihre Verträge direkt von der Firma bekommen, und alle, die nicht die Caty-Callcentersoftware benutzen müssen, also etwa sogenannte qualitative Interviews führen. Ein Kollege betont den Unterschied:
"Du brauchst keinem vorgegebenen Skript mehr zu folgen. Es wird von dir erwartet, dass du deinen Mund benutzt, dass du ein Individuum bist. Es ist ein völlig andres Paar Stiefel (...) Wenn Du mit CEOs sprichst, darfst du keine Angst haben. Du musst mit ihnen reden, als ob Du selber einer wärst."
Er legt großen Wert darauf, gewisse Freiräume zu behaupten, die ihm seiner Meinung nach zustehen:
"Dass es zwei verschiedene Regelsysteme nebeneinander gibt, führt im Büro dauernd zu Kämpfen. Das eine gilt für die einen, das andere für die anderen. Von Zeit zu Zeit versuchen sie [das Management], dieses Gleichgewicht zu korrigieren, und versuchen die alten Caty-Regeln auch für die qualitative Forschung durchzusetzen. Und das funktioniert einfach nicht. Denn von jemandem, der Eigeninitiative zeigen soll, kannst du nicht erwarten, dass er Regeln über Kaffeetassen einhält."
Die Arbeitssituation im Callcenter steht in eklatantem Widerspruch zu der Aufgabe, von gleich zu gleich mit dem Führungspersonal großer Firmen zu sprechen:
"Wenn du Führungsleute interviewst, musst du davon ablenken, dass der Anruf aus einem Callcenter kommt. (...) Das ganze ist schon eine Augenauswischerei, es fühlt sich verlogen an, naja, es ist verlogen. Und du hast die ganze Zeit das Gefühl, wenn sie dich tatsächlich sehen könnten, wie du am anderen Ende der Telefonleitung sitzt,wenn sie die ganze Umgebung sehen könnten, dann würden sie auflegen und nie wieder mit uns ins Geschäft kommen. (...) Aber sie sehen deinen Schreibtisch nicht, sie sehen nicht deine schäbige Kleidung, sie sehen nicht, dass du dich nicht rasiert hast, sie sehen nicht dein Headset (lacht). Das wäre das Ende, definitiv.
Die Supervisorinnen sind deutlich von den Interviewern geschieden. Aus der Sicht eines Interviewers:
"Die Supervisoren sind ganz abgeschottet, wie von Mauern umgeben, und sie begegnen dir wie jemand, der in die Schlacht zieht. Da ist dieses Meer von Interviewern, und dann die Mauer der Supervisoren. (...) Es ist eine "Walled Society", so eine Art "wir gegen sie"-Angelegenheit. Du könntest sie direkt in einen Glaskasten auf ein Podest setzen, und sie auf das Callcenter runterschauen lassen."
Diese metaphorischen Mauern spiegeln sich in der Büroarchitektur wider: Größere Schreibtische mit Sichtschutz für die Supervisoren, ein separates Büro für eine Handvoll Programmierer und Manager, und an der Spitze sitzt der Chef in seinem gläsernen Einzelkabuff, mit Blick auf's Großraumbüro und den Eingang zur Küche.
Ein Kollege ist vom Interviewer zum Supervisor aufgestiegen. Für ihn hat sich viel verändert:
"Als Supervisor verlierst du den Draht zu deinen Kollegen. Du kannst nicht mehr mit ihnen lachen. Du hast all diese Meetings, und dir wird klar, dass alles um Profit geht. Du denkst an die Arbeit, auch wenn du nicht arbeitest. Deine Persönlichkeit verändert sich."
Zumutungen und Kreativität
Wir sollen mit der Präzision und Vorhersehbarkeit von Robotern arbeiten. Die Standardisierung der Arbeitsabläufe ist ein wichtiges Anliegen des Managements. Interviewer sollen jederzeit austauschbar sein. Das fängt bei der "Clear Desk Policy" an und geht bis zu den Farben, mit denen Excel-Tabellen markiert werden. Alle Vorgänge sollen im Computer festgehalten werden. Wir sind gehalten, jedes Interview mit der gleichen Formulierung abzuschließen. Fachwissen über die jeweiligen Themen ist nicht nötig:
"Es wird nicht von Dir erwartet, dass Du Bescheid weißt. Das ist nicht dein Job. Dafür gibt es andere Leute, die größer und besser sind als du, die nennt man Analysten und Consultants. Und von den Leuten, die du anrufst, wird erwartet, dass sie wissen, wovon du redest. Du bist nur das Äffchen in der Mitte, das Sätze papageienhaft wiederholt und hofft, dass derjenige, der den Fragebogen entworfen hat, dich nicht wie einen Deppen aussehen lässt."
Manche Kollegen begegnen dieser Reduzierung auf die Rolle eines besseren Anrufbeantworters, indem sie sich ein Gefühl der Verantwortung bewahren:
"Das ist eine Sache, wenn du am Ende einer Telefonleitung hängst: Du fühlst dich als Individuum oder als Mensch verantwortlich, du möchtest etwas richtig machen."
Bei aller Monotonie erfordert der Job kommunikative Kreativität. Interviewer müssen in der Lage sein, dem Gegenüber am anderen Ende der Telefonleitung den Eindruck zu vermitteln, dass ihr Anliegen in irgendeiner Weise wert ist, weitervermittelt zu werden. Rezeptionistinnen und Abteilungssekretärinnen sind oft gehalten, solche Anrufe nicht weiterzuvermitteln, und müssen, wie die geplagten Ansprechpartner, unter Einsatz von Stimme und Tonfall, durch Charme, vorgebliche Kompetenz, Autorität etc. zur Teilnahme überredet werden. Eine Kollegin stellt ihre Strategie vor:
"Du konzentrierst dich darauf, diese echt unheimlich interessante Gesprächspartnerin von einer qualitativ hochstehenden Forschungseinrichtung zu sein. Du versuchst, die Studie echt wahnsinnig interessant zu finden. Du machst deine Stimme vertrauenswürdig, professionell, begeistert. Ich habe festgestellt, dass mein überzeugendstes Argument ein soziales war: Wir verstehen uns, wir haben dieselben Interessen."
Während des Vorlesens der oft monotonen Interviewfragen muss der Ansprechpartner bei Laune gehalten werden. Das kann so gehen:
"Du musst die Fiktion aufrechterhalten, dass du tatsächlich ein echter Mensch bist. Du machst Bemerkungen über das Wetter oder das bevorstehende Wochenende, und sagst Dinge wie "sehr interessant" oder "das leitet zu meiner nächsten Frage über". (...) Wenn du mit dem Interview durch bist, fühlst du dich gut: dein Ruf im Büro hängt davon ab, viele Interviews zu kriegen."
Es ist möglich, einen gewissen Grad an professioneller Selbstachtung aus der eigenen Kommunikationskompetenz herauszuziehen. Manchmal ist das allerdings zweischneidig, etwa wenn der Flirtfaktor eingesetzt wird:
"Nette weibliche Stimme ist unglaublich interessiert an der wichtigen Arbeit eines wichtigen Angestellten. Es hat sich fast wie eine Art Prostitution angefühlt. Als mir das klarwurde, habe ich meine Strategie geändert. Ich hatte dieser Firma zwar meine Sprachkompetenz verkauft, aber nicht die Weichheit meiner Stimme, meinen Sinn für Humor. Nicht für dieses Gehalt."
Auch Männer haben sich mit dem Geschlechterverhältnis auseinanderzusetzen, wenn auch in etwas anderer Weise:
"Wenn ich mit Frauen spreche, spielt das Flirten schon eine Rolle. Mit Männern muss ich von gleich zu gleich sprechen, was schwierig ist. Es fällt mir sehr schwer, Interviews mit anderen Männern zu führen, weil ich mich, ähm, als underdog fühle. Ich hatte das Gefühl, dass sie dort am anderen Ende des Telefons wahrscheinlich vor sich hin grinsen – wer ist dieser Idiot..."
Viele Regeln werden bei der Jagd nach willigen Ansprechpartnern unterlaufen: Manche "reservieren" sich die Kontakte, die sie aufgespürt haben, indem sie sie innerhalb der von allen genutzten Datenbank "verstecken", oder machen sich Notizen auf Papier, was im "papierfreien Büro" nicht gern gesehen wird und der "Clear Desk Policy" zuwiderläuft. Einer führte Interviews ohne Headset, nur mit dem Telefonhörer, durch. Eine andere verbringt Stunden damit, Standardemails zu entwerfen, mit dem Argument, dadurch mehr Ansprechpartner zur Teilnahme an Marktforschungsprojekten überzeugen zu können. Solche Regelverletzungen werden einerseits geahndet, andererseits aber auch stillschweigend toleriert. Auf diese Art kann das Management den Kuchen gleichzeitig behalten und aufessen: Die strenge Disziplin wird als Regel aufrechterhalten, Zuwiderhandlungen werden toleriert, wenn sie zum Erfolg führen, und das Risiko, "erwischt" zu werden, tragen die Interviewer. Ich vermute, dass dies auch der Grund ist, warum die vielen kleinen Wege der regelverletzenden Selbstmotivation bis zu einem gewissen Grad toleriert werden: heimliches Surfen im Internet, Emails schreiben, unangemeldete Privatanrufe, usw.
Vielleicht ist es diese Spannung, die einen Kollegen über seine Gefühle während der Arbeit im Callcenter folgendes sagen lässt:
- "Wie hast Du Dich gefühlt, als Du angefangen hast, im Callcenter zu arbeiten?"
- "Ich habe mich geschämt. Es war mir sehr peinlich, dort zu arbeiten. Ich konnte niemandem sagen, was ich eigentlich mache. Ich fühlte mich gedemütigt."
"You pay peanuts, you get monkeys"
Wer direkt von der Firma bezahlt wird, statt von einer Zeitarbeitsagentur, bekommt einen befristeten, sogenannten "Null-Stunden-Vertrag". Darin wird festgelegt, dass wir auf Abruf bereitzustehen, aber keinen Anspruch auf regelmäßige Arbeit haben:
"Der Vertrag ist so unverbindlich. Im Grunde genommen sieht es so aus, dass der Arbeitgeber alle Rechte hat und Du hast keine. Sie können Dich jederzeit zur Arbeit bestellen, sie können dich wie einen Vollzeitangestellten behandeln, aber ohne Dir irgendwelche Sozialleistungen zu geben (...). Im gleichen Atemzug trägst Du andauernd das gesamte Risiko, jederzeit ohne Arbeit dazustehen. (...) Und das ist ein bedrückender Zustand für alle. Es macht keinen Unterschied, wieviele Jahre Du schon dort arbeitest, Du hast ständig das Gefühl, dass Du nächste Woche vielleicht ohne Arbeit dastehst. (...) Du hast keine Zeit, darauf zu reagieren und Dir anderswo einen Job zu suchen. In so einer Situation musst Du einen zweiten Job haben. Im gleichen Atemzug kriegst Du keinen bezahlten Urlaub, Du musst Dich abmelden, wenn Du krank bist, Du musst Bescheid sagen, wenn Du nicht kommst, Du musst anmelden, wenn Du einen Tag freinehmen willst, aber andersrum brauchen sie überhaupt keine Kündigungsfristen einzuhalten."
Die Einführung in die Arbeit im Callcenter fand anfangs außerhalb der Arbeitszeit statt:
"I was trained. Du hast Deine Einführung an einem Samstag, unbezahlt (...). So opferst du deine Zeit an einem Samstag, du gehst und kriegst dein Training. Alles dreht sich um die "Bottomline", es wird alles getan, was nötig ist, um das "Dollarinteresse" zu schützen."
Unter diesen Umständen sinkt die Motivation auf ein Minimum, und die Lücke zwischen den Anforderungen des Unternehmens an die Interviewer und dem, was umgekehrt geboten wird, wächst:
"Es ist fast schon eine Frechheit, wenn das Unternehmen von den Mitarbeitern verlangt, mit ihrem Zeitmanagement engagiert und eigenverantwortlich umzugehen. Denn wenn Du nicht dabist, wirst Du nicht bezahlt. (...) Wenn Du eine Stunde zu spät kommst, wirst Du nicht bezahlt, aber geschimpft wirst Du trotzdem."
Verfestigung der Hierarchien
Seit ich im Jahr 2001 zum ersten Mal bei dieser Firma gearbeitet habe, hat sie zweimal das Büro gewechselt. Die Arbeit ist die gleiche geblieben, aber jedesmal haben sich die internen Hierarchien verfestigt, wurde die Kontrolle intensiviert.
Im ersten Büro waren die Hierarchien relativ flach. Supervisoren, Management und Interviewer hatten die gleichen Verträge, mit weitgehend geringfügigen Unterschieden in der Bezahlung. Interviewer wurden manchmal als Supervisoren eingesetzt, Manager führten auch mal ein Interview. Der damalige Büromanager sorgte dafür, dass in der Teeküche eine Auswahl an Kräuterteemischungen bereitstand, und organisierte gelegentliche Exkursionen zum Altpapiercontainer um die Ecke.
Wir hatten Zugang zu Dokumenten auf den Servern der Firma und natürlich auch zu unseren eigenen Laufwerken. Als die Computer anlässlich des Umzugs überprüft wurden, stellte sich heraus, dass wir den Zugang zum Internet zu nutzen gewusst hatten: Auf den Festplatten fanden sich Unmengen von Software, Bildern und mp3s, von Standardanwendungen wie Realplayer und Acrobat Reader bis zu Gaming und Bildbearbeitungsprogrammen.
Kein Wunder, denn abends nach fünf verwandelte sich das Büro in eine Art Internetcafé. Wer noch da ist, zündet sich eine Zigarette an, schreibt Mails oder telefoniert, jemand spielt Kylie Minogue Songs ab, ein anderer macht das Design für einen Partyflyer fertig. Man zeigt sich gegenseitig, wie das mit dem Herunterladen und Installieren funktioniert, wie man einen Hotmailaccount anlegt, wie man Bilder bearbeiten oder auf Indymedia posten kann. Die meisten haben ihr eigenes "Wallpaper" auf dem Bildschirm. Und danach geht man noch zusammen einen trinken – Silicon Valley. Viele haben diese Zeit dazu genutzt, sich Internet- und Computerkompetenzen anzueignen. Als eine Abendschicht eingeführt wurde, war es aus damit.
Die zweite Station war ein luxuriöses "Managed Office", wo junge Frauen im Bürokostüm die Tee- und Kaffeevorräte auffüllten, wo ergonomisch geformte Schreibtische aus hellem Holz, in gefälligen, kommunikationsfördernden Kleingruppen und ohne Trennwände angeordnet waren. Als wir einzogen und, noch ganz im Geist von Silicon Valley, unsere Computer angeschlossen hatten, wischte der Büromanager eigenhändig jeden Telefonhörer mit einem desinfizierten Läppchen ab. Wir hatten abschließbare Schreibtischubladen. Die Teeküche war eng, aber außerhalb des eigentlichen Büros, so dass man sich nicht ständig beobachtet fühlte. Büromaterial konnte man sich selbst nehmen. Wir hatten Ausweise, mit denen wir das Eingangstor selbst öffnen konnten und mussten nicht, wie später, über die Sprechanlage um Einlass bitten. Wer wollte, konnte sich der Illusion hingeben, einen "richtigen" Job zu haben.
Das Management kam zu dem Schluss, dass dieser Mangel an Kontrolle dazu geführt hatte, dass Interviewer ihren Arbeitgeber "ausgenutzt" hätten. Entsprechend wurde das nächste Büro so eingerichtet, dass es quasi dem Bauplan eines Foucaultschen Panoptikums entspricht – willkommen im Callcenter!
2 Vgl etwa die Textsammlungen in Arranca 31, erschienen im Frühjahr 2005, trägt den Titel: "age of precarius - prekär und permanent aktiv", Fantomas 6 vom Winter 2004/05 steht unter dem Motto "Prekäre Zeiten".
3 Über den EuroMayday in Barcelona, 2004, schreibt Gerald Raunig: La inseguridad vencerá. Antiprekaritärer Aktivismus und Mayday Parades. Republicart, online: http://eipcp.net/transversal/0704/raunig/de
4Kolinko: hotlines – Call Centre. Inquiry. Communism. Duisburg 2002. Siehe das Kapitel: Work steps - login and kiss your dreams goodbye, S.54. Deutsche Online-Version am 12. April 05: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/lebuk/d_buk_5.htm#5.4