Übersetzt von Hito Steyerl
"Das
Kapital zeigt sich immer mehr als gesellschaftliche Macht, deren Funktionär der
Kapitalist ist und die in gar keinem möglichen Verhältnisse mehr zu dem steht,
was die Arbeit eines einzelnen Individuums schaffen kann - aber als
entfremdete, verselbständigte gesellschaftliche Macht, die als Sache, und als
Macht des Kapitalisten durch diese Sache, der Gesellschaft
gegenübertritt."[1]
–Karl Marx
"Das
Kapital ist keine abstrakte Kategorie, es ist ein semiotischer Operator im
Dienste spezifischer sozialer Funktionen. Seine Funktion ist es, die
Machtformationen, die entwickelten industriellen Gesellschaften inhärent sind,
aufzuzeichnen, auszugleichen, zu regulieren und überzucodieren,
Machtbeziehungen und Ströme, die die gesamten ökonomischen Mächte des Planeten
ausmachen."[2]
–Félix Guattari
In seinem Buch über Marx –
das listig mit "Abenteuer und Fährnisse eines Kritikers" untertitelt
ist – schreibt Daniel Bensaid eher über Marxismus als kritische Theorie denn
als ideologische Doktrin. Zugegeben, es ist eine Theorie des Kampfes und der
Transformation (oder der Revolution, wenn man will), aber keine Prophezeiung, keine wissenschaftliche Orthodoxie oder
auch nur Soziologie. Bensaid versucht demgegenüber einen postmodernen Marx zu
setzen, eine Zusammenstellung kritischer Werkzeuge, die benutzt werden können,
um gegenwärtige Formen des Kapitals zu analysieren und zu kritisieren. Das
bedeutet, dass marxistische Begriffe als der Interpretation und dem
Gebrauch(-swert) offenstehend verstanden werden müssen, aber auch als
Beteiligte einer gewissen Geschichte – daher die Abenteuer und Fährnisse. In
diesem Licht gesehen, muss der Fall der sogenannten kommunistischen Regime des
Sowjetblocks nicht als Ende der kritischen Theorie Marx gesehen werden,
sondern eher als ihr (Neu-)Anfang, der verhärteter Orthodoxie und der Last
des Stalinismus befreit ist. Bensaid zufolge besteht Marx´ Projekt aus drei
fundamentalen Kritiken: der der historischen Vernunft, der der ökonomischen
Vernunft und des wissenschaftlichen Positivismus. Drei Kritiken, die sich
gegenseitig ergänzen, und die
"direkt relevant für gegenwärtige Fragestellungen über das Ende der Geschichte und die Repräsentation der Zeit sind, über die Beziehung Klassenkampf und anderen Typen des Konflikts; über die Schicksale der numerischen Wissenschaften die durch die Ungewissheiten der narrativen Wissenschaften auf die Folter gespannt werden."[3]
Auch die vorliegende Publikation sollte in dieser Perspektive gelesen werden: als ein Versuch, eine Kritik dominanter Narrative und Annahmen zu unternehmen. Eine Kritik, die zum Ausgangspunkt den Begriff des Kapitals als zentrale Idee setzt und in der Tat als eine zentralisierende Maschinerie im Weltsystem. Es ist ein Versuch zu behaupten, dass wenn es wirklich so etwas wie Empire gibt, was höchst diskussionswürdig ist, seine Heraufkunft durch einen bestimmten Mechanismus angetrieben wird, ein spezifisches Prinzip der Organisation und Sozialisierung: das Kapital. So sind wir, obwohl auf dem Weg einer différance, zum zentralen Schlüsselbegriff des Kapitals als Basis unserer Untersuchung selbst zurückgekehrt. Aber was genau ist das Kapital?[4] Da Kapital(ismus) zunehmend essentialisiert und naturalisiert wird, ist es verlockend, das Kapital als universal zu sehen oder zumindest als universalisierende Norm: zu behaupten, dass wir alle unter den Bedingungen des Kapitals leben, obwohl dies gleichermaßen zu offensichtlich und zu schwammig klingt. Es scheint auch im Widerspruch zur Theorie Das Kapital, es als universal anzusehen, da diese Theorie keine Universalgeschichte oder deren Theorie darstellen will, sondern eher eine Theorie der Transformation, der möglichen Veränderung, Gegenerzählungen und neuen Hegemonien. Kapital ist eher, was Cornelius Castoriadis eine imaginäre Ordnung nennen würde, was nicht bedeutet, dass es keine realen Effekte hat, im Gegenteil. Es funktioniert als universalisierendes Prinzip des Maßes und des Zählens oder Buchführens, aber wichtig ist, dass andere Imaginäre sich dem auch entgegenstellen können. Das Kapital ist dann eine spezifische Situation mit spezifischen Geschichten und Kontingenzen, aber auch mit unentwickelten Potentialitäten, die in Richtung seiner Expansion gelenkt werden können, aber auch in Richtung seines Untergangs.
Die Essays und Projekte, die in diesem Buch präsentiert werden, lassen sich alle auf solche Formen der Kritik ein – des historischen und ökonomischen Determinismus und des wissenschaftlichen Positivismus – indem sie solche dominanten Imaginären herausfordern. Sie versuchen die gegenwärtigen Bedingungen des Kapitals zu analysieren und zu visualisieren, die wohl sehr verschieden denen sind, die vorherrschten, als Marx seine Theorie des Kapitals schrieb. Es gibt den offensichtlichen Wandel vom Industrialismus zum Postindustrialismus, obwohl diese Produktionsweisen ebenso simultan wie chronologisch stattfinden und ebenso geographisch wie zeitlich (wie die Verschiebung fordistischer und postfordistischer Produktion).[5] Der unleugbare Aufstieg der immateriellen Arbeit diktiert nicht nur eine neue Beziehung zur Produktion des Mehrwerts in den Arten, in denen das Kapital durch den Körper der ArbeiterIn zirkuliert, sondern auch in den Arten, in denen Waren ihren Wert manifestieren. Im Falle der immateriellen Arbeit sollten wir vielleicht vom Kapital insofern sprechen, als es nicht nur den Körper durchquert, wie in der materiellen Arbeit, sondern auch die Seele (!) der ArbeiterIn, während wir im Fall der Ware einer Dematerialisierung des Werts sprechen können: In beiden Fällen sprechen wir einer fast gespenstischen Präsenz. Dies erfordert dann auch ein neues Verständnis Technologien, die so zentral für die Wissensökonomie des Postfordismus sind. Als er über Technologie schrieb, erfand Marx die berühmte Beschreibung des Unterschieds zwischen einem Werkzeug und einer Maschine, derzufolge die erstere eine Erweiterung des Körpers war und die zweite eine Ausbeutung des Körpers. Wenn diese Unterscheidung aufrechterhalten werden soll, werden wir dann zwischen mentalen und körperlichen Maschinen (und Werkzeugen) unterscheiden müssen und untersuchen, wie technische Innovation auf diesem Gebiet die Produktion in anderen Sektoren beeinflusst. Marx zufolge verändern Maschinen die Beziehungen zur Natur (Ökologie), mentale Beziehungen (die Art, wie wir denken, die Vorstellungskraft), soziale Beziehungen (die Art, wie wir handeln) ebenso wie die Reproduktion des menschlichen Lebens, und so wird die Maschine, mit ihrer Produktivität, ihrer Autonomisierung, Auswechselbarkeit und ihren Messinstrumenten zu einem angemessenen Bild des Kapitals selbst. Hier können wir einen Fokus auf die Prozesse der Kapitalisierung und ihrer Effekte beibehalten, ökonomisch ebenso wie subjektiv. Es sind nicht nur die ökonomischen Aspekte des Kapitals, denen unser Augenmerk gelten muss, sondern auch die Kapitalisierung als Matrix der Subjektivität und zwischenmenschlichen, sogar intimen Beziehungen.
Die Logik des Kapitals selbst bleibt, anstatt ein breites Konzept des Kapitalismus als ökonomischen Systems darzustellen, natürlich oft eher übersehen, vergessen, versteckt, oder sie wird innerhalb des gegenwärtigen Sprachspiels der Politik mit Fokus auf Demokratie, Menschenrechte und Freiheit für selbstverständlich gehalten. Gegenwärtige Debatten scheinen darauf hinzuweisen, dass es keine Alternative zum Markt gibt, zum Kapital. Wir wissen dies aus den Medien, der Akademie und sozialen Situationen. Ein paar Beispiele: Ein Bekannter mir sagte neulich, dass er an den Kapitalismus als einziges System glaube, da der Kommunismus und der Sozialismus durchwegs gescheitert seien; eine früherere Kollegin mir sagte, dass sie gern an den Sozialismus glauben würde, aber Angst habe, dass er der menschlichen Natur zuwiderlaufe. Aber man könnte fragen, ob der Kapitalismus wirklich so erfolgreich ist, und wenn, warum? Und ist die menschliche Existenz nicht genauso auf Kollaboration gegründet wie auf das Überleben der Stärksten? In jedem Fall zeigen diese Beispiele, wie einige Begriffe naturalisiert und essentialisiert worden sind, wie tief sie in den Formen, in denen wir denken, reden und fühlen internalisiert wurden. Trotzdem können solche Ideen, die den Kapitalismus als only game in town verstehen, auf einer Vielzahl Ebenen hinterfragt werden, da sie den Markt mit dem Kapital verwechseln – es gab natürlich Marktwirtschaft vor dem Kapitalismus – und dies in ein sehr dubioses historisches Argument verwandeln, das nicht nur essentialistisch ist, sondern effektiv ein Ende der Geschichte voraussetzt, ein mögliches Gleichgewicht jenseits des Konflikts und in der Tat auch der Politik. Aber scheint unsere Welt wirklich so stabil und unendlich? Gibt es nicht Konflikte zwischen unseren täglichen Leben und dem globalen Kapital? Werden wir nicht verschiedenen Kämpfen affiziert und in ihnen verortet, vom Aufrechterhalten des nackten Lebens bis zu den Versuchen, sich role models aus der Werbung und Populärkultur anzugleichen? In der Tat scheinen solche Fronten nicht nur zwischen Faktoren zu existieren, die kapitalistischen und liberalen Gesellschaften als äußerlich angesehen werden, etwa dem zunehmenden Gefälle zwischen armen und reichen Ländern, die der endlosen Expansion und Industrialisierung eines Kapitals zuzuschreiben sind, das sich nicht zurückhalten kann, sondern auch internen Faktoren, zwischen dem, wer einer ArbeiterInnenschaft angehört und wer nicht, neben dem zunehmenden Gefälle zwischen Bildern, die begehrenswert sind – Unabhängigkeit, Mobilität nach oben, physische Schönheit, eine funktionierende Familie, usw. - und der Fähigkeit, sie verwirklichen zu können, sowohl finanziell als auch psychologisch.
Die reproduktive Familie, Sexualität und Kindererziehung, ebenso wie Begriffe des Arbeitens als Lebens, als identitärer Eigenschaft sind nur einige der Fronten, die durch die Verdinglichung allem gezogen werden, allen Aspekten der menschlichen Existenz vom nackten Leben selbst bis zu den (anscheinend) multiplen Wahlmöglichkeiten zwischen Lebensstilen. In Numero Deux, einem bahnbrechenden Film 1975 (was exakt der Zeit der Verschiebung der fordistischen zur postfordistischen Produktion in Westeuropa entspricht), gibt es eine zentrale Dialogzeile: “Es gab eine Landschaft, und wir haben eine Fabrik hineingestellt”. Der Film beschreibt die Schwierigkeiten, unter kapitalistischen Bedingungen zu leben, vor allem die Unmöglichkeit unter industriellen Lebensbedingungen eine bourgeoise Kernfamilie aufrechtzuerhalten, und zeigt die Familie als Fabrik. Der Film schließt daher mit der abgewandelten Zeile: “Es gab eine Fabrik, und wir haben eine Landschaft darum herum gebaut.” Es ist dann die Fabrik, die Maschine des Kapitals selbst, die unsere Umgebung produziert und nicht umgekehrt. Wir haben eine spezifische kulturelle Konstruktion naturalisiert und es ist eines der Ziele dieses Projekts, unsere Gegenwart zu denaturalisieren. Zu zeigen, wie das Kapital uns gegenüber versagt.
In dieser Perspektive scheint das Kapital universal als ein gemeinsamer Nenner, der natürlich auch Teil seiner Funktion als der große Rechner ist; messen, übersetzen und alles und jedem einen Preis geben. Das Kapital agiert auf doppelte Weise, es ist auf der einen Seite ein Gleichmacher: Alles wird gleich in dem Sinn, dass es getauscht werden kann, aber andererseits wird alles durch diesen Tausch verschieden, nämlich durch seinen Tauschwert. Dies ist die universelle Forderung des Kapitalismus, seine universalisierende Bewegung. Wie universal der Kapitalismus auch immer handelt oder zu handeln scheint, ist das Universale doch essentiell leer oder entleert, und wird mit einem bestimmten Inhalt gefüllt, der das Universale einfordert, so wie es momentan mit dem Kapitalismus der Fall ist.[6]
Um zu verstehen, wie das Kapital als universalisierendes wirkt, ist es wichtig, seine Besonderheiten zu studieren, seine lokalen ebenso wie seine globalen Auswirkungen und Effekte. Daher der Fokus auf die Verortung, die hier durch doppelte, aber miteinander verbundene Orte oder ökonomische, territoriale Organisationen partikularisiert wird: den (Post-)Wohlfahrtsstaat (das Beispiel ist Norwegen) und das postkommunistische Land (das Beispiel ist Estland), den zwei Orten, wo die Ausstellungsinterventionen des Projekts Capital (It Fails Us Now) stattfanden. Aber unsere Untersuchung des Begriffs des Kapitals muss anhand zweier Linien stattfinden: auf der einen Seite als die oben erwähnte spezifische Verortung und auf der anderen Seite als Subjektivität – wie der Kapitalismus unser Alltagsleben affiziert, die Struktur unserer Gefühle und Wahrnehmungen selbst: Die Maschine ist sowohl körperlich als auch mental.
Wir werden uns auf den gegenwärtigen Moment der Geschichte konzentrieren mit seinen strukturellen Veränderungen und wohl auch Krisen innerhalb des globalen Kapitals und die zwei spezifischen Orte als Modelle betrachten, als Maschine innerhalb der Produktion und Verbreitung des Kapitals. Das westeuropäische Modell des Wohlfahrtstaats ist teilweise einer massiven strukturellen Veränderung, wenn nicht Dekonstruktion unterworfen. Dies kann auch in der raffinierteren Variation des Wohlfahrtsstaats beobachtet werden, dem nordischen sozialdemokratischen Modell der Redistribution und des Gleichgewichts; ein Kompromiss zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus, aber auch eine temporäre territoriale Allianz zwischen Kapital und Arbeit, die jetzt historisch ist. In anderen Worten muss das Kapital verortet und historisiert werden, wie Immanuel Wallerstein es mit seinem Begriff des “historischen Kapitalismus” vorschlägt. Dies ist auch an den Rändern des Neuen Europa der Fall, mit der schnellen und massiven Deregulierung der postkommunistischen Länder, wo der vorherige Staatskapitalismus (als Produktionsweise ebenso wie als “offizielle” ideologische Staatsformation: “Kommunismus ist Sozialismus plus Elektrizität”[7]) in ein neoliberales transnationales Marktsystem verwandelt wird. Aber wie beeinflussen diese Formationen oder Variationen einander? Was sind die Wege zwischen ihnen und tendieren sie zu einer Verschmelzung oder Abspaltung? In dem Masse, wie Grenzen rekonfiguriert werden, werden neue Fronten um Begriffe Territorium und Allianz gebildet, die nicht länger zwischen AusbeuterInnen und Ausgebeuteten unterhalten werden, sondern eher zwischen den Ausgebeuteten selbst: zwischen denen mit und denen ohne Arbeit, zwischen denen mit Papieren und denen ohne. Dies sind eher die Effekte des globalen Kapitalismus als sein Prinzip, das ein solcher historischer Glaube an den Nationalstaat bezeugt: dass nämlich der Nationalstaat uns irgendwie vor der Globalisierung retten wird (das Schlüsselwort, das Kapitalismus ersetzt). Leider fühlen sich Gewerkschaften und linke Parteien in den meisten früheren Sozialstaaten diesem historischen Modell der Nation und Produktion verpflichtet, das war ein Teil des Aufstiegs des Kapitalismus und wurde seither vom Kapital in seinen späteren, gegenwärtigen Phasen hinter sich gelassen: wann wird es der (historischen) Linken hinter sich gelassen?
Das Projekt besteht darin, diese spezifischen Modelle des Kapitals und der kulturellen Produktion zu diskutieren und wie wir die gegenwärtigen Veränderungen visualisieren können. Die Essays und Projekte nehmen ihren Ausgang in den spezifischen Modellen der (Re-)Produktion und (Um-)Verteilung und untersuchen, wie sich Produktion in den westlichen Ländern verändert, vor allem industrieller Produktion zu immaterieller Arbeit und im Osten vom Staatskapitalismus zu einem deregulierten (Post-)Industrialismus mit einer neuen Verdinglichung und Kodifikation der ArbeiterInnenschaft und so auch aller sozialer ebenso wie ökonomischer Beziehungen. Was sind “neue” Ökonomien und welche Arten der Technologien des Selbst produzieren und verstärken sie tatsächlich? Sie werden daher auf diesen Seiten Versuche finden, die Situation zu analysieren, und die Frage zu stellen, was in dieser Zwickmühle eines expansiven globalen Kapitalismus zu tun sei, innerhalb der Korporatisierung der Kultur, der Spekularisierung der Politik und der Marginalisierung, und sogar Kriminalisierung der kritischen Linken. Die Diskussionen reichen der spektralen Form des Werts, der (Selbst-)Prekarisierung, der Deregulierung und der Privatisierung des Sozialstaats über die Entwicklung alternativer Ökonomien zur Errichtung verschiedener Modi der Kritik und des Widerstands, der Kartographie und der Historiographie, der Neigung zur und Recherche über die Politisierung Subjektpositionen.
Wir zielen darauf ab, den Begriff des Kapitals als ökonomisches Werkzeug zu verstehen, als Maß des Austauschs und des Mehrwerts und als etwas, das zur selben Zeit reguliert wird und reguliert (sowohl durch den Staat als auch durch den Markt), ebenso wie als Produzent Subjektivität (auch genannt der Verdinglichung allem), aber auch als ein Machtinstrument, als Kräfteverhältnis. In einem Essay, der ‘Capital as the Integral of Power Relations’ betitelt ist, schreibt der verstorbene Félix Guattari provokativ, dass Kapital in erster Linie mit Macht zu tun hat und erst in zweiter mit Profit (und sich so vielleicht den Begriffen der Biomacht und Gouvernementalität annähert). Guattaris Text verweist nicht nur auf die Transformationen der nationalen Organisation zum globalen Kapitalismus, sondern verändert dabei auch Marx´ Theorien, vor allem durch eine Rekonfiguration der Zusammensetzung Wert. Zweitens konzentriert sich Guattari auf diese Veränderung in Begriffen einer Semiotisierung des Kapitals. Dieser Begriff ist aus zwei Gründen zentral: zunächst im Bezug auf die Artikulation, da die breitere Motivation hinter Capital (It Fails Us Now) ist, danach zu fragen, wie man eine zeitgenössische Beschreibung des Kapitals artikulieren könnte, die einigen der Wege folgen könnte, auf die Guattari hingewiesen hat, und wie eine nichtkapitalistische Subjektivität zu artikulieren und imaginieren wäre. Guattari bezieht sich hier offensichtlich auf Theorien Lacan und wendet dessen berühmte Idee des Unbewussten, das wie eine Sprache strukturiert ist, auf die Logik des Kapitals an, auf ihre Ausweitungen und Subjektivierungen, und behauptet, dass das Kapital (wie) eine Sprache ist. Buchhaltung, Messen und die Börse sind alles linguistische Effekte, ebenso wie die Automatisierung und die maschinelle Zusammensetzung der Produktion und des Arbeitsprozesses. Dieser Begriff der Semiotisierung ist auch ein Weg, um die Verwandlung der Arbeit in immaterielle (und die daraus resultierende Dematerialisierung des Wertes) zu beschreiben:
"Automatisierte und computerisierte Produktion bezieht ihre Konsistenz nicht länger aus grundlegenden menschlichen Faktoren, sondern aus einem maschinischen Phylum, das alle menschlichen Aktivitäten durchquert, umgeht, verstreut, miniaturisiert und und kooptiert."[8]
Wie im maschinischen Verständnis des Kapitals Marx sind die technische Innovation, die neuen Technologien eingeschlossen, eher eine Disziplinierung und Entfremdung des Körpers und des Subjekts als eine Hilfe für sie. In anderen Worten sollten die Dematerialisierung der Arbeit und deren computerisierte Techniken ebenso wie ihre inhärente Reorganisation der Freizeit und Arbeitszeit nicht als eine Emanzipation des arbeitenden Subjekts angesehen werden, sondern eher als dessen totale Kooptierung durch die Maschinerie des Kapitals. Guattaris linguistische Wendung bringt offensichtlich Metaphern Grammatik und Struktur hervor, aber vielleicht auch Begriffe einer Gegenerzählung, der inkohärenten Rede, des Geplappers, der Lügen und des détournement. Und vielleicht sogar des Schweigens und Verstummens. Das bedeutet, dass im Gebrauch der Sprache auch Widerstand liegt.[9] Vielleicht war es das, auf das Michel Foucault mit seinem sonst seltsam ambivalenten und unengagierten Vorwort zu einem anderen Guattaris Werken abzielte, Anti-Ödipus (das gemeinsam mit Gilles Deleuze geschrieben wurde). Foucault bezeichnete das Buch mit einer berühmten Wendung als eine Einführung und sogar eine Betriebsanleitung zum “nicht-faschistischen Leben”[10] Was Foucault meinte, war nicht die historische politische Formation des Faschismus, sondern eher den zeitgenössischen Faschismus in unseren Köpfen. Dies war etwas, das qua Alltagspraxis erreicht werden sollte; eine Ethik und Politik des Alltags, aber wir sollten auch versuchen, Modelle einer post- oder antiverdinglichten Subjektposition zu denken. Wenn Michel Foucault über das “nichtfaschistische” Leben schreiben konnte, können wir dann das nicht-kapitalistische Subjekt imaginieren? Und was für Konsequenzen hätte dies im Bezug auf ökonomische und soziale Beziehungen, die im Kapitalismus leben? Wenn das Kapital, wie es der Fall mit dem Faschismus war, in unseren Köpfen ist, das bedeutet als Prozess der Subjektivierung und Unterwerfung, etwas, das unsere Seelen besitzt, sollten wir vielleicht eher Exorzismus sprechen als Exodus als einer politischen Strategie...
Ein etwas anderer Weg, das Kapital jetzt, wo Wunschmaschinen (wie Guattari behauptet) zu einem großen Teil reibungslos ins globale Kapital integriert wurden, als Technologie zu denken, wurde kürzlich Ray Brassier zur Verfügung gestellt. Über Badious mathematische Ontologie schreibend, versteht Brassier das Kapital als nicht mehr und nicht weniger denn eine riesige (Rechen-)Maschine, die er “ein automatisiertes axiomatisches System” nennt.[11] Brassier begreift das Kapital als eine Maschine, die denken kann, und durch die Instabilität und Zufälligkeit der Zahlen selbst angetrieben wird, anstatt dass diese ihm auf die Weise entgegenwirken, wie das Deleuze und Guattari gehofft hatten:
"Das Kapital ist weit da entfernt, durch seinen 'Widerspruch' bedroht zu werden, sondern nährt sich da. Es ist ein offenes System, eine aleatorische Axiomatik, die ihre eigenen strukturellen Grenzen immer wieder neu bestimmt und ständig an ihrer eigenen unmöglichen Grenze lebt."[12]
Es besteht also nicht aus einer determinierten Logik, sondern eher aus einer indeterminierten: das Kapital ist sowohl das Reale als auch die Leere, und in diesem Sinn enttäuscht uns sogar die Theorie, die das Kapital auch ist. Könnte dies dann auch darauf hinweisen, dass eine Verweigerung zu zählen – aufzustehen und sich zählen zu lassen - eine mögliche Strategie des Widerstands wäre? Dies würde auch bedeuten, dass das Recht zu arbeiten in das Recht nicht zu arbeiten verwandelt werden sollte, in das Recht, nicht gezählt zu werden, gestempelt zu werden, abgeheftet, abgekürzt und indexiert zu werden; dass wir beginnen, uns vom Begriff der Arbeit – der materiellen wie der immateriellen – als der Grundlage einer (politischen) Identität zu lösen, und damit anfangen, wirklich unproduktive Leben zu führen.
Der
vorliegende Text ist die Einleitung in das Buch "Capital (It Fails Us
Now)" http://transform.eipcp.net/publications/projects/capital,
herausgegeben Simon Sheikh im Rahmen des ihm kuratierten
transform-Projekts "Capital" http://transform.eipcp.net/Actions/exhibitions/capital.
[1] K. Marx, Das Kapital, Bd. III (MEW 25), Berlin: Dietz 1983, S. 274.
[2] Félix Guattari, ‘Capital as the Integral of Power Formations’, in Soft Subversions, New York: Semiotext(e), 1996, 202.
[3] Daniel Bensaïd, Marx for Our Times: Adventures and Misadventures of a Critique, London: Verso, 2002, 3.
[4] Marx verwendete den Begriff Kapitalismus niemals, sondern nur Kapital, das als ein ökonomisches und soziales Verhältnis der Beherrschung, des Wettbewerbs und der Ausbeutung verstanden wurde, eher denn als Ideologie im eigentlichen Sinne.
[5] Es könnte hier nützlich sein, auf Paolo Virnos Definition des Postfordismus zu verweisen, die nicht als allgemeine Verschiebung materieller zu immaterieller Arbeit verstanden wird, sondern eher als Reorganisation aller Teile der Produktion und des Arbeitsprozesses, das heißt, als Verschiebung zwischen der ArbeiterIn und der Arbeit: “Mit Postfordismus meine ich anstatt dessen eine Menge Eigenschaften, die sich auf die gesamte ArbeiterInnenschaft beziehen, FrüchtepfückerInnen und die ärmsten MigrantInnen eingeschlossen. Hier sind einige da: die Fähigkeit in einer angemessenen Weise auf die kontinuierlichen Innovationen der Techniken und Organisationsmodelle zu reagieren, einen bemerkenswerten “Opportunismus”, wenn es darum geht, die verschiedenen Möglichkeiten, die der Arbeitsmarkt bietet zu verhandeln, die Vertrautheit mit dem Möglichen und Unvorhersehbaren, jene minimale unternehmerische Haltung, die es möglich macht zu entscheiden, was innerhalb einer nonlinearen produktiven Schwankung das “Richtige” ist, eine gewisse Vertrautheit mit dem Netz der Kommunikation und Information. Wie man sehen kann, sind dies allgemein menschliche Gaben, nicht das Resultat der Spezialisierung. Was ich für wahr halte, ist, dass der Postfordismus alle Fähigkeiten mobilisiert, die unsere Spezies charakterisieren: die Sprache, das abstrakte Denken, eine Disposition zum Lernen, zur Plastizität, zur Gewohnheit, keine festen Gewohnheiten zu haben.” Interview mit Paolo Virno Branden W. Joseph in Grey Room 21, Herbst 2005, 29.
[6] Ich nehme hier Bezug auf Ernesto Laclaus Arbeit an der Kategorie des Universalen innerhalb der politischen Repräsentation und Identifikation. Siehe zum Beispiel auch ‘Universalism, Particularism and the Question of Identity’ in Ernesto Laclau, Emancipations, London: Verso, 1996, 20-35, ebenso wie seinen Dialog mit Judith Butler und Slavoj Zizek in Judith Butler, Ernesto Laclau and Slavoj Zizek, Contingency, Hegemony, Universalism, London: Verso, 2000.
[7] Dieser viel zitierte Satz wird gemeinhin V.I. Lenin zugeschrieben, ist aber anscheinend falsch. Das korrekte Zitat sollte lauten: “Kommunismus ist die Macht der Sowjets plus die Elektrifizierung des gesamten Landes!”, was etwas ambitiöser und sogar finsterer ist... Ich danke Dmitry Vilensky für den Hinweis.
[8] Guattari, op.cit., 207.
[9] Dies wirft die Frage auf, ob die Sprache das einzige denkbare Spiel ist. Und was ist die Beziehung zwischen Sprachspielen und dem Kapital als dem Integral Machtbeziehungen? Ist die Sprache dann eher der Ort für Revolutionen als der Körper, wie Guattari vorschlägt (und wie Foucault in seinen späten Werken vorschlug, d.h. der “Geschichte der Sexualität”)? Ist es in der Sprache, die wir verwenden, wie wenn wir durch die juridisch-ökonomische Sprache staatlichen Institutionen angerufen werden, aber auch wenn wir darauf antworten und reagieren (nicht nur gegenüber diesen Institutionen selbst, sondern in der Alltagssprache. Es ist erst kürzlich auf niederschmetternde Weise klar geworden, wie genau eine juridisch-ökonomische Sprache Individuen in Zeiten des Zusammenbruchs z.B. Freundschaften angewendet wird, in denen eine plötzliche HInwendung zu so einer Sprache die Beziehung auf gewisse Weise kapitalisiert.)? Wird die nichtkapitalistische Subjektivität dann durch eine Sprache des Begehrens vollendet, durch etwas, was nicht kodifizierbar ist? Und unter der Voraussetzung der Verdinglichung allem, wie soll man mit dem Problem der Kooptierung verfahren und dem Problem, dass die Staatsform Rechte (der Artikulation und Partizipation) vergibt und vorenthält?
[10] Michel Foucault, ‘Preface to Anti-Oedipus’ (1976), wieder aufgelegt in Power, The Essential Works of Michel Foucault 1954-1984, Volume 3, New York: The New Press, 2000, 106-110.
[11] Ray Brassier, ‘Nihil Unbound: Remarks on Subtractive Ontology and Thinking Capitalism’, in Peter Hallward (Ed.), Think Again: Alain Badiou and the Future of Philosophy, London/New York: Continuum, 2004, 52.
[12] Ibid.