Übersetzt von Michael Sander
Die Stärke einer
politischen Bewegung liegt nicht nur in ihrer Fähigkeit,
ein konkretes Ziel zu erreichen. Erfolge dieser Art hängen
hauptsächlich von der Konjunktur der Kräfteverhältnisse
ab. Die Stärke einer Bewegung zeigt sich vielmehr in
ihrem Potenzial, neue Fragen aufzuwerfen und neue
Antworten zu ge'ben. Und soviel ist sicher: Die Kämpfe
der prekär beschäftigten französischen
KulturarbeiterInnen haben neue Fragen gestellt, die neue
Antworten erfordern.[1]
Seit dem 1. Januar 2004 ist in Frankreich eine neue Regelung in Kraft. Diese Vereinbarung sieht für hun'derttausende Arbeitslose den Wegfall oder die Verringerung ihrer Ansprüche vor. Betroffen sind die so genannten intermittents du spectacle, "frei" arbeitende Kulturschaffende. Für diese galt bislang eine ei'gene Regelung: die so genannte "kulturelle Ausnahme". Danach wurden KulturarbeiterInnen, sofern sie zwischen zwei Produktionen keine Einnahmen hatten, aus der Arbeitslosenkasse bezahlt – unter der (für viele bereits kaum zu erfüllenden) Bedingung, dass sie für insgesamt zwölf Monate 507 Stunden Arbeit nachweisen konnten. Daraus ergab sich ein zwölfmonatiger Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Nachdem jedoch Unternehmen und drei Gewerkschaften im Sommer letzten Jahres das "Protokoll Unedic" zur Neuregelung der Arbeitslosenversicherung unterzeichneten, gilt diese Regelung seit diesem Jahr nicht mehr. Nun muss die gleiche Anzahl an Stunden in elf Monaten nachgewiesen werden, und Arbeitslosen'unterstützung gibt’s nur noch für acht Monate. Dadurch fallen 35% der zuvor Anspruchsberechtigten aus dem Leistungsbezug heraus.
"Wir sind Darsteller, Interpreten, Techniker. Wir beteiligen uns an der Produktion von Theaterstücken, Tanz- und Zirkusschauspielen, Konzerten, Schallplatten, Dokumentar- und Spielfilmen, Fernsehshows, Reality-TV, Abendnachrichten und der Werbung. Wir stehen vor und hinter der Kamera, auf der Bühne und in den Kulissen, wir sind auf der Straße, in den Klassenzimmern, den Gefängnissen, den Kranken'häusern. Die Strukturen, in denen wir beschäftigt sind, reichen von Non-Profit-Projekten bis zu börsen'notierten Unterhaltungskonzernen. Als Beteiligte sowohl an der Kunst wie auch an der Industrie sind wir einer doppelten Flexibilität unterworfen: flexible Arbeitszeit und flexible Entlohnung. Die Regelung zur Versicherung und zur Arbeitslosigkeit der Intermittents du spectacle ist ursprünglich aus dem Bedürfnis entstanden, ein kontinuierliches Einkommen zu sichern, das die Diskontinuität von Beschäftigungsver'hältnissen abfedert. Die Regelung ermöglicht es, die Produktion flexibel zu gestalten und die Mobilität der Lohnabhängigen zwischen verschiedenen Projekten, Sektoren und Beschäftigungen sicherzustellen." [2]
And.... action!
Mit Demonstrationen und spektakulären Besetzungs- und Streikaktionen haben die Intermittents den ganzen Sommer 2003 lang Widerstand geleistet. Zahlreiche Kulturveranstaltungen mussten abgesagt werden oder wurden in Diskussionsforen umgewandelt; eines Abends gelang es AktivistenInnne sogar, die Übertragung der Abendnachrichten des öffentlichen Fernsehkanals France 2 zu unterbrechen. Organi'siert in lokalen, landesweit vernetzten Koordinationen werfen die Intermittents die Frage der prekären Arbeit auf; auch über den Bereich der Kulturproduktion hinaus. In ihren Kämpfen geht es um mehr als bloße "Gehalts"forderungen. Sie attackieren nicht nur ein juristisches oder ökonomisches Unterordnungs'verhältnis gegenüber einem öffentlichen oder privaten Arbeitgeber. Sie zeigen uns vielmehr, dass es darum geht, die Grundlagen der Produktion öffentlicher Güter wie Bildung und Kultur anzugreifen – samt der zugehörigen institutionellen Verfahren und Verwertungstechnologien: der Finanzierung von Kultur, der Verteilung von Zugangsrechten und schließlich der Produktion von KonsumentInnen-Subjektivitäten durch Schulen, Kulturindustrie und Medien.
"Dieser Konflikt hat bei uns zu einer vertieften Reflexion über unsere Berufe geführt. In einer Epoche, in der die Verwertung der Arbeit mehr und mehr darauf beruht, dass die Individuen sich mit all ihren sub'jektiven Ressourcen in ihre Beschäftigung einbringen, und in welcher der dieser Subjektivität zugestan'dene Raum immer mehr eingeschränkt und formatiert wird, stellt dieser Kampf einen Akt des Wider'stands dar: Es geht darum, dass wir uns den Sinn unserer Arbeit auf persönlicher und kollektiver Ebene wieder aneignen."
Kultur- und Kommunikationsindustrie sind nicht einfach neue Felder der kapitalistischen Akkumulation sondern produzieren darüber hinaus Begehren, Glauben und Affekte in den Kontrollgesellschaften. Die Intermittents besetzen dabei eine Schnittstelle zwischen diesen Industrien, der Produktion von Öffent'lichkeit und den KonsumentInnen der verschiedenen Kulturindustrien. Im Grunde kann schon längst nicht mehr von einer "Sonderstellung der Kultur" gesprochen werden: Erstens, weil kulturelle Praktiken längst integraler Bestandteil der kapitalistischen Produktion sind. Und zweitens, weil die Produktion von Affekten der materiellen Produktion vorausgeht. Die durch Marketing, Werbung, Kommunikationspolitik und künstlerische Praxis produzierte KonsumentInnen-Subjektivität ist grundlegende Voraussetzung von Kul'turindustrie und doch auf ihre kulturindustrielle Verwertung nicht zu begrenzen. Die Arbeitslosen-"Reform" mit ihrer impliziten Förderung von Konzernkunst beschleunigt die Standardisierung und Nor'mierung dieser Verallgemeinerung kultureller Produktion und Konsumtion.
"Die neue Regelung schont nur eine Kategorie von Lohnabhängigen, nämlich die Gruppe mit regelmäßi'gen Verträgen. Ursprünglich sollte es darum gehen, in Bereichen, in denen die Profitlogik nicht an erster Stelle steht, eine Kontinuität des Einkommens zu sichern. Nunmehr werden allein die rentabelsten Unter'nehmen – insbesondere die der audiovisuellen Industrie – weiterhin aus Arbeitskräften Profit ziehen, die mehr als je zuvor gezwungen sind, den ,Inhalt’ und die Arbeitsbedingungen der vorgeschlagenen Be'schäftigungen zu akzeptieren."
Die Intermittents als Akteure und Betroffene dieser Situation stellen die Frage nach den Möglichkeiten, sich dieser kapitalistischen Besetzung der Affekte zu entziehen und fordern uns dazu auf, die zeitgenössi'schen Formen der Ausbeutung genauer zu untersuchen. Wie der Industriekapitalismus sich die natürli'chen Rohstoffe und die Arbeitskraft aneignete, um sie für die Produktion materieller Güter auszubeuten, so ergreift der zeitgenössische Kapitalismus die kulturellen und künstlerischen Ressourcen, um sie der Logik des Profits zu unterwerfen – allerdings ohne die Kosten der Produktion zu tragen.
"Als Angriff auf die kollektiven Rechte führt diese ,Reform’ eine bestimmte Idee der kulturellen Ausnahme ein: eine Vitrinenkunst mit ihren besonders geförderten Vorzeigeprojekten einerseits und eine Industrie standardisierter Kultur andererseits, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist."
Für die Verallgemeinerung der "kulturellen Ausnahme"...
Im Laufe der Bewegung der Intermittents haben die Hoteliers, Gastronomen und Händler aus Aix-en-Provence eine Klage gegen unbekannt eingereicht. Die Absage des "festival d´art lyrique" durch seinen Direktor aufgrund des Streiks der Intermittents führte zu einem Umsatzrückgang von 30% für die örtliche Tourismusindustrie. Die Tourismusindustrie ist gemeinsam mit der Kultur- und Kommunikationsindustrie am begierigsten nach kulturellen und künstlerischen Ressourcen: nach Traditionen, Lebensformen, Riten, Weltsichten ebenso wie nach Festivals, Theater, Kunstwerken aller Art. Die Tourismusindustrie kolonisiert öffentliche Güter wie Kunstwerke, Architekturen, Landschaften oder historische Stadtzentren, eignet sich diese kostenlos an und verändert ihren Status: vom "Erbe der Menschheit" zum Privaterbe der Industrie und des Tourismus. Ein Gang durch die historische Innenstadt einer beliebigen europäischen Stadt ge'nügt, um zu verstehen, wie die Umwandlung der Erfahrung von Zeit und Raum in Warenform geschieht. Dies ist nicht nur eine ungeheure Reduktion sozialer Öffentlichkeit auf das Begriffspaar "Anbieter" und "Kundschaft". Eine riesige Menge Arbeit wird außerdem ohne jegliche finanzielle Gegenleistung verwertet.
"In der der Neuregelung zu Grunde liegenden strikt buchhalterischen Sichtweise ist die Beschäftigung die einzige Berechnungsgrundlage; es wird nur ausgezahlt, was dem Volumen der abgeführten Sozialabga'ben entspricht. Der darüber hinausgehende Teil des gesellschaftlich produzierten Reichtums wird nicht berücksichtigt."
Für die sozialen Rechte als Kulturschaffende einzutreten, ist prinzipiell aus zwei Richtungen möglich. Ein'mal, indem man auf der "kulturellen Ausnahme" im Sinne eines Berufsstands-Privilegs besteht. Und ein'mal, indem man die Absicherung künstlerischer Prekarität als Exempel für alle Prekären versteht und damit die eigenen, zunächst begrenzten Forderungen einschreibt in den gesellschaftlichen Kampf um soziale Rechte.
"Ist es nicht symptomatisch, dass in das, was ein Modell für andere Kategorien von Prekären sein könnte, systematisch eine Bresche geschlagen werden soll? Die Ausarbeitung eines auf der Realität unserer Prak'tiken basierenden Arbeitslosenversicherungsmodells ist eine offene Diskussions-Grundlage für alle For'men der Wiederaneignung, der Verbreitung und Ausweitung des Kampfes auf andere Bereiche."
Letztere Perspektive ermöglicht es zudem, generelle Merkmale postfordistischer Arbeitsverhältnisse aus der neoliberalen Individualisierungsrhetorik zu lösen und als Terrain politischer Kämpfe sichtbar zu ma'chen.
"Unsere Forderungen haben nichts mit einem Kampf um Privilegien zu tun: Flexibilität und Mobilität, die zu einer allgemeinen Anforderung werden, dürfen nicht zu Prekarität und Elend führen. Die Erarbeitung eines Konzepts von Arbeitslosengeld, das die Realität unserer Tätigkeiten anerkennt, also die Kontinuität der Aktivitäten und die Diskontinuität der Entlohnung, öffnet die Tür für Formen der Wiederaneignung und Zirkulation."
... und die Aneignung des Sozialen
Die Kämpfe der Intermittents vom vergangenen Jahr fordern uns also dazu auf, neue Fragen zu stellen und neue Antworten zu finden. Es geht darum, die Unterordnung unter die Bedingungen von öffentlicher oder privater "Arbeit" zu unterlaufen, die Produktion öffentlicher Güter jenseits ihrer Verwertung durchs Kapital anzukurbeln und schließlich darum, produktive Zeit von Entlohnung zu koppeln, um so den Zu'gang aller zu nicht überwachten Lebensabschnitten sicherzustellen. Es geht darum, Trennungen aufzuhe'ben: zwischen der Erfindung und der Reproduktion kultureller Güter, zwischen Produzierenden und Nut'zenden, zwischen ExpertInnen und Laien. Der Kampf der Intermittents um soziale Rechte, konkret: um ein staatlich garantiertes System sozialer Sicherung ist dafür gerade deshalb Voraussetzung, weil er über diese Forderung hinausreicht, wenn er die Reproduktion staatskonformer Subjektivitäten, die Spaltung in "Künstler" und "sonstige Prekäre" zurückweist und die Sicherung sozialer Rechte mit dem Kampf um die gesellschaftliche Aneignung öffentlicher Güter verbindet. Die an den Staat gerichteten Forderungen die'nen so dazu, eine neue Sphäre der Öffentlichkeit zu schaffen: eine Sphäre, die nicht mehr vom Staat determiniert ist.
"Nur kollektive soziale Rechte können die Freiheit der Personen garantieren, die Kontinuität der Arbeit auch außerhalb der Beschäftigungsperioden, die Realisierung auch der unwahrscheinlichsten Projekte, die Diversität und die Innovation garantieren. Dynamik, Erfindungsreichtum und Kühnheit, welche die künstlerische Beschäftigung charakterisieren, beruhen aber auf der gewollten und durch die interprofes'sionelle Solidarität erkämpften Unabhängigkeit und dem Erhalt annehmbarer Existenzbedingungen."
[aus: Fantômas Nr.5]
[1] Bearbeitete und ergänzte Übersetzung eines Artikels der Zeitschrift global. Global Project – Paris: L'Europe est à nous, Sondernummer zum ESF 2003. Die italienische Zeitschrift ist einem transnationalen Internetprojekt verbunden: http://www.globalproject.info/.