Seit den 1970er Jahren
erfreut sich ein Topos bezüglich der ökonomischen und
politischen Situation Italiens besonderer Beliebtheit:
Es handle sich um ein Laboratorium, um ein Experimentierfeld
unterschiedlichster Kräfte, Interessen, Strömungen.
Die besondere Vielfalt der Protestformen und die Ausdifferenzierung
der außerparlamentarischen Öffentlichkeit von den späten
1960er Jahren an bis zum Wendepunkt von 1977 scheinen
dabei besonders angetan, romantische Vorstellungen bezüglich
der Stärke einer "Gegenmacht", einer konstituierenden
Bewegung, die sich nicht von repräsentativen Strukturen
vereinnahmen lässt, zu entfachen.
Gleichsam im Schatten der antagonistischen
Bewegung beginnt jedoch schon bald eine Reihe von Intellektuellen,
die "molaren" Diskurse vom Massenarbeiter,
dem Klassenkampf, von der Integration der ArbeiterInnenklasse[1]
über das infolge der wilden Kämpfe im Herbst 1969 ausgearbeitete
ArbeiterInnenstatut, und von weiteren Diskursen über
die möglichen institutionellen oder außerinstitutionellen
Ziele auseinander zu nehmen. Auf der Basis einer eigenartigen
Verbindung von Erforschung und Begleitung sozialer Gruppen
und Bewegungen entwirft sich den BetreiberInnen der
so genannten "conricerca" bald ein differenziertes,
nicht auf Identitäten des Klassenkampfes reduzierbares
Bild der Arbeitsformen. Diese Arbeit setzt schon in
den 1960er Jahren ein, als Raniero Panzieri und andere
AutorInnen in den "Quaderni Rossi" die gewerkschaftlichen
Strategien analysieren und eine Gruppe um Mario Tronti
(zu der auch Toni Negri gehört) den so genannten "operaismo"
entwickelt. Eine wichtige Funktion im Übergang zu den
sozialen Bewegungen der 1970er Jahre und den neuen politischen
Subjekten (feministische Bewegung, Autonomie, "postoperaismo",
freie Medien, Jugendbewegung …) haben auch die "Quaderni
Piacentini" (Bellocchio, Fortini), die sich einer
Reflexion des politisch-kulturellen Feldes annehmen.
Ausformuliert werden die Thesen zur "selbständigen
Arbeit", die nicht in der Dialektik des Klassenkampfes
aufgeht, erst viel später, als angesichts der zunehmenden
Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse immer deutlicher
wird, dass das vorbildhafte Gesetz zum Schutz der ArbeiterInnen
von 1970 immer weniger imstande ist, die Wirklichkeit
der arbeitenden Menschen zu widerspiegeln.[2]
Die Versuchung einer "molaren"
Antwort auf die fortschreitende Deregulierung des Arbeitsmarktes
besteht auch jetzt noch. Im Jahr 2003 rief eine der
Nachfolgeparteien der Kommunistischen Partei, die Rifondazione
Comunista, zur Beteiligung an einem Referendum auf,
in dem die Ausweitung des effizienten Kündigungsschutzes,
wie sie das "Statuto del Lavoro" vorsieht,
gefordert wurde.[3]
Am Volksentscheid beteiligten sich 25 % der Wahlberechtigten.
Um dem Referendum Gültigkeit zu verleihen, hätten doppelt
so viele Menschen die Urnen aufsuchen müssen.
Die Gewerkschaften waren bezüglich
der Teilnahme am Referendum gespalten. Dies ist nur
ein Anzeichen dafür, dass die neuen Konflikte – wie
schon in den 1970er Jahren die vor allem von den Jugendlichen
getragenen Revolten – über die traditionellen Verhandlungsmechanismen
nicht gelöst werden können. Im Gegenteil, über die verschiedensten
Figuren der "neuen" Arbeit zeichnet sich ein
Antagonismus ab, dessen Subjekte den repräsentativen
Interessenausgleich aus verschiedensten Gründen ablehnen.
Im Laufe der letzten Monate haben sich sowohl in Mailand
als auch in anderen Städten immer wieder "wilde"
Streiks abgespielt, also Arbeitsniederlegungen, die
sich nicht an die gewerkschaftlich festgelegten Regeln
hielten. Im Falle des öffentlichen Transports in Mailand
und anderen Städten in der Lombardei wie Brescia hatte
das massive Konsequenzen, da Streiks in diesem Bereich
normalerweise zeitlich "gestaffelt" sind.
Zu den Stoßzeiten sind die Gewerkschaften verpflichtet,
einen – wenn auch eingeschränkten – Betrieb zu garantieren.
Einige in Basiskomitees organisierte Gruppen beschlossen
jedoch, den Streik auch in diese Zeitblöcke hineinzutragen.[4]
Zu gewerkschaftlich teilweise nicht gedeckten Streiks
kam es auch bei der ehemals staatlichen Fluggesellschaft
Alitalia,[5]
bei der es über groß angelegte Auslagerungen von Geschäftsbereichen
zu immer schlechteren Arbeitsbedingungen für die Angestellten
und zu massenhaften Entlassungen gekommen war. Darüber
hinaus fanden von Jänner bis Juni 2004 schon vier Streiks
im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung statt,
sowie mehrere landesweite Protestaktionen gegen die
Schul- und die Universitätsreform der Ministerin Moratti,[6]
die neben der Einschränkung von Betreuungszeiten und
der Ausdünnung von Lehrplänen auch Verschlechterungen
im Bereich der Dienstverhältnisse vorsehen.
Es brodelt also gehörig, und
immer deutlicher wird die Brüchigkeit einer von den
Regulativen des Sozialstaates geprägten Öffentlichkeit.
Mannigfache Studien haben die Wende hin zu einem neuen
Produktionsparadigma beschrieben, das die Ausgleichsmechanismen
zur (Um-)Verteilung des geschaffenen Reichtums, wie
wir sie vom fordistisch-keynesianischen Kompromiss her
kennen, zerstört hat.[7] Zentrale Kategorien wie
Produktivität, Beschäftigung, die Sozialisierung von
Risiken usw. sind mit den gewandelten Produktionsbedingungen
in eine tiefe Krise geraten. Was die Protestbewegungen
auszuzeichnen scheint, ist, dass die prekär Beschäftigten
nach und nach versuchen, ihre Situation nicht mehr ausschließlich
als Mangel gegenüber den in "garantierten"
Beschäftigungsverhältnissen Stehenden zu leben. Die
Wende in der Produktion, der Übergang zu einer Wertschöpfung
auf der Basis der Lebens-, Bewusstseins-, Wissens-,
und Kommunikationsformen, macht aus den Subjekten der
Kommunikation (LehrerInnen und SchülerInnen, ForscherInnen,
Beschäftigte im Bereich Telekommunikation, Transport,
Kreative, JournalistInnen, ÜbersetzerInnen etc.) zugleich
begehrte Wesen und
Subjekte des Begehrens. In dem Maße, in dem ihnen immer
mehr zugemutet wird, ihr Leben fragmentiert (Flexibilität) wird, die Leute
zu immer geringeren Löhnen, ohne jegliche organisatorische
Vorgabe (Autonomie, Selbständigkeit) und unter vollkommener
Abwesenheit verbriefter Rechte arbeiten müssen, stellt
sich ihnen deutlicher als den Lohnabhängigen die Frage,
wo denn die Grenzen zwischen Produktion und Nicht- bzw.
Reproduktion liegen, wo Arbeit anfängt und wo sie aufhört;
worin der Unterschied zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit
besteht und folglich: was der Sinn dieser Unterscheidung
ist.
Der Einbruch in der
Produktivität, den die italienische Volkswirtschaft
in den letzten Jahren zu verzeichnen hat, wird unter
anderem darauf zurückgeführt, dass die Nachfrage nach
Arbeitskräften zum allergrößten Teil von kleinen und
kleinsten Unternehmen kommt, die keine Möglichkeit haben,
in teure Technologien bzw. Forschung und Entwicklung
zu investieren. Man könnte dies als ein Indiz dafür
nehmen, dass der größte Anteil an der Produktivitätssteigerung,
die es durch die Entwicklungen vor allem im Bereich
der Informationstechnologie gegeben hat, in den letzten
Jahren recht einseitig an private Unternehmen gegangen
ist. Außerhalb der geregelten Arbeit, die über das Modell
der Lohnnebenkosten die Hauptlast bei der Sozialisierung
der Risiken zu tragen hat, findet demnach ein kollektives
Experiment statt, das weniger der "Steigerung der
Effizienz" dient, als vielmehr der Disziplinierung
jener Kräfte, auf die die Produktion angewiesen ist.
Innerhalb dieses "Labors" findet man all die
Arbeitsformen und -verhältnisse, die man mittlerweile
mit dem Begriff Prekarität verbindet: Befristete Verträge,
kein Recht auf Mitbestimmung im Betrieb, keine oder
kaum Pensionsvorsorge, keine Arbeitslosen- und nur rudimentäre
Krankenversicherung.[8]
Eine Prekäre
fragt sich also: Was darf ich wollen? Wie soll ich handeln?
Der Keynesianismus bleibt insofern
"bedenkenswert", als er unter den Akkumulationsmechanismen
der industriellen, statistisch-mathematisch organisierten
Produktion die symbolischen Funktionen des Geldes aufgespürt
hat. Seine Tendenz, die segmentären, verhärteten, monetären
Aspekte des Geldes zu "verflüssigen", um gesellschaftlich
wirksame Austauschprozesse in Gang zu setzen, öffnet
eine Perspektive auf die imaginäre Ausgestaltung ("Konsum")
und die symbolische Vermittlung ("Institutionen,
Rechte") des in der Produktion verfangenen Realen.
Aus heutiger Sicht müsste man wohl eine "allgemeine
Theorie des Einkommens"[9]
ins Auge fassen, um Strategien des Ausgleichs zwischen
der Erfahrung einer unsicheren, fragmentierten, befristeten
Eingliederung in den Produktionsprozess und einer "unbefristeten"
Lebensführung zu suchen. Es geht also darum, die in
vielen Bereichen der Arbeitswelt voranschreitende Entgrenzung
hinsichtlich Ort, Zeit und Intensität zunächst begrifflich
und dann praktisch zu wenden.
Wenn uns also eingetrichtert wird, dass es mit den Sicherheiten
aus ist, dass wir uns an Flexibilität und Mobilität
zu gewöhnen haben, dann setzen wir Prekäre
dem entgegen: "Geht in Ordnung, und insofern man
nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, ob wir gerade
arbeiten oder nicht, fordern wir – für alle Fälle –
ein Einkommen! Im Zweifel für die Schaffenden! Ich träume,
also arbeite ich …"
Dahinter steckt natürlich mehr als der Versuch, die situationistische Internationale ihrer Vollendung zuzuführen. Tatsächlich bedient sich der Produktionsprozess ständig sozialer, kollektiver, öffentlicher Errungenschaften, Güter, Formen, um aus diesen einen Wert zu schöpfen. Was letztlich also zur Debatte steht, ist der Begriff der Produktion selbst. Nicht nur die Verweigerung von Rechten, die mit der Eingliederung in den Produktionsprozess verbunden sind, gilt es zu beklagen, sondern auch das Fehlen von Zeiträumen einer auf Erfahrung gründenden Öffentlichkeit. Insofern bleibt die Forderung nach einem Grundeinkommen in der Schwebe[10], zwischen der Möglichkeit, Freiräume jenseits des Zwangs zur Beschäftigung und der Drangsalierung der repressiven Institutionen des Sozialstaates zu schaffen, eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Produktionsordnung anzudenken, und der Gefahr, aufs Neue zum Instrument des Ausschlusses von Gruppen, die sich jenseits der durch die der Produktion zugrunde liegende Gesellschaftsordnung definierten Normalität ansiedeln, zu werden.
[1] Die Kommunistische Partei trieb über gesetzliche Initiativen und die sukzessive Integration der Gewerkschaften in das institutionelle Gefüge das Repräsentativwerden der vorwiegend männlichen Arbeiterbewegung voran. Neben einem moralischen Diskurs, der sich gegen die Korrumpiertheit der Institutionen wandte (berühmt wurde vor allem der Slogan mani pulite des Wahlkampfes von 1974) versuchte die KPI unter ihrem charismatischen Generalsekretär Enrico Berlinguer eine Stabilisierung der Löhne zu erreichen. Die molare Lösung in Bezug auf die Lohnpolitik hieß scala mobile und garantierte die Angleichung der Nominallöhne an die Inflationsrate.
[2] Vgl.: S. Bologna / A. Fumagalli: Il lavoro autonomo di seconda generazione. Scenari del posfordismo in Italia. Milano: Feltrinelli 1997. Die Thematik der Selbständigkeit wird von der parlamentarischen Linken, die nach wie vor auf das "normale" Lohnarbeitsverhältnis setzt, weitgehend ignoriert.
[3] Konkret handelte es sich um die Ausweitung des Artikels 18 des erwähnten Gesetzes, der Kündigungen "ohne triftigen Grund" für Unternehmen über 15 Beschäftigte verbietet. Ein Großteil der Unternehmen in Italien ist wesentlich kleiner und kann in diesem Sinn von den Arbeitsgerichten nicht belangt werden.
[4] Inchiesta autoferrotranvieri: "Su la testa". In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 166-171.
[5] Amoroso, Pulejo Trasciani: "Dossier Alitalia." In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 148-165.
[6] Cristina Morini: "Di culla in computer." In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 101-108.
[7] Vgl. zum Beispiel: M. Piore/C. Sabel: Das Ende der Massenproduktion. Frankfurt a. M.: Fischer 1985, C. Marazzi: Der Stammplatz der Socken, Zürich: Seismo 1996, und ders.: Fetisch Geld, Zürich: Rotpunkt Verlag, 1999, bzw. Lorenzo Cillario: L’economia degli spettri, Roma: Manifestolibri 1996.
[8] Schätzungen gehen davon aus, dass im Raum Mailand mittlerweile fast 70 % der jungen Leute, die ins Berufsleben einsteigen, über kein unbefristetes Arbeitsverhältnis verfügen.
[9] J. M. Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin: Duncker & Humblot 1936.
[10] Andrea Fumagalli: "Misure contro la precarietà esistenziale e distribuzione sociale del reddito". In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 28-43.