Nach
Wellen der Euphorie und der Kritik in den "Roaring
Nineties" rutscht der Diskurs über die Neue Selbständigkeit
in der aktuellen Wirtschaftskrise zunehmend in Depression
ab.
Die 90er
waren eine zwiespältige Zeit für KünstlerInnen: Während
die Verdienstchancen im traditionellen Kunstmarkt eher
flau waren, gab es in der Wirtschaftswelt einen massiven
Kreativitäts-Hype. Dieser Boom brachte einerseits Chance
auf Einkommen in den ausufernden Design- und Netzbereichen.
Andererseits wurde ein Lebensmodell, das bislang KünstlerInnen
von der Welt der Angestellten unterschied, zum Leitbild
für die Arbeitswelt der New Economy: formale Selbständigkeit
und Selbstverantwortlichkeit, ungeregelte Arbeit und
Einkommen, Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, Vordringen
kreativer Komponenten in der Tätigkeit, Projektorientierung.
Der Anstieg
der – in Bezug auf das im Fordismus als typisch geltende
Angestellten-Normalarbeitsverhältnis – als "atypisch"
bezeichneten Arbeitsverhältnisse war zwar nichts vollkommen
Neues. Doch dass flexibilisiertes Arbeiten nun nicht
mehr nur Frauen und MigrantInnen in untergeordneten
Diensten, sondern zunehmend auch Vertreter der männlichen,
inländischen, gebildeten Schichten traf, machte das
Phänomen zu einem Thema, dem hohe publizistische Aufmerksamkeit
zuteil wurde.
Ihre augenfälligste
Dynamik entwickelte die neue Selbständigkeit in Segmenten
der Kreativität und Kommunikation, wo die Teilnahme
an Diskursen über die eigene Identität und Rolle im
weiteren Sinn zum Job gehört. Dies mag die Tatsache
erklären, dass sich um die neue Arbeitswelt der New
Economy eine beachtliche Literatur gruppierte.
Die Literatur
zum Phänomen der "neuen Selbständigen" ließe
sich in vier Gruppen einteilen, die alle ihre Höhepunkte
in verschiedenen Diskursphasen kannten: Beginnend mit
den euphorischen IdeologInnen, wurden diese schnell
mit KritikerInnen konfrontiert. Auf diese folgten jene,
die dem Phänomen eine kritische Wendung gaben. Den vorläufigen
Abschluss bildet eine die aktuelle Krise begleitende
Depressionsliteratur. Doch beginnen wir der Reihe nach.
Euphorische Ideologie
In
Deutschland hat die "Kommission für Zukunftsfragen"
der Freistaaten Bayern und Sachsen, deren Mitglied u.a.
der Soziologe Ulrich Beck war, 1997 eine viel diskutierte
Vision zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems in Deutschland
verkündet: Das Leitbild des Arbeitnehmers sei aus dem
Bewusstsein zu verabschieden. Vielmehr sei das Leitbild
der Zukunft "der Mensch als Unternehmer seiner
Arbeitskraft und Daseinsvorsorge". Mit euphorischer
Begleitrhetorik wird das autarke, selbstverantwortliche
Individuum beschworen, das als Ergebnis des radikalen
Rückzugs des Staates aus der Gestaltung sozialer und
regulatorischer Rahmenbedingungen des privaten Wirtschaftens
entstehen soll. Mit der in dem Arbeitsmarkt-Reformplan
der Hartz-Kommission vorgeschlagenen "Ich AG"
hat es diese Vision in Deutschland zuletzt rasant nahe
an die reale Umsetzung geschafft.
Im Kernland
der New Economy jenseits des Atlantiks tönte es in den
90er Jahren ähnlich: Den Höhepunkt bildet Daniel Pinks
"Free Agent nation: How America's new independent
workers are transforming the way we live" (2001).
Pink malt die Vision einer Nation der FreiberuflerInnen,
bei denen die Flucht aus der Knechtschaft der großen
Unternehmen mit Selbstverwirklichung, Freiheit und Maximierung
des Einkommens verbunden ist.
Kritik
Es
bedarf keiner großen Anstrengung, um dieses Bild zu
kritisieren. Die kritischen Analysen des FreelancerInnen-Daseins
stellen den optimistischen Visionen empirische Evidenz
entgegen, um sie als Ideologie zu entlarven. Ein Blick
auf die sozialen Verhältnisse lässt von den Verheißungen
der euphorischen Literatur meist wenig übrig. Die zentralen
Studien für Österreich kommen aus einem gewerkschaftsnahen
Umfeld: Eva
Angerler/Claudia Kral-Bast: "Typische Atypische"
(1998), Fiftitu%: "(A)typisch Frau – zwischen allen
Stühlen" (2002), Gerhard Gstöttner-Hofer et al.:
"Was ist morgen noch normal" (1997), "Kurswechsel"
2/2000: "Leitbild Unternehmer", Emmerich Talos:
"Atypische Beschäftigung" (1999).
Die Ergebnisse:
FreelancerInnen haben ihren Status meist nicht selbst
gewählt, sie sind oft von wenigen großen AuftraggeberInnen
abhängig, die wirtschaftliche Lage ist eher prekär als
selbstbestimmt, die Vielfalt der Tätigkeiten (von eigentlichem
Arbeitsinhalt über Buchhaltung zu manuellen Diensten)
führt zu Dauerüberforderung, das Arbeiten zu Hause zu
Entgrenzung der Arbeitsstunden, das Verschwimmen von
Arbeit und Freizeit zu Kolonisierung der letzten Freiräume
mit Arbeit und Verwertungsdenken. Die angebliche neue
Freiheit ist weitgehend ein Ergebnis der Flexibilisierungsstrategien
der UnternehmerInnenschaft, denen die Individuen auf
dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind.
Neben diesen
Analysen der tatsächlichen ökonomischen Lage entsteht
auch eine Literatur, die sich kritisch mit den gesellschaftspolitischen
Konsequenzen der neuen Verhältnisse auseinandersetzt.
In diesen Studien werden in Hinblick auf Gesellschaftlichkeit
negative Konsequenzen des Dauerdrucks prophezeit, der
durch die permanente Unsicherheit und den Zwang, sich
beständig nach Verwertungsmöglichkeiten umzusehen, verursacht
wird.
Richard
Sennett schreibt in "Der flexible Mensch"
(1998) eine Geschichte des Verfalls: Das Ende der dauerhaften
Anstellung unterminiert Werte wie Vertrauen und Gemeinschaftsgeist.
Arbeit als Identitätsstifterin fällt aus, deshalb verlagert
sich das Zusammengehörigkeitsgefühl auf lokale und/oder
nationale Gemeinschaften, Nationalismus ist somit die
zunehmende Reaktion auf die ökonomische Unsicherheit,
so Sennett.
Auch Sergio
Bologna führt den zunehmenden Lokalpatriotismus der
Lega Nord auf die Renaissance des KleinunternehmerInnentums
zurück, die in Norditalien die von Arbeitskämpfen heimgesuchten
Fabriken der 70er Jahre abgelöst hat. Nachdem die neuen
Selbständigen formal keinen Chef mehr haben, gegen den
sie sich wehren können, wird der Sozial- und Steuerstaat
zum Hauptfeind, so Bologna (Zusammenfassung in "Kurswechsel"
2/2000).
Brian Holmes
schließt daran aus einer anderen Richtung an, indem
er Deleuzes "Kontrollgesellschaft"-These den
Analysen des "autoritären Charakters" von
Adorno / Horkheimer gegenüberstellt und daraus eine
Analyse des "flexiblen Charakters" macht,
der im Postfordismus den für den Fordismus typischen
autoritären Charakter abgelöst habe (Artikel gepostet
auf der *nettime*-Mailinglist am 5. 1. 2002). Dieser
ist nun im Gegensatz zur autoritären Persönlichkeit
nicht von seinen Wünschen, sondern von der politischen
Gesellschaft entfremdet, eine neue Form der sozialen
Kontrolle. Auch Paolo Virno hat dessen Anfälligkeit
für Zynismus unter politischen Gesichtspunkten analysiert.
In *Der
neue Geist des Kapitalismus* (2003) untersuchen Luc
Boltanski und Eve Chiapello massenhaft Managementliteratur
der 90er Jahre. Darin finden sie auffallend viele Anklänge
an die Freiheitsversprechen der 60er Jahre. Die Forderungen
nach Autonomie, Kreativität und Selbstbestimmung, die
die "künstlerische" Kritik der 68er gegenüber
dem ökonomischen Establishment in Anschlag gebracht
hatte, finden sie dort affirmiert, allerdings pro-kapitalistisch
gewendet, in neue Anforderungen von Seiten der Unternehmen
an ihre MitarbeiterInnen und AuftragnehmerInnen transformiert.
Dadurch werden neue Potenziale und Persönlichkeitsaspekte
erschlossen und im Dienste der ökonomischen Verwertung
mobilisiert, die dem Kapital bislang verschlossen geblieben
waren (weil dem Bereich Freizeit zugeordnet). Ausbeutung
finde heute nicht mehr durch Anstellung, sondern durch
Dominanz von Netzwerken statt. Die Forderung nach mehr
Autonomie sei vereinnahmt, nun fehle eine "soziale"
Kritik, die in diesem Umfeld Verteilungsprobleme thematisiere,
so Boltanski und Chiapello.
Kritische Wendungen
Doch
was folgt daraus? Während viele KritikerInnen die Flexibilisierung
der Arbeitsverhältnisse vor dem Hintergrund einer postulierten
Verantwortung von Staat und Kapital für die ökonomische
Sicherheit der arbeitenden Menschen kritisieren, betont
etwa Nikolas Rose (in *Kurswechsel* 2/2000), dass das
"unternehmerische Selbst" eine weitgehend
unhintergehbare zeitgenössische Vorstellung sei, hinter
die es kein Zurück mehr gebe, und den Ausgangspunkt
aller politischer Richtungsvorstellungen bilden müsse.
Auf Basis dieser Diagnose gab es analytische Versuche,
den neuen Verhältnissen eine kritische Wendung zu geben.
Einen verhaltenen
Versuch in diese Richtung unternimmt Richard Florida,
der aus dem "Aufstieg der kreativen Klasse"
mit ihren Freiheitsbedürfnissen ein Plädoyer für gesellschaftspolitischen
Liberalismus in der Stadtpolitik macht (*The rise of
the creative class*, 2002). Das "kreative Ethos"
bedürfe eines Umfelds von Toleranz, kultureller Vielfalt
und Ereignisfülle. Eine permissive Gesellschaftspolitik
und ein gewisses Ausmaß an sozialer Sicherheit sei somit
vonnöten, um die Ansiedlung und das Gedeihen jener "kreativen
Klasse" zu fördern, die zunehmend die Hauptquelle
wirtschaftlicher Prosperität darstellt, so Florida.
Werden
die Bedürfnisse der kreativen FreelancerInnen bei Florida
zum Argument für Sozialliberalismus, lautet der Einsatz
bei anderen AutorInnen gar Kommunismus. Maurizio Lazzarato
sieht in der "immateriellen Arbeit" die Hauptquelle
von Mehrwert in einer Zeit, in der die Produktion von
Bedeutung (über Werbung, Design und Kommunikation) die
Produktion von materiellen Gütern zunehmend dominiere
(*Umherschweifende Produzenten*, 1998). Die mit dieser
Produktionsarbeit befassten immateriellen ArbeiterInnen,
deren Arbeitsinhalt die Modellierung von gesellschaftlichen
Meinungen, Stimmungen, Lebenshaltungen sei, seien dadurch
unmittelbar politisch tätig. Das Ökonomische und das
Politische verschwimmen. Kreativität wird zur Masseneigenschaft,
und damit auch die Besonderheiten und Probleme, das
Kreative in eine Ware zu verwandeln. Die in der New
Economy verstärkt auftauchenden Probleme, einen Preis
für kreative Produkte zu finden und durchzusetzen, werden
epidemisch, transformieren die gesellschaftlichen Verhältnisse
und verlangen zumindest nach einem allgemeinen Grundeinkommen.
Diesen
Gedanken nimmt Antonio Negri in seinen Arbeiten mit
Michael Hardt auf. Die immaterielle Arbeit mit ihren
immanenten Eigenschaften – Autonomie, Kreativität und
Selbstorganisation in Gruppen – sei im Grunde eine Verwirklichung
kommunistischer Vergesellschaftungsformen, der das kapitalistische
Kommando nur noch äußerlich sei. Zwar habe der Kapitalismus
alle Lebensbereiche durchdrungen, aber nur um den Preis,
dass er auch die widerständigen, kreativen Fähigkeiten
der "Multitude" ins Herz seiner Funktionsweise
aufgenommen habe und dadurch dieser die Gelegenheit
gegeben habe, sich seiner zu entledigen.
Die kapitalistischen
Versprechen der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung
durch neue Arbeitsformen werden hier nicht nur ernst
genommen, sondern radikalisiert und gegen die Verhältnisse
selbst gewendet.
Im Jahr
2000, als die New Economy ihren Höhepunkt erreichte,
und die kapitalistische Globalisierung im Rahmen von
Demonstrationen und Protesten gegen Treffen ihrer Eliten
von wachsender Massenkritik begleitet wurde, stellte
Hardt / Negris *Empire* eine Reihe von Entwicklungen
in einen Zusammenhang und verband sie mit einer kritischen
Perspektive: Globalisierung der Ökonomie und der Elitenpolitik,
New Economy und neue Arbeitsverhältnisse, Migration
und Widerstand etc.
Dass "Empire"
vor allem in den kreativen Segmenten des New Economy-Proletariats
Furore machte, hat natürlich auch damit zu tun, dass
das Buch im Gegensatz zu vielen Analysen die Hoffnungen
auf Revolution nicht ganz woanders (in der IndustriearbeiterInnenschaft,
im globalen Süden etc.) verortet, sondern genau bei
den Lesenden selbst. Dies wurde bei "Empire"
von KritikerInnen als Liebdienerei bei Eliten kritisiert
(vgl. MALMOE 11), während es bei den VertreterInnen
der kreativen Klasse allerorts für Begeisterung sorgte.
Jene erfuhren etwas über sich selbst und wurden zum
Inbegriff der Zeitgenossenschaft erklärt – im Gegensatz
zu den Lifestyle-Magazinen aber nicht als bloße Coolness-
und Shopping-Avantgarde, sondern als AkteurInnen gesellschaftlicher
Emanzipation.
Dass nach
dem 11. September 2001 die Rezeptionseuphorie zusehends
abflachte, hat mit zwei externen Entwicklungen zu tun:
Zum einen verblasste die Plausibilität der weltpolitischen
These vom "Empire" angesichts des Schwenks
der US-amerikanischen Außenpolitik und des verstärkten
Aufbrechens von Konkurrenz unter den großen AkteurInnen
der Weltpolitik. Zum anderen platzte die New Economy-Blase.
Börsen- und Konjunkturflaute begruben die Hoffnungen
auf eine anhaltende rasante Expansion in den Kernbereichen
der immateriellen Arbeit und zerstörten bis auf weiteres
die Aussicht auf eine Transformation gesellschaftlicher
Verhältnisse durch die neue Wirtschaftsweise.
Depression und Bekenntnis
Die
lang anhaltende Phase der Prosperität in den "Roaring
Nineties" (so der Titel von zwei wirtschaftlichen
Rückblicken auf diese Jahre, von Joseph Stiglitz und
Alan Krueger / Robert Solow) wurde zur Dekadenwende
abgelöst von einer ebenso ausdauernden Krisenperiode.
Es ist kein Zufall, dass zu Beginn des neuen Jahrtausends
die einschlägige Literatur zunehmend von Erfahrungsberichten
dominiert wird, in denen jede Verklärung der Verhältnisse
einer Sichtweise Platz macht, die zusehends vom Zynismus
in die Depression gleitet.
In *Les
intellos précaires* (2001) zeichnen Anne und Marine
Rambach das Bild einer Generation, die nach dem Universitätsabschluss
statt der früher üblichen stabilen Karrieren nur die
Scheinselbständigkeit erwartet – im Journalismus, im
Kulturbetrieb, bei Film und Fernsehen, im Forschungswesen
und anderen Kreativbranchen. Ihr Leben ist vom Auseinanderklaffen
zwischen ihrem hohen sozialen Status und ihrer miserablen
materiellen Ausstattung gekennzeichnet. Die neoliberalen
Verheißungen scheinen nach einer gewissen Zeit gegen
die Realität wenig ausrichten zu können. In Gesprächen
mit Betroffenen erfahren die Autorinnen von Depressionen,
Zukunfts- und Versagensängsten, Gefühlen der Erniedrigung
als ständigem Wegbegleiter im Alltag.
Die Aufmerksamkeit,
die dem in Frankreich bislang Verschwiegenen im Gefolge
dieses Buches entgegenbracht wurde, erhielt noch eine
Verstärkung im Zuge der jüngsten Streiks der Intermittents,
der freien KulturarbeiterInnen, die sich mit Einschränkungen
ihrer Arbeitslosenunterstützung konfrontiert sahen.
Die anschließende Diskussion um die Verbreitung von
Scheinselbständigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen
für die gesamte Ökonomie insbesondere im Kreativbereich,
hat nicht zuletzt eine Welle von Erfahrungs- und Bekenntnisliteratur
hervorgebracht – Bücher wie Daniel Martinez' *Carnets
d'un intérimaire* (2003), der über die Erniedrigungen
des PraktikantInnenwesens berichtet, und Abdel Mabroukis
*Génération précaire* (2003).
Annette
Weisser und Ingo Vetter haben in ihren, die Form von
Selbsterfahrungs-Workshops parodierenden und gleichzeitig
aufnehmenden Veranstaltungen im Kunstkontext neue Selbständige
zusammengebracht, um gemeinsam über ihre Erfahrungen
zu sprechen und Möglichkeiten auszuloten, sich gegen
die unzumutbaren Verhältnisse zu organisieren. Die in
einem Video und Katalog (*NameGame*, 2003) dokumentierten
Ergebnisse lassen einen hohen Reflexionsgrad, die Allgemeinheit
von Problemen und die praktischen Schwierigkeiten für
politische Selbstorganisation (Zeitmangel, Interessenkonflikte)
zutage treten.
In Graz
sind Vetter/Weisser auf die Soziologin Elisabeth Katschnig-Fasch
gestoßen, die soeben die Ergebnisse eines Forschungsprojekts
in Buchform veröffentlicht hat, das mit einem Bourdieuschen
Ansatz dem alltäglichen Leiden an den Verhältnissen
des flexibilisierten Arbeitsmarkts nachgeht (*Das ganz
alltägliche Elend*, 2003). In einem Gespräch mit Vetter/Weisser
berichtet Katschnig-Fasch von der Überraschung, dass
es – obwohl doch zurzeit eines der größten Tabus – kaum
Schwierigkeiten gab, Leute zu finden, die über ihr eigenes
Elend sprechen wollten, ja vielfach sogar Dankbarkeit
bestand, endlich einmal darüber sprechen zu können.
Die Prekarisierten leiden an Sinn- und Orientierungsverlust,
Mangel an Anerkennung und reagieren vielfach mit Schuldgefühlen,
so die Erkenntnis der Forschungsgruppe. Auch die durchaus
geschlechtsspefizische Betroffenheit tritt zutage.
In seinem
Buch *Minusvisionen*, einem Sammelband mit Interviews
von gescheiterten Start-up-GründerInnen, zeichnet Ingo
Niermann (2003) das Bild der New Economy als Absorptionsmaschine
für Träume. Die bei Niermann zu Wort kommenden JungunternehmerInnen,
die mit Galerien, Fastfood-Ketten, Modelabels und Online-Plattformen
scheiterten, werden weitgehend als SpielerInnen präsentiert,
die Gelegenheiten, die die New Economy mit ihren Finanzierungsmöglichkeiten
ihnen bot, für sich zu nutzen versuchten. Und die den
Business-Aspekt dabei nie wirklich ernst genommen hatten
bzw. davon überfordert waren, als er sich ihnen schließlich
aufzwang.
*Minusvisionen*
ist die deutsche Variante einer Literatur, die in den
USA in den letzten Jahren boomt – Erfahrungsberichte
von Leuten, die der dot.com-Boom unter sich begraben
hat. Mit *Netslaves 2.0* (2003) etwa haben Bill Lessard
und Co. den Nachfolgeband eines sehr erfolgreichen Internet-
und Buchprojekts vorgelegt, das schon früh der Artikulation
von Unmut über unzumutbare Arbeitsbedingungen im Internet-Goldrausch
eine Plattform bot. Hier wird deutlich, dass auch in
den schillernd-profitablen Auslagebereichen der New
Economy, der Netzindustrie, die Arbeitsverhältnisse
alles andere als glamourös sind.
In seiner
Besprechung von Geert Lovinks Rückblick auf die Netzkultur
der 90er Jahre nach dem Ende des dot.com-Booms (*Dark
Fiber*, 2002) spricht Bifo (Franco Berardi), ein Protagonist
aus dem Negri-Umfeld der postoperaistischen Theorie,
von einem Klassenkampf zwischen kognitiven SelbstunternehmerInnen
und den großen Monopolen, der jetzt mit einer Kolonisierung
des Internet durch letztere geendet habe (vgl. MALMOE
8). Die Versprechungen der New Economy seien gescheitert,
das Modell des vollkommen freien Markts habe sich als
praktische und theoretische Lüge erwiesen. Diejenigen
der neuen Selbständigen, die nicht vom militärisch-industriellen
Komplex aufgesogen worden seien, seien jetzt arbeitslos
und desillusioniert. Auf kultureller Ebene sieht Bifo
deshalb die Bedingungen für die Ausbildung eines sozialen
Bewusstseins des "Kognitariats" vorhanden,
alle neoliberalen Illusionen zerstört, die Bahn frei
für einen nichtkommerziellen Prozess der autonomen Selbstorganisation
der kognitiven Arbeit, der Errichtung von vom Kapital
unabhängigen Institutionen. Die Depression als Ausgangspunkt
für einen neuen, emanzipatorischen Anfang? Vorerst gibt
es für einen solchen Optimismus wenig Anhaltspunkte.
Aber zumindest einen nachhaltigen Realismus hat die
anhaltende Krise bei den Betroffenen durchgesetzt.
Dass etwa
das Zentralorgan des österreichischen "Volkskapitalismus",
die Monatszeitschrift *Gewinn* das Jahr 2004 mit einer
Titelgeschichte über "Geld verdienen, ohne angestellt
zu sein" eröffnet, ist dafür ein Zeichen. *Gewinn*
bemerkt, dass sich das Phänomen atypischer Arbeitsverhältnisse
"mittlerweile quer durch alle Berufsgruppen"
zieht, und "hunderttausende betroffen" seien.
Dass dem aber keine einpeitscherische Werbung für die
neue Selbständigkeit folgt, sondern das Phänomen auf
Ausgliederungen der Unternehmen in schlechter Wirtschaftslage
zurückgeführt wird, die unübersichtliche Gesetzeslage
beklagt, auf alle Nachteile hingewiesen und eine Gewerkschafterin
zur Analyse das Wort übergeben wird, ist ein deutlicher
Hinweis darauf, dass die Zeit der großen Euphorie und
Versprechungen offensichtlich vorerst vorbei ist. Die
Realität der Krise lässt auch in den notorischsten Ideologiefabriken
für Beschönigungen wenig Überlebensraum.
Literatur
Angerler, Eva / Claudia Kral-Bast: *Typische Atypische*, Wien 1998
Bifo (Franco Berardi): Netzkritik, Version 0.2, MALMOE 8, 2001 *http://www.malmoe.org/artikel/top/334*
Bologna, Sergio / Andrea Fumagalli: *Il lavoro autonomo di seconda generazione. Scenari del postfordismo in Italia*, 1997
Boltanski, Luc / Eve Chiapello: *Der neue Geist des Kapitalismus*, Konstanz 2003
Eichmann, Hubert / Kaupa, Isabelle / Steiner, Karin (Hrsg.): *Game over? Neue Selbstständigkeit und New Economy nach dem Hype*, Wien 2002
Fiftitu%: *(A)typisch Frau – zwischen allen Stühlen*, fiftitu.at, 2002
Florida, Richard: *The rise of the creative class*, New York 2002
Gstöttner-Hofer, Gerhard et al. (Hrsg.): *Was ist morgen noch normal*, Wien 1997
Hardt, Michael/Antonio Negri: *Empire*, Frankfurt / M. 2003
Holmes, Brian: "The flexible personality", *nettime*-l, 5.1.2002
Katschnig-Fasch, Elisabeth / Malli, Gerlinde: *Das ganz alltägliche Elend*, Wien 2003
Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: *Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen*, Bonn 1997
Kurswechsel 2/2000: *Leitbild Unternehmer*, Wien 2000
Lazzarato, Maurizio: "Immaterielle Arbeit", in: Negri, Toni / Lazzarato, Maurizio / Virno, Paolo: *Umherschweifende Produzenten*, Berlin 1998
Lessard, Bill / Baldwin, Steve /Lloyd-Jones, Martyn : *Netslaves 2.0: Tales of Surviving the Great Tech Gold Rush*, 2003
Lovink, Geert: *Dark Fiber*, Cambridge / Mass. 2002
Lütgert, Sebastian: *Die Nomaden des Kapitals. Einführung in den Abschied von den umherschweifenden Produzenten*, Starship No. 5, 2002
Mabrouki, Abdel: *Génération précaire*, Paris 2003
Martinez, Daniel: *Carnets d'un intérimaire*, Marseille 2003
Niermann, Ingo: *Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld – Protokolle*, Frankfurt/M. 2003
Pinguin: "Bibelstunde – die Empire-Debatte", MALMOE 11, 2003 *http://www.malmoe.org/artikel/verdienen/461*
Pink, Daniel: *Free Agent nation: How America's new independent workers are transforming the way we live*, New York 2001
Rambach, Anne, Rambach, Marine: *Les intellos précaires*, Paris 2001
Rose, Nikolas: "Das Regieren unternehmerischer Individuen", in: *Kurswechsel* 2 / 2000
Sennett, Richard: *Der flexible Mensch*, Berlin 1998
Talos, Emmerich: *Atypische Beschäftigung*, Wien 1999
Virno, Paolo: "The ambivalence of disenchantment", in: Virno, Paolo /Hardt, Michael (Hrsg.): *Radical thought in Italy*, Minneapolis 1996
Vetter, Ingo /Weisser, Annette: *NameGame*, Graz 2003
[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]