Übersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel
Boris Buden: Die interessanteste Frage, die in deinem „Manifesto of Cultural Translation“[1] aufgeworfen wird, ist die nach seiner eigenen literarischen Form, der typisch modernistischen Form des Manifests. Ob kommunistisch oder futuristisch, surrealistisch oder dadaistisch – Manifeste sind mit Blick auf etwas historisch Neues konstruiert. Sie richten sich an eine breite Öffentlichkeit, aber nicht um zu informieren oder zu erklären, sondern um zu handeln. Diese performative Qualität ist charakteristisch für jedes Manifest. Daher wird man im „Manifesto of Cultural Translation“ vergeblich nach einer scharf umrissenen Definition dieses Phänomens suchen. Kulturelle Übersetzung ist für dich vielmehr eine Aktivität, eine Praxis, „die Praxis des Alltagslebens“. Du unterstreichst deutlich ihren performativen Charakter, wodurch sie auch zu einer Art von Subjektivierung wird. In ihrem ersten Manifest betonten die russischen Futuristen das Recht, „[a]uf der Scholle des Wortes Wir […] zu stehen“[2]. Es gibt ein ähnliches „Wir“ in deinem eigenen Manifest, das „Wir“ der „kulturellen ÜbersetzerInnen“. Meine Fragen werden sehr einfach sein: Zunächst, wer sind diese kulturellen ÜbersetzerInnen?
Tomislav Longinović: Es stimmt, dass die der Form des Manifests innewohnende performative
Wiederholung neue Subjekte und ein neues Werden einfordert, die der Aufgabe der
kulturellen Übersetzung inhärent sind. Die Frage nach der Identität des/der
ÜbersetzerIn bleibt immer innerhalb des Horizonts einer Überschreitung von
Grenzen zwischen Gemeinschaften und ihren besonderen Idiomen, in
Verschiebungen, die ihre besonderen Wege des kulturellen Austauschs unterrichten.
In dieser Perspektive einer möglichen Zukunft wird auch die Wahrscheinlichkeit
von neuen, auf der Erfahrung einer Identität-in-Übersetzung gegründeten
Gemeinschaften durch das Manifest theoretisch erfasst, die Konvergenz von
kulturellen ÜbersetzerInnen außerhalb der Ausbreitung besonderer ethnischer
Gemeinschaften, die für die heutzutage vorherrschende Erfahrung unter
ImmigrantInnen charakteristisch ist. Es ist von besonderer Bedeutung, diese
Bewegung abseits der ethnisch begründeten Diaspora theoretisch zu erfassen, da
diese häufig für die Entwicklung von ethnisch harten Kernen der
Identitätspolitik verantwortlich ist.
Boris Buden: Was ist das Ziel der kulturellen ÜbersetzerInnen?
Tomislav Longinović: Migrantische ArbeiterInnen, umherziehende Intellektuelle oder
Kriegsopfer, diese Subjekte erfahren die scharfen Grenzen der kulturellen
Trennung, indem sie ihren Kampf um Identität im Spiel ums kulturelle und
sprachliche Überleben führen. Ihr Ziel ist daher von der Heteronomie bestimmt,
das Leben weiterzuführen, und folglich nicht auf eine einzige Teleologie
reduzierbar. Die Bekundung von Differenz ist Teil dieser Werdensabfolge quer
durch die Kulturen, da die neuen Subjekte durch Reise und Übersetzung hervorgebracht
werden. Da das Denken selbst unter den Bedingungen einer postmodernen
kulturellen Ordnung eine tiefgreifende Krise durchlaufen hat, beruft sich das
Manifest auf den Horizont möglicher Solidarität auf der Grundlage einer
gemeinsamen Erfahrung kultureller Differenz; darum die Verwendung des „Wir“,
jenes verdächtigen Pronomens, das von den Massenideologien des vergangenen
Jahrhunderts derart in Verruf gebracht wurde. Die imaginierten Formen möglichen
Denkens sind daher das Gegengewicht zum Pessimismus, der die postmodernen
Intellektuellen heimsucht, die häufig im Glashaus akademischer Forschung und
Sachkenntnis eingesperrt sind.
Boris Buden: Wie wollen die kulturellen ÜbersetzerInnen dieses Ziel erreichen?
Tomislav Longinović: Die Praxis der kulturellen Übersetzung ist eine Erfahrung, die im
Austausch zwischen den Subjekten entstand, welche im Fluss globaler
Identifikationen gefangen sind. Das Ziel mag a posteriori als ein Versuch der Aneignung sozialer Macht durch die
Praxis kultureller Übersetzung theoretisch erfasst werden, als die Position,
die sie in der Wahlkultur suchen und die ihnen von den monokulturellen
Voreingenommenheiten des Heimatlandes, das sie zu ihrem eigenen zu machen
versuchen, verweigert wird. Die im Begriff „Wahlheimat“ beinhaltete, in sich
widersprüchliche Wendung der Formulierung ist symptomatisch für dieses Dilemma
der im andauernden Dazwischen gefangenen kulturellen ÜbersetzerInnen. Die
Auflösung der Binarität von Assimilierung und Resistenz innerhalb der aufnehmenden
Kultur bestimmt über den Erfolg oder das Scheitern einer im Übersetzungsprozess
hervorgebrachten Identität; der Übersetzungsprozess bildet dabei jene
philosophische Kategorie, die im sich globalisierenden Universum, mit dem wir
in zunehmendem Maß konfrontiert sind, vorherrschend sein wird.
Boris Buden: Du sagst, dass wir kulturelle Übersetzung im Sinne einer spezifischen
kulturellen Erfahrung denken können und dass diese kulturelle Erfahrung ein
soziales Substrat aufweist – ExilantInnen, ImmigrantInnen, Flüchtlinge, kurz,
Leute, die sich die Erfahrung von Übersetzung als „Praxis des Alltagslebens“
teilen. Diese bilden jedoch kein gemeinsames politisches Subjekt, zumindest
noch nicht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sie keine bestimmte
politische Erfahrung gemeinsam hätten, etwa die Erfahrung der, wie du schreibst,
„globalen Ungleichheit“ oder der „angstvollen Asymmetrie von Anteil und Wert in
der Repräsentation minoritärer Kulturen“. Was meinst du damit genau? Können wir
hier Mutmaßungen über eine bestimmte „Passage zur Politik“ als ein der
kulturellen Übersetzung innewohnendes Potenzial anstellen?
Tomislav Longinović: Die Wahl der Manifestform war definitiv von dem Wunsch geleitet, inmitten
der Auswirkungen der ökonomischen Globalisierung, ihrer zumeist verheerenden
Effekte einer bestimmten Art von neu entstehender Praxis Ausdruck zu geben.
Ebenso ist es unvermeidlich, eine bestimmte Position einzunehmen, da der naive
Glaube an einen Standpunkt außerhalb des Politischen heutzutage nur von jenen
konstruiert werden kann, die an der Macht sind und daher deren Wirkmechanismen
verhüllen müssen. Der Prozess der kulturellen Übersetzung „legt“ diese
Mechanismen, die bestehende Asymmetrien und Ungleichheiten naturalisieren,
„bloß“, da die meisten AgentInnen der kulturellen Übersetzung die Mängel der
einsprachigen Fantasien aufgrund ihrer Zwischenposition an der Grenze zwischen unterschiedlichen
nationalen Diskursen wahrnehmen. Es ist wahr, dass ich mich selbst „im Namen
jener“ sprechend wiederfinde, denen die Wahl, für sich selbst zu sprechen,
nicht offensteht, in der Hoffnung, die schiere Möglichkeit einer neuen Art des
transnationalen/translationalen politischen Horizonts jenseits der Binaritäten
global/lokal, kapitalistisch/kommunistisch, kosmopolitisch/provinziell etc. zu
bekunden. Diese Art von politischer Motivation ist auch der Ausgangspunkt
meines Forschungsprojekts Das Geheimnis
der Übersetzung: Ein Manifest der Grenzkulturen, das den Großteil meiner
Überlegungen im vergangenen Jahrzehnt beanspruchte. Durch den Gebrauch der
Werkzeuge der Übersetzungstheorie versuche ich, ihre Tragweite in den Bereich
der Repräsentationspolitik auszudehnen sowie die Hierarchien zu
denaturalisieren, die den zeitgenössischen KonsumentInnen durch Nachrichten,
Bilder und Töne dargeboten werden. Hoffentlich verwandelt sich mein Schreiben
„im Namen von“ so weder in die Heuchelei der Kommissare des jüngsten Tags noch
in die Gleichgültigkeit der Yogis des jüngsten Tags, um Arthur Koestlers
Metapher zu gebrauchen. Die Passage zur Politik auf der Grundlage einer
gemeinsamen ökologischen Plattform wäre demnach ein äußerst wünschenswertes
Ergebnis kultureller Übersetzung, da ein auf dem Humanismus basierendes Denken
sich den Beschränkungen des planetarischen Überlebens stellen muss, und zwar abseits
der Mythen, die sowohl NationalistInnen als auch GlobalistInnen in der
derzeitigen Simulation einer im Grunde gegenstandslosen Politik verbreiten.
Boris Buden: Kannst du mehr über dieses Forschungsprojekt Das Geheimnis der Übersetzung: Ein Manifest der Grenzkulturen
sagen? Worin genau besteht sein Forschungsfeld, sowohl theoretisch als auch, im
weiteren Sinn, kulturell? Welche Rolle spielt die Literatur – einschließlich
der Erfahrung mit literarischen Übersetzungen – und die Literaturtheorie in
diesem Projekt?
Tomislav Longinović: Mein Interesse und meine Motivation dazu, ein Buch zu schreiben, das
sich der im weiten Sinn verstandenen Übersetzung widmet, entwickelte sich aus
dem Cultural Translation Project (CTP), einer Forschungsinitiative, die vom
internationalen Institut der Universität Wisconsin-Madison von 1999 bis 2001
drei Jahre lang gefördert wurde. Als Leiter dieser Initiative für höhere
Bildung habe ich alles mir Mögliche getan, um die Translationswissenschaften in
das traditionelle, auf dem „nationalen“ Paradigma fußende Curriculum der
Humanwissenschaften einzuführen. Das Projekt war als Zusammentreffen einer
vielfältigen Gruppe von Fakultäten und Studierenden aus verschiedenen
humanwissenschaftlichen Disziplinen gedacht. Ihre unterschiedlichen Zugänge zu
den Begriffen „Kultur“ und „Übersetzung“ eröffneten eine neue Perspektive auf
die Art und Weise, wie sowohl individuelle als auch Gruppenidentitäten
verstanden werden, nämlich als Bewegung und Austausch über die Grenzen einer
besonderen Idee von Kultur hinweg, und nicht als monumentale, durch die
Bösartigkeiten des nationalistischen Imaginären versteinerte Kategorien. Die
Workshops, Vortragsreihen und Seminare waren der Durchquerung kultureller
Schnittstellen gewidmet, um den performativen Charakter neuer transnationaler
Identitäten sowie hybrider künstlerischer und intellektueller Praxen zu
bezeugen.
Die Gründung des CTP erfolgte zum Teil aufgrund einer Ausschreibung der Universität von Wisconsin, die dazu aufrief, die Humanwissenschaften im Kontext eines globalen, postnationalen und postdisziplinären intellektuellen Umfelds neu zu entwerfen. Teilweise basierte das Bedürfnis nach Schaffung dieser erweiterten Lehr- und Lerneinheit auf Untersuchungen, die sich über die traditionellen Verständnismodelle bezüglich transnationaler kultureller Austauschprozesse hinaus bewegten (Derrida, Spivak, Bhabha, Appadurai etc.). Die restriktiven Modelle oder höchst idiosynkratischen Verstehensweisen hinsichtlich der zwischen Kulturen „ausgetauschten“ Dinge, der Kulturen selbst sowie der sowohl materiellen als auch intellektuellen Mittel, die in diesem Austausch zum Einsatz kommen, wurden durch das Abdanken der Idee der Nation gesprengt. Da sich eine globale Subjektivität zusehends durch die Kommunikation über Sprachen und Kulturen hinweg bestimmte, fügte sich das aus interagierenden Ökonomien hervorgegangene Universum in die Prozesse einer Übersetzung jenseits der sprachlichen Übersetzung ein, während am Ende der ausklingenden Epoche der Nationen und ihrer vereinfachten imaginären Totalitäten ein kultureller Austausch in sehr viel größerem Umfang und Ausmaß entstand.
Dies bedeutete, dass die große Sachkenntnis „fremder“ Sprachen nicht nur für die gegenseitige Verständlichkeit von verschiedenen „nationalen“ Kulturen wesentlich ist, sondern auch für den weiterreichenden Prozess einer die Kulturen durchquerenden Hybridisierung, die neue und unterschiedliche Formen von Identität hervorbringt, welche für das Verständnis der Richtungen von kultureller Entwicklung im posthumanistischen Universum essenziell sind. Die Übersetzung erhöhte auch die Aufmerksamkeit und das Erfordernis einer Nichtübersetzung, das tiefgreifende Studium von Sprachen, welche die besondere Vision der Kultur zum Ausdruck bringen, indem sie sich dem Wechsel auf die andere Seite durch verschiedene Strategien der Unübersetzbarkeit widersetzen. CTP förderte das Verständnis dafür, dass „Übersetzung“ nicht nur die Kunst und das Handwerk der „literarischen“ oder „technischen“ ÜbersetzerInnen bezeichnet, sondern auch eine größere kulturelle Formation, die aus dem globalen Strom von Exil, ImmigrantInnen und Flüchtlingen, den ich vorher erwähnte, hervorgeht. Daher umfasste der Begriff der kulturellen Übersetzung ein neu entstehendes Feld humanistischer Studien und entwarf zugleich ein Modell des Alltagslebens für die globale Gemeinschaft.
Boris Buden: Um ihre Aufgabe zu erfüllen, schreibst du, sollten sich die heutigen
kulturellen ÜbersetzerInnen mit der Rolle der mittelalterlichen Alchimisten
identifizieren. Worum geht es in diesem Vergleich?
Tomislav Longinović: Von der Metapher des Alchimisten machte ich Gebrauch, um sowohl die
politische Position der in den Prozess kultureller Übersetzung involvierten
Person in Erinnerung zu rufen als auch um eine Bezugsfigur zu schaffen, die auf
das Feld selbst verweist. Einerseits steht der Alchimist auf dem äußersten Scheitelpunkt
des Wandels vom mittelalterlichen zum modernen Verständnis des Universums und
seiner Realitäten, da er das Spirituelle und das Materielle, den Glauben und
die Wissenschaft durch die Arbeit der transformatio
zusammenbringt. Ich glaube, dass auch wir auf dem Scheitelpunkt eines Wandels auf
der historischen Bühne stehen: Das postmoderne Verhältnis besteht trotz der
sichtlichen Erschöpfung der von ihm wiederverwerteten Formen und Modelle fort,
während der Horizont des Wandels, den wir auf dem politischen Schauplatz
bereits wahrnehmen, die lateinamerikanische Wende nach links etwa, eine
bestimmte Antwort anzeigt, die über die Erwartungen im neoliberalen Universum
des ökonomischen Determinismus hinausgeht. Ein interessantes Projekt
kultureller Übersetzung bestünde darin, die Verschiebungen der „Marx’schen
Gespenster“ von Osteuropa nach Lateinamerika nachzuzeichnen und zu verfolgen,
wie die Bewegung der auf den Kommunismus gegründeten Ideologie von einem Kontinent
zum anderen wandert, sowie die Transformation der in diesem Prozess
angenommenen kulturellen Formen zu untersuchen. Das steht mit dem zweiten Grund
einer Berufung auf die Alchemie in Zusammenhang, nämlich der merkurischen Natur
der Kultur selbst, deren unvorhersagbare Ströme das Geheimnis einer jeden
kollektiven Identität hinter ihrem eigenen Schleier von Unübersetzbarkeit zu verbergen
scheinen. Dieses Geheimnis gründet vielfach auf einem gewaltsamen und
traumatischen kulturellen Artefakt, um dessen Offenlegung und Lesbarmachung die
kulturelle Übersetzungsarbeit bemüht ist, um derart die Auswirkungen des
Schweigens und der Geheimhaltung zu mildern, auf die autoritäre Politiken
zumeist ihre Macht gründen.
Boris Buden: Du hast Arthur Koestler erwähnt, eines der besten Beispiele für
„vielsprachige“ Intellektuelle des 20. Jahrhunderts. Interessanterweise
existiert seine bekannteste Erzählung, Sonnenfinsternis[3],
nur in Form einer Übersetzung ohne Original. Ihr deutsches Original ging
verloren, sodass Sonnenfinsternis im
Deutschen eine Art „Übersetzung einer Übersetzung“ oder eine Rückübersetzung*
ist. Doch das eigentliche Thema der Erzählung – die Erfahrung des Terrors, den
wir heute Totalitarismus nennen – scheint die besonderen kulturellen und
historischen Kontexte zu überschreiten. Kannst du deine eigenen Erfahrungen
heute, selbstverständlich in einem figurativen Sinn, ebenso als eine Art
„Sonnenfinsternis“ denken, und zwar in der Bedeutung des blutigen
Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawien im Sog der „demokratischen
Revolutionen von 1989“? Ich frage nach der persönlichen Motivation hinter der
Aufgabe der kulturellen Übersetzung, die du formulierst, einer Motivation, die
genau in dem Sinn persönlich ist, als sie eine historischen Bedeutung hat, also
auf die Erfahrung der Geschichte in ihrem äußerst persönlichen Sinn verweist.
Tomislav Longinović: Ich habe eine Geschichte, die der Koestlers ähnlich ist; sie betrifft
meine erste Erzählung Moment of Silence[4],
die zunächst auf Englisch und erst sieben Jahre später auf Serbokroatisch als Minut Ćutanja[5]
veröffentlicht wurde. Die Erzählung war die Trauerarbeit, die ich um die letzte
verlorene Generation jugoslawischer Jugend geleistet habe. Sie war ein Fall von
Rückübersetzung* und auch ein Fall
einer Hin- und Herübersetzung, in der sich das Gefühl dafür, was das Original
und was eine Übersetzung ist, radikal verwirrt. Ich nehme an, dass es in Bezug
auf die Frage nach meiner eigenen Identität und meiner persönlichen Verortung
im Hinblick auf die Übersetzungsthematiken um dasselbe geht. Diese Frage
verweist tatsächlich auf die wahre Motivation hinter dem Projekt, da mich der
Zusammenbruch Jugoslawiens in meinem eigenen Schreiben und in meinem Verhältnis
zu theoretischen Angelegenheiten stark berührt hat. Obwohl ich das Land 1982
verließ, um am internationalen SchriftstellerInnenprogramm der Universität von
Iowa teilzunehmen, erschütterten mich die Ereignisse des darauffolgenden
Jahrzehnts zutiefst in meinem Lebens- und Zugehörigkeitsgefühl. Ich kann
wirklich sagen, dass ich Jugoslawien in den letzten Augenblicken seiner
Existenz verließ, zumindest für eine Generation von Jugendlichen, mit der ich
zu dieser Zeit verbunden war. Die Intensität des kulturellen Austauschs
zwischen den damals Mittzwanzigern aus Belgrad, Ljubljana, Sarajevo und Zagreb
wies in Richtung einer klaren europäischen Integration des gesamten Landes.
Sicherlich, die meisten dieser kreativen Jugendlichen unterstützten den
geeinten Kulturraum Jugoslawien nicht im Sinne irgendeines nebulösen Projekts
der ParteiideologInnen – sie lebten einfach eine gemeinsame Zukunft auf der
Grundlage einer Populärkultur (die sogenannte New Wave in der Musik fungierte
dabei als einzigartiges kulturelles Austauschmedium) und waren daran
interessiert, die engstirnigen Praktiken der damaligen Apparatschiks der Kommunistischen
Partei zu überwinden. Paradoxerweise teilten sie alle eine gemeinsame
Orientierung links von der Mitte auf der Grundlage der Hippie- und
Friedensbewegungen, gemischt mit einer gewissen Post-Punk-Ironie.
Es war wahrhaft tragisch, zu sehen, wie die ältere Generation damit begann, das Land in Stücke zu reißen, zunächst durch ihre rückwärts gerichtete Rhetorik und dann durch Scharfschützen und Bomben. Die Leute wurden gezwungen, in nationalistischen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen, während dem schweigenden Kern der traumatischen Erinnerung freie Hand in der Suche nach Ersatzopfern erteilt wurde. Die Außenwelt antwortete mit ihren eigenen kulturellen Zuschreibungen, mit denen die Region bedacht wurde, und ließ die Bilder vom Balkan als dem „Pulverfass“ Europas sowie dem Reich endemischer ethnischer Auseinandersetzungen wiederauferstehen. In der Zwischenzeit starben unschuldige ZivilistInnen, während sich die nationalistischen Eliten ihre Taschen mit den geraubten Ressourcen des ehemals gemeinsamen Staates vollstopften. Während der globale mediale Blick die Vision von „Stammeskriegen“ stark machte und sich lokale Medien an der Dämonisierung ihrer neu entdeckten ethnisch Anderen beteiligten, entschied ich mich, das Idiom, durch das möglicherweise die „dritte Stimme“ gehört werden kann, zu suchen und zu erproben. Das Medium der Übersetzung schien der beste Zugang zu diesem Minenfeld, in dem man ständig Gefahr läuft, von allen beteiligten Seiten etlicher intellektueller Verbrechen beschuldigt zu werden. Wenn ich daher meine Geburtsstadt Belgrad besuche, werde ich als „Amerikaner“ wahrgenommen, sobald ich meine Stimme gegen die nationalistischen Phantasmagorien erhebe – während es mir in den USA niemals erlaubt ist, mich zum „Jugoslawen“ zu erklären, ohne mit der unvermeidlichen zweiten und dritten Frage konfrontiert zu werden: „Wer bist du wirklich?“ Ich vermute, die Antwort liegt ausschließlich in der Übersetzung.
[1] Tomislav Longinović, „Fearful Asymmetries. A Manifesto of Cultural Translation“, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association, Bd. 35, Nr. 2: „Translating in and across Cultures“, Herbst 2002, S. 5–12.
[2] Vgl. „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, übers. v. Peter Urban, in: Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Russische Futuristen, Hamburg: Edition Nautilus 2001, S. 55–56, hier: S. 56.
[3] Arthur Koestler, Sonnenfinsternis, Hamburg, Wien: Europa Verlag 2000.
[4] Tomislav Longinović, Moment of Silence, San Francisco: Burning Books 1990.
[5] Tomislav Longinović, Minut Ćutanja, Belgrad: Radio B92, 1997.
* Mit Asterix gekennzeichnete Ausdrücke sind im Original auf Deutsch.