03 2004

Demotivationstraining. Anekdote zur Senkung des Wirtschaftsoptimismus

Guillaume Paoli

Einmal verzweifelte ein Unternehmer am mangelnden Engagement seiner Arbeiter – er sagte eher "Mitarbeiter". Um deren Enthusiasmus, Erfindungsgeist und Kreativität zu fördern, hatte er alles versucht. Er war bis nach Japan gereist, um die Geheimnisse des dortigen Betriebschauvinismus zu durchschauen. Er hatte die teuersten Motivationsberater engagiert, und es wurden glänzende Shows veranstaltet, in denen eifrig die Tugenden des Teamgeists gepredigt wurden, es wurden Rollenspiele und buddhistische Seminare angeboten, sogar vor einem Betriebsausflug an den Nordpol samt Festessen auf Packeis wurde nicht gescheut – alles für die Katz.
Je mehr Geld für die Begeisterung der Belegschaft ausgegeben wurde, desto lahmer und träger erschien sie. Zwar versuchte er es nicht nur mit Menschenfreundlichkeit, sondern auch mit Bestrafung – die offensichtlichen Drückeberger wurden gefeuert, um von jüngeren Bewerbern ersetzt zu werden –, doch dadurch wurde die Lage nur schlimmer. Aus lauter Angst wollte keiner negativ auffallen, positiv aber auch nicht. Streiks und Forderungen waren nicht zu befürchten, Besserungsvorschläge und produktive Entscheidungen ebenso wenig zu erwarten. Es sah so aus, als ob sich alle verschworen hätten, sich auf Dienst nach Vorschrift zu beschränken. Und doch gerade in der Branche konnte auf die aktive Teilnahme und die schöpferische Kraft jedes Einzelnen nicht verzichtet werden. Das oberste Gesetz des Geschäfts lautet ja: Innovation oder Tod. Wer da bloß Routine leistet, ist ein Agent im Dienste des Untergangs. Bloß wie konnten denn diese Menschen mitgerissen werden?
Eines Tages machte der Unternehmer Urlaub in seiner Heimat. In dem Dorf, wo seine Vorfahren ein rückständiges, erfolgloses Dasein geführt hatten, erinnerte er sich unvermittelt, dass ein alter Mann noch lebte, der als weise galt, und er kam auf die Idee, ihn um Rat zu bitten. Zumindest waren die Vorschläge dieses Beraters kostenlos.
Als er von seinem Problem erzählte, erwiderte der Greis: "Kein Wunder, dass all diese falschen Propheten gescheitert sind. Zur Motivation kannst du einen Menschen ebenso wenig erziehen wie zur Freiheit. In beiden Fällen verursacht gerade die Erziehungsmaßnahme einen Entzug von Freiwilligkeit. Wer gezwungen wird, motiviert zu sein, kann sich nicht motiviert fühlen."
"Aber was soll ich denn tun?", fragte der Unternehmer.
"Ansehen durch dein eigenes Beispiel, deine eigene Tugend erwecken. Du sollst deine Mitarbeiter so behandeln, wie du von denen behandelt werden möchtest. Sie sollen den gleichen Wohlstand wie du genießen, auf die gleiche Sicherheit im Krankheitsfall und Alter rechnen können, Zeit für Muße und Geselligkeit haben und vor allem: Erfüllung in ihrem Tun finden. Dann wirst du keinen Motivationstrainer brauchen und deine Menschen werden dir treu bleiben."
"Aber das geht nicht", erwiderte der Unternehmer. "So würden sich die Lohnkosten erheblich erhöhen, würde die Führung geschwächt, Zeit vergeudet, würden Investoren verunsichert, und wie könnte ich dann der Konkurrenz standhalten?"
"Entschuldige", sagte der Alte, "du hast mich gefragt, wie du Menschen an dich binden kannst, und darauf habe ich dir eine Antwort gegeben, nicht, wie du wirtschaftlich erfolgreich wirst, wovon ich sowieso keine Ahnung habe und haben möchte."
"Aber es geht gerade um beides, um ein gesundes Betriebsklima und um Konkurrenzfähigkeit!"
"Jetzt glaube ich, begriffen zu haben, was dein Problem ist. Du bist auf der Suche nach einer jungfräulichen Nutte." Der Alte platzte vor Lachen, und der Unternehmer ging fort, finsterer denn je. Auf dem Dorfplatz hatte sich das Bonmot schnell herumgesprochen, und als er vorbeiging, fragten ihn alle: "Na, die keusche Hure noch nicht gefunden?"
Auf dem Rückflug wurde der Unternehmer nachdenklich. Könnte es sein, fragte er sich, dass das globale Kapital, nachdem es sämtliche äußere Hindernisse siegreich überwunden hatte, nun an eine innere Grenze geraten sei, nämlich: den tendenziellen Fall der Motivationsrate?

 

Die Sinnlosigkeit der Arbeit – quantitativ erfasst

Die häufigste Berufskrankheit in allen Industrieländern heißt "Muskel-Skelett-Erkrankung", auch RSI-Syndrom genannt. Symptome sind heftige, chronische Gelenk-, insbesondere Rückenschmerzen, oft im Zusammenhang mit Depressionen oder Stress. Jährlich zeigt sie einen generellen Anstieg von 20 %; in der Dienstleistungsbranche gar von 50 %. Obwohl Frauen sowie Menschen, die am Computer arbeiten, überdurchschnittlich betroffen sind, bleibt keine berufliche Gruppe davon geschont. Und keine effektive Behandlung ist bisher bekannt.
Darum wird Ärzten von der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin geraten, die Patienten "über die ,Normalität’ von Rückenschmerzen zu informieren". Im Vordergrund der Behandlung sollen "die geringere Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems und die Rückkehr an den Arbeitsplatz" stehen, kurzum: Ein Arbeitnehmer leidet und schweigt. Alle Forschungsberichte stimmen überein, dass die Ursache des Schmerzes psychosoziale Faktoren am Arbeitsplatz sind, beispielsweise die "subjektiv empfundenen beruflichen Anforderungen und Kontrollen". Noch deutlicher spricht sich die französische Anstalt für Arbeitsmedizin Anact aus: Gelenke erkranken, wenn "die Bedeutung  bestimmter Bewegungen nicht mehr empfunden wird". Die Störung des Muskel-Skelett-Systems sei eine "Krankheit der sinnentleerten Handlungen".
Präventive Maßnahmen zu ergreifen würde also bedeuten, die Arbeitsorganisation und vor allem den Sinn der Arbeit an sich in Frage zu stellen, wovor sich die zuständigen Behörden natürlich hüten werden. Statt dessen wird zurzeit an der ultimativen Droge gebastelt, damit die Subjektivität der Arbeitnehmer die schädlichen Verhältnisse ertragen könne. Nicht die Umwelt soll den Menschen angepasst werden, sondern die Menschen der Umwelt. Überdies hat der Verband deutscher Betriebsärzte das passende Begleitprogramm zur Rentenreform entworfen: "Nach einem 12-wöchigen Ausdauertraining können 60-jährige Männer die gleiche Ausdauerleistung erreichen wie untrainierte 40-jährige." So kennt die Züchtung der neuen Arbeitstiere keine Altersgrenze mehr.

 

Kontraproduktive Bemerkung

Was ist denn produktive Arbeit? Unsere diesbezügliche Vorstellung ist symbolisch noch immer geprägt von dem biblischen Fluch von der Notwendigkeit zu ernten und zu säen, um essen zu können. Man muss "ackern", um "sein Brot zu verdienen". Noch für die Physiokraten im 18. Jahrhundert galt als produktive Arbeit ausschließlich die Agrikultur. Der Handwerker leistete keine produktive, sondern "gedungene" Arbeit, weil er vom Überschuss der primären Arbeit der Bauern abhing. Bloß, gemäß dieser Definition leisteten heute nicht einmal drei Prozent der Europäer noch eine produktive Arbeit! Zwar ist die Mehrheit der Erdbewohner nach wie vor in der Landwirtschaft beschäftigt, sie ist aber der Sicht der Marktgesellschaft entschwunden. Das dominante Produktionsmodell hat sich längst von der Nahrungsmittelgewinnung entkoppelt. Wer nicht ackert, darf auch tiefgefrorene Pizzen essen und Hühnergrippe bekommen.
Mit der Generalisierung der Fabriken und der politischen Ökonomie wurde der Produktionsbegriff auf alle Aufgaben des "Stoffwechsels mit der Natur" ausgedehnt. Was dies bedeuten soll, lässt auch viel Raum für Interpretationen. Schließlich ist der Abwurf einer Atombombe auch ein mächtiger Stoffwechsel mit der Natur. Und nicht nur in diesem extremen Fall stellt sich die Frage, ob es nicht eher angebracht wäre, das Wort "Produktion" durch "Destruktion" zu ersetzen – um etwa von einem Grundwiderspruch zwischen destruktiven Kräften und Destruktionsmitteln zu sprechen. Es wird leicht vergessen, dass die unbegrenzte Reproduzierbarkeit von Gütern sich auf die schlichte Plünderung von nicht erneuerbaren Ressourcen stützt. Dennoch herrschte zweihundert Jahre lang Konsens: Die Produktion umfasste alle fabrizierten Gebrauchsgegenstände und stand somit fest und unverzichtbar im Zentrum der Gesellschaft.
Heute ist aber die Güterproduktion ebenso wie die Agrikultur in die unsichtbaren Höllen Asiens und Südamerikas verlagert worden. Die westliche Intelligenz feiert den Abschied von der Arbeiterklasse. Währenddessen werden allein in Schanghai zwei Milliarden Paar Schuhe pro Jahr hergestellt. Soll das bedeuten, dass die Bewohner der kapitalistischen Zentren jetzt von der produktiven Arbeit befreit seien? Nein, denn für sie wurde ein drittes Produktionsmodell erfunden: die "immaterielle" Produktion. Vom Stoffwechsel mit der Natur bleibt da keine Spur – es sei denn, man begreift auch Neuronen und Bytes als Teil der Natur. Und doch, so wie die Wandlung von Goldmünzen zu elektronischem Geld das Wesen des Geldes nicht berührte, hat die Entmaterialisierung am Zwangscharakter der Arbeit nichts geändert – selbst die körperliche Anstrengung ist geblieben.
Wie Slavoj Zizek bemerkte, werden hier nicht so sehr Gegenstände vermarktet, sondern vorgefertigte Lebenszeitabschnitte. Ich kaufe meine körperliche Tätigkeit im Fitnessstudio, mein Mitteilungsbedürfnis beim Psychotherapeuten, meinen Zugang zu Informationen übers Internet, mein Image in angesehenen Clubs und Restaurants. Das, was in diesem Sektor produziert – das heißt, sowohl reproduziert als auch verändert – wird, sind also eindeutig die sozialen Verhältnisse selbst. Die einzelnen Produkte und Dienstleistungen sind bloß Meilensteine eines einheitlichen Lebenswegs, Zeichen der Zugehörigkeit zum universellen Markt. Darum ist die Bereitschaft der Einzelnen, das eigene Leben mit dem konstanten Warenfluss gleichzusetzen, von zentraler Bedeutung. Wird einmal die Identifikation mit der Marktlogik gebrochen, dann entzieht sich der produktiven Zwangsjacke jede Legitimation. Antikapitalismus fängt unmittelbar mit der Frage an: Will ich wirklich so leben? Und was opfere ich dafür?

 

Sucht und Entwöhnung

Die "seltsame Sucht", die Paul Lafargue am Anfang seines "Rechts auf Faulheit" polemisch angriff, "die Liebe zur Arbeit, die Arbeitssucht", ist heutzutage eine wissenschaftlich belegte Tatsache. Da kann man nicht mehr leugnen, dass er Visionär war, und zwar mehr als er selbst dachte. Arbeitssucht wird von der Medizin anerkannt, allein weil sie Jahr für Jahr immer mehr Kosten verursacht. Sie wird von den Betroffenen anerkannt. In 32 Städten Deutschlands haben sich Ortsgruppen der "Anonymen Arbeitssüchtigen" zusammengetan. Und sie wurde von dem Bremer Sozialökonomen Holger Heide gründlich untersucht. Über zwanzig Jahre analysierte Heide die destruktiven Wirkungen der Überarbeitung, bis er zu dem Schluss kam, nicht nur äußere Zwänge könnten dafür verantwortlich gemacht werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem finanziellen und sozialen Druck und einem "inneren Zwang", einer inneren Unwiderstehlichkeit.
Es gibt viele Menschen, die im wirtschaftlichen Sinne "erfolgreich" sind und doch permanent frustriert, verbittert und erschöpft erscheinen. Die Zeiten Lafargues sind vorbei, als er noch der Bourgeoisie "einen zügellosen Luxus, die Anstopfung mit Trüffeln sowie syphilitische Ausschweifungen" zuschreiben konnte. Das leisten sich nur noch die Stars aus Hollywood. Und es ist gerade der abstrakte Charakter ihres Reichtums, der die Wirtschaftseliten süchtig macht. Kaviar und Kokotten hat man irgendwann satt, Aktien und Konten in der Schweiz nie und nimmer.
Selbstverständlich gibt es noch viel mehr Menschen, deren Karriere nicht so erfolgreich ist und für die Arbeit ausschließlich mit Angst verbunden ist. Angst vor den Anforderungen des Chefs, vor dem Mobbing der Kollegen (Süchtige sind ja die asozialsten Menschen, die es gibt), vor dem eigenen Leistungsversagen, vor einer möglichen Entlassung, ja, Angst vor der Angst. Und dieser unerträglichen Realität versuchen sie ausgerechnet durch Arbeit zu entfliehen. Auch sie treiben, so Heide, "Raubbau an der eigenen Lebensenergie".
Und schließlich gibt es diejenigen, die aus der Arbeitswelt rausgeschmissen wurden, um in ein tiefes Loch zu fallen. Ihr ganzes Leben war der Arbeit gewidmet, und nun wissen sie als Arbeitslose oder Rentner nicht, was mit sich anzufangen. Sie fühlen sich überflüssig. Die Zeit, die sie jetzt reichlich haben, ist eine quälende Langeweile. Überdies wird ihnen die Botschaft wiederholt vermittelt, dass das, was ihnen fehlt, eine Arbeit sei. Ja, Arbeit fehlt ihnen, in dem gleichen Maße, wie einem Junkie das Heroin fehlt! Und doch demonstriert keiner, um "Heroin für alle" zu fordern!
Neulich meinte Oskar Negt: "Die eine Hälfte der Bevölkerung schuftet sich tot, während die andere Hälfte sich zu Tode langweilt." Das heißt einfach: Die eine Hälfte wird von einer steigenden Dosierung der Droge Arbeit abhängig gemacht, während die andere Hälfte unter Entzugserscheinungen leidet. Es sind zwei Seiten desselben Blattes. Und wir werden mit der Forderung nicht weiter gebracht, alle sollten gleichberechtigt die gleiche Dosis bekommen, womöglich von einer ökologischen Ersatztherapie begleitet.
Wird hier eine Randsituation pauschalisiert? Wie viel Arbeitssüchtige gibt es überhaupt? Diese Frage, und das ist der entscheidende Punkt, kann nicht beantwortet werden. Sie kann es nicht, weil Arbeitssucht keine Störung der wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern den Normalfall darstellt, solange die Süchtigen noch arbeitsfähig sind. Sie werden erst dann wahrgenommen, wenn ihr Fall pathologisch akut wird, das heißt, wenn sie sich deswegen krank schreiben lassen. Vielmehr sind es die Nichtsüchtigen oder weniger Süchtigen, die als Bremser, Faulenzer und Störfaktoren verschrieen sind.
In welchem Verhältnis stehen Suchtphänomene zu Arbeits- und Marktprozessen? Das ist der Drehpunkt zwischen der psychologischen und der sozialpolitischen Ebene. Ich zitiere hier wieder Heide: "Das kapitalistische System fördert nicht nur Sucht, es ,lebt’ von Sucht, und es ist wesentlich Suchtsystem. Das Kapital als Suchtsystem erzeugt und reproduziert die Bedürftigkeit und zwar grundsätzlich grenzenlos, denn Grenzenlosigkeit ist das Wesen des Kapitals." Arbeit im Kapitalismus kennt kein Ende, kein Erntedankfest. Permanent und in immer rascherer Folge müssen neue Produkte vermarktet werden, ganz gleich, ob diese zu etwas nütze oder besser als die vorhandenen sind. Die einzige Funktion ist die Kapitalvermehrung. Zu diesem für Kapitalnutzer zwingenden Ziel müssen die menschlichen Ressourcen permanent und immer intensiver mobilisiert werden. Doch ein solcher Einsatz kann nicht nur mit äußerer Gewalt geschehen, die endlose Bedürftigkeit muss noch von den Beschäftigten verinnerlicht werden. Suchtverhalten wird deswegen gefördert und belohnt.
Selbstverständlich müssen die neuen Produkte nicht nur vermarktet, sondern auch gekauft werden, da ist wieder die neurotische Kompensationssuche der Lohnempfänger gefragt, diesmal in Form von Konsumsucht. Den Teufelskreis kennen wir alle: "Warum verdiene ich denn Geld, wenn nicht, um mir die neue Digitalkamera, eine Ferienwohnung und ein Rennpferd zu leisten? Wie könnte ich weniger arbeiten? Ich muss doch Digitalkamera, Ferienwohnung und Rennpferd zahlen!"
Ein Hauptmerkmal von Sucht ist die Unersättlichkeit. Um den gleichen Effekt häufiger zu erreichen, muss die Dosierung ständig gesteigert werden. Wer unter Heißhunger leidet, dem können weder diätetische Vorschläge noch Genüsse der Kochkunst helfen, solange ihm seine Sucht nicht bewusst wird. Es gibt nie ein fixes Niveau der Befriedigung. Was die Arbeitsgesellschaft tatsächlich erzeugt, ist Mangel.
Wenn wir die herrschenden Verhältnisse als Suchtspirale begreifen, dann ist der Kampf gegen diese Verhältnisse nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch psychologisch und kulturell zu führen. Das wissen im Übrigen die Händler der Droge Arbeit sehr genau, die mit kostspieligen Motivationsstrategien versuchen, die Arbeitsdrogennehmer an sich zu binden. Wir wollen wetten, dass sie es nicht schaffen werden.

 

Die Brache als räumliche Metapher

Wo ein Zentrum entsteht, wird auch eine Peripherie geschaffen. In dem gleichen Maße, wie sich der Warenverkehr in Einkaufszentren intensiviert, wird der sie umgebende Raum brachgelegt. Ganze Straßenzüge veröden und liegen zwecklos da. Doch sobald sich der Blick vom Blendlicht des Kommerz abwendet, lässt sich in diesem scheinbaren Nichts einiges erblicken. Der freie Platz bezeichnet die Möglichkeit dessen, was in Bezug auf die Wirklichkeit fehlt. Leere Läden und Industrieruinen sind zugleich Spuren der Vergangenheit und Vorzeichen eines Abseits vom Markt. So werden sie öfters von so genannten Zwischennutzern zu unklaren Zwecken umfunktioniert. Räumlichkeiten, die zeitweilig von den Klauen des Tauschwertes befreit sind, gewinnen dadurch eine ästhetische Ambivalenz. In einem minimalistischen Dekor entwickelt sich ein undurchschaubares Soziotop, das mehr Vielfalt in sich birgt als die berechenbare  Eintönigkeit des Warenflusses.
Die Brache ist nicht nur Zwischenraum, sondern vorerst Zwischenzeit. Ursprünglich hieß das Wort: "Ruhezeit in der Dreifelderwirtschaft". So gesehen ist die Brache auch eine räumliche Metapher der neuen Arbeitswelt. Knotenpunkte der intensiven Ausbeutung lassen immer mehr Menschen brachliegen. Die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung ist so realistisch und wünschenswert wie die Vorstellung, sämtliche leere Häuser könnten in Einkaufszentren umgewandelt werden. Wir wissen aber, dass die Brache einen notwendigen Schutz gegen Übernutzung und Monokultur bietet. Nimmt sie ab, dann verkrustet die Oberfläche und verarmt der Boden. Der Notwendigkeit, wilde Gewächsflächen bestehen zu lassen, entspricht die, außerhalb von Marktzwängen denken und handeln zu können. Es muss Momente des Aufatmens, der Ruhe und der Ziellosigkeit geben, sowohl in der persönlichen Biografie als auch in der städtischen Organisation. Die Paradoxie hatte schon Georges Bataille erläutert: Auch das Unnütze ist nützlich. Peripherie und Zentrum hängen von der Betrachtungsweise ab. Begreift sich selbst die Peripherie als Hauptschauplatz des Möglichen, dann hört sie auf, peripher zu sein. Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als alle Supermärkte der Welt jemals anbieten werden.

[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]
http://translate.eipcp.net/transversal/0704/paoli/de
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