Übersetzt von Hito Steyerl
Es
gibt vieles, was wir aus der Praxis der sprachlichen Übersetzung lernen können.
Nehmen wir deshalb ein konkretes Beispiel – die Übersetzung eines Buchtitels: Justice Interruptus. Critical Reflections on
the Postsocialist Condition[1].
Der Titel der deutschen Übersetzung dieses Buches, das die amerikanische
Philosophin Nancy Fraser Ende der 1990er Jahre veröffentlicht hat, ist: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe
des postindustriellen Sozialstaats[2].
Dieses kleine Beispiel demonstriert schon einige der wichtigsten Merkmale der
Übersetzungspraxis, vor allem aber eine reale Unmöglichkeit des Übersetzens,
nämlich die Unmöglichkeit, dass eine Übersetzung dem Sinn des Originals je
völlig entspricht.
Das
ist ein Gemeinplatz sowohl der traditionellen als auch der modernen
Übersetzungstheorie. Bekanntlich hat schon Wilhelm von Humboldt, der Vater der
traditionellen romantischen Übersetzungstheorie, genau in dieser immanenten
Unmöglichkeit der sprachlichen Übersetzung ihren wahrhaften gesellschaftlichen
und politischen Charakter erkannt.[3]
Da jedes Wort einer einzelnen Sprache ihren einmaligen Geist ausdrückt, gibt es
keine Möglichkeit, ein entsprechendes Wort einer anderen Sprache zu finden,
sodass eine ÜbersetzerIn, um trotz dieser Unmöglichkeit eine Übersetzung zu
erstellen, nach Humboldt eine besondere Tugend besitzen muss – die Treue. Diese
Treue gilt nicht, wie man fast automatisch glaubt, primär irgendeinem authentischen
Sinn des Originaltextes, sondern vielmehr der Muttersprache der ÜbersetzerIn,
genauer gesagt, ihrer Nation.
Eigentlich
sieht Humboldt die Aufgabe der ÜbersetzerIn nicht darin, einfach einen in einer
fremden Sprache verfassten Text in seiner eigenen Sprache verständlich zu
machen. Die Aufgabe besteht nicht darin, Bedeutungen über sprachliche
Unterschiede hinweg zu transportieren und auf diese Weise eine Kommunikation
zwischen verschiedenen Sprachen, Nationen oder Kulturen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, sondern
vielmehr darin, die eigene Sprache zu verfeinern und zu bilden.
Genauer gesagt, die ÜbersetzerIn sollte dem treu sein, was Humboldt „das Fremde“ nennt und von „der Fremdheit“ unterscheidet. Gemeint ist etwas, das die LeserIn in der Übersetzung deutlich spüren soll und das die Sprache der Übersetzung bereichert, fördert oder veredelt. „Das Fremde“ ist eine neue Qualität, die die ÜbersetzerIn ihrer eigenen Sprache hinzufügt und auf diese Weise deren Geist vertieft und erweitert.
In letzter Konsequenz gilt die Treue der ÜbersetzerIn ihrer eigenen Nation. Soweit die Sprache in der Lage ist, den Geist der Nation, und das heißt: die Nation selbst, zu bilden, besteht die Aufgabe der ÜbersetzerIn gerade darin, von diesem Bildungsvermögen der Sprache Gebrauch zu machen und ihre Nationalsprache bzw. ihre eigene Nation zu bilden, zu kultivieren, zu erschaffen, was schließlich bedeutet, dass die Treue der ÜbersetzerIn in letzter Konsequenz eine patriotische Tugend ist, eine Art Treue bzw. Loyalität der eigenen Nation gegenüber.
Das, worum es hier eigentlich geht, ist die gesellschaftliche, politische oder kulturelle Bedeutung der sprachlichen Übersetzung – ihre immanente Bindung an eine bestimmte politische Form der Gesellschaft oder Gemeinschaft (im Falle Humboldts der Nation), eine Bedeutung, welche keine Übersetzung hinter sich lassen kann. Wir finden diese politische Bedeutung der sprachlichen Übersetzung auch im oben genannten Beispiel. Die Übersetzung dieses Buchtitels kann ohne Berücksichtigung ihrer politischen Bedeutung nicht verstanden werden, oder um es noch offener zu sagen: Ohne von Anfang an ein Politikum zu sein, hätte sie sogar nie stattfinden können.
Sex, Texte und eine Übersetzung
Nehmen wir zuerst den Titel: Justice interruptus. Er hat eigentlich eine klare sexuelle Konnotation, denn er evoziert fast unmittelbar den Begriff des „Coitus interruptus“, einer Unterbrechung des Geschlechtsverkehrs, die bekanntlich eine der beliebtesten Methoden der Empfängnisverhütung ist. Es gibt natürlich eine Menge Assoziationen, die durch diese Anspielung ausgelöst werden können, zumindest scheint aber klar, dass diese bewusst und keineswegs zufällig gewählt wurde. Sie impliziert höchstwahrscheinlich eine Gerechtigkeit ohne Erfüllung, eine Gerechtigkeit, die nicht erreicht hat, was sie versprochen hat, was erwünscht und von ihr erwartet wurde, eine Gerechtigkeit, die ihre Potenz nicht voll entwickelt hat, etc.
Sie impliziert aber auch eine Gerechtigkeit, die ohne ihren geschlechtlichen Charakter nicht gedacht werden kann. Die Unterbrechung (des Geschlechtsverkehrs) ist unausgewogen. Es gibt eine schwerwiegende Unverhältnismäßigkeit in den Auswirkungen dieser Tat, und diese Unverhältnismäßigkeit ist ebenfalls geschlechtlich bedingt. Es ist die weibliche Seite, die am meisten an dieser Unterbrechung leidet, die am Streben zur Erfüllung gehindert wird, die sozusagen zweifach unterbrochen wird, in der Lustgewinnung und in ihrer Fähigkeit, ein neues Leben zu empfangen und in die Welt zu bringen.
Es gibt in dem Buch auch einen Essay mit dem Titel „Sex, Lies and the Public Sphere“, der explizit das Problem der Frauen anspricht, die gerade dadurch, dass sie ihre Stimme öffentlich gegen sexuelle Belästigungen erheben, unfähig werden, ihre Privatsphäre vor öffentlichem Missbrauch zu schützen, die also buchstäblich in ihrem Gebrauch der Öffentlichkeit unterbrochen werden. Unterbrechen heißt eigentlich, jemanden am Reden, an der Selbstartikulation zu hindern, sie oder ihn zum Schweigen zu bringen. Ein Unterbrochener kann nicht mehr reden, und in diesem konkreten Fall ist es eine Frau, eine Unterbrochene. Die Unterbrechung impliziert also ein Machtverhältnis. Eine Frau zu unterbrechen heißt auch, sie unter Kontrolle zu bringen, sie zu beherrschen bzw. zu unterwerfen. Außerdem kann man, wenn Sex und Öffentlichkeit in ein und demselben Satz auftauchen, nicht einfach die Anspielung auf die Grundforderung der Frauenemanzipation übergehen – das, was zur Privatsphäre gemacht worden ist, öffentlich zu machen, mit anderen Worten, die so genannte Privatsphäre zu politisieren.
Es geht hier natürlich um die bekannte Tatsache, dass der Unterschied zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten auch einen geschlechtlichen Charakter hat und dass dieser Unterschied in der traditionellen Trennung von Haushalt und Betrieb verankert ist.[4] Max Weber hat diese Trennung als zentrales Merkmal des für die modernen, westlichen Gesellschaften typischen Rationalisierungsprozess verstanden. Entsprechend dieser Trennung, die mit der Aufteilung des gesellschaftlichen Raums in zwei symbolische Sphären, eine private und eine öffentliche, übereinstimmt, übernimmt die Frau Verantwortung für die private Sphäre des Haushalts, die Familie, die Kinderbetreuung und Kindererziehung, die ausschließlich im Sinne der biologischen Reproduktion verstandene Sexualität etc. Der Mann, als ihr Ehemann, hat hingegen die Rolle eines Oberhaupts der Familie übernommen, die er versorgt und im gesellschaftlichen Leben repräsentiert. Er besitzt automatisch die Verantwortung für die Politik, das heißt: für den Staat.
Doch genauso wie im Falle des Coitus interruptus gibt es auch hier keine Symmetrie zwischen den Geschlechtern bzw. den beiden Sphären des gesellschaftlichen Lebens. Die Öffentlichkeit wird mit Begriffen wie Freiheit, Transparenz, Rationalität, Demokratie, Universalität etc. identifiziert. Auf der anderen Seite bringt eine Zugehörigkeit zur privaten Sphäre unausweichlich einen Ausschluss von den genannten Werten mit sich und, was noch wichtiger ist, einen Ausschluss vom Ort der Macht, der Autorität und der politischen Entscheidungen, die in der Lage sind, die Gesellschaft zu transformieren und die existierenden Verhältnisse zu verändern.
Das erklärt, warum der Emanzipationsprozess vor allem als eine Bewegung vom Privaten zum Öffentlichen verstanden wird, als ein Einschließen dessen, was ursprünglich vom Feld der politischen Subjektivierung und der politischen Streitfragen ausgeschlossen wurde. Und das erklärt auch, warum das Hauptanliegen der Frauenemanzipation in der Forderung zusammengefasst wurde, das Private zum Politikum zu machen. In diesem Kontext impliziert also der Titel Justice interruptus einen wichtigen Bruch, eine Unterbrechung des Emanzipationsprozesses, konkret den Bruch im Prozess der Frauenemanzipation.
Die deutsche Übersetzung Die halbierte Gerechtigkeit jedoch beinhaltet keinerlei sexuelle Konnotation, und konsequenterweise entfällt die Anspielung auf eine Unterbrechung im Prozess der Frauenemanzipation. Stattdessen steht hier unter dem Titel als eine Art Untertitel etwas, das es auf dem Einband des Originals nicht gibt: Gender Studies. Dieser deutsche Untertitel hat in der Tat den Platz des originalen Untertitels eingenommen, der jetzt gar nicht auf dem Einband erscheint. Auch dieser Originaluntertitel, der vom Einband der deutschen Ausgabe verbannt wurde – Critical Reflections on the Postsocialist Condition – wurde in der Übersetzung einer merkwürdigen Transformation unterworfen. Er wurde übersetzt als Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Das demonstriert ein anderes Merkmal des Übersetzungsphänomens, nämlich die reale Unmöglichkeit, eine Übersetzung in das Original zurückzuübersetzen. Kein Original kann aus der Übersetzung rekonstruiert werden.
Kommen wir jetzt zurück zum Untertitel und fragen wir: Warum ist „postsocialist condition“ als „postindustrieller Sozialstaat“ übersetzt worden? Der erste Grund ist offensichtlich. In Deutschland bezieht sich der Begriff des Postsozialismus automatisch auf nur einen Teil des Landes, der vor 15 Jahren Deutsche Demokratische Republik genannt wurde und der, was noch wichtiger ist, ganz bestimmte Erinnerungen ins Leben ruft, wie etwa die Erfahrung des so genannten kommunistischen Totalitarismus, das bedeutet des Einparteisystems, der vom Staat kontrollierten Ökonomie, der missachteten Menschenrechte, der Abwesenheit von freien und unabhängigen Medien, der sehr begrenzten Bewegungsfreiheit etc., kurz: eine Erfahrung, von der die meisten Deutschen heute sagen würden, sie hätten sie nie gemacht und die nur noch in einer ganz spezifischen Form zu finden ist, nämlich als kulturelles Gedächtnis eines Teils der deutschen Nation.
Das Problem ist, dass Nancy Fraser nicht an diesen Postsozialismus denkt, sondern an einen Zustand, der nur als gleichermaßen epochal wie global beschrieben werden kann. Die wichtigsten Merkmale dieses Zustandes, den sie explizit „postsozialistische“ Epoche nennt, sind:
– Die Abwesenheit einer glaubwürdigen, progressiven Alternative zur bestehenden Ordnung.
– Eine Verschiebung in der Grammatik der politischen Forderungen: Typisch sozialistische Forderungen nach gesellschaftlicher Gleichheit, nach „Gerechtigkeit der (Um-)Verteilung“ sind von den Forderungen nach Anerkennung von Gruppenunterschieden, nach einer „Gerechtigkeit der Anerkennung“ ersetzt worden, der Anerkennung von nationalen, ethnischen, „rassischen“, geschlechtlichen, sexuellen etc. Differenzen. Wir können sagen, dass der postsozialistische Zustand eine Art Übersetzung ist. In der Epoche des Sozialismus wurde Politik in der Sprache der sozialen Kämpfe artikuliert, das heißt in der Sprache des Kampfes um Umverteilung. Heute, in der postsozialistischen Welt, verwendet die Mehrzahl der politischen Forderungen die Sprache der Kultur, des „Kampfes um Anerkennung“ zwischen kulturell definierten „Gruppen“ oder „Wertgemeinschaften“, deren Ziel es ist, ihre „Identitäten“ zu verteidigen, „kulturelle Hegemonie“ zu be- und „Anerkennung“ zu erkämpfen. Was einst das Klasseninteresse war, wurde in eine meist kulturell definierte Gruppenidentität übersetzt, die zum Hauptmedium der politischen Mobilisierung wurde.
– Das dritte Merkmal des Postsozialismus ist das, was Nancy Fraser einen wiederauflebenden ökonomischen Liberalismus nennt und was einfach als Entstehung des globalen Marktes und neuer Formen ökonomisch erzeugter transnationaler Souveränität verstanden werden kann.
Das alles also ist in den Zustand des „postindustriellen Sozialstaats“ übersetzt worden.
Man könnte sagen, dass es hier um eine sehr kreative Übersetzung geht. Ich bin jedoch weit davon entfernt, sie zu kritisieren. Ich sage nicht, dass sie gut oder schlecht ist. Die Übersetzerin wurde mit einem realen Problem konfrontiert und hat eine Lösung gefunden, die sowohl gute als auch schlechte Seiten hat. Ich glaube sogar, dass die logische Ausrichtung der Übersetzung generell korrekt ist – der Übersetzerin ist es gelungen, eine unmittelbare Lokalisierung, Territorialisierung und Partikularisierung eines im Wesentlichen global definierten Zustandes zu vermeiden, und das war zweifelsohne die mit einer Fehlinterpretation des Originaltextes verbundene Hauptgefahr.
Ein ganz anderes Problem ist die Frage, ob der als „postindustrieller Sozialstaat“ bezeichnete Zustand überhaupt einen Sinn macht? Man könnte hier einwenden, dass sowohl der Untergang des industriellen Modernismus, das Aufkommen des globalen Marktes und eines neuen Typus von transnationalen ökonomischen und politischen Subjekten (deren Macht und Einfluss weit über das traditionelle Konzept des souveränen Nationalstaates hinausgeht und es oft vollkommen negiert), als auch die Einführung einer neuen Produktionsweise, des so genannten Postfordismus, eine immanente Unmöglichkeit irgendeiner Art des stabilen, funktionierenden Wohlfahrtsstaats implizieren. Man könnte sogar sagen, dass der postindustrielle Wohlfahrtsstaat eine Art contradictio in adiecto ist, eine politische Institution, die heute nur noch in ihrer regressiven Form existiert, im Zustand ihres endgültigen Zerfalls – eine Institution, die offensichtlich nur noch mittels einer protektionistischen Politik gerettet werden kann, die sich auf jeden Fall auf irgendeine Art des Rassismus stützen muss.
Übersetzung ohne Wiederkehr
Warum aber habe ich ausgerechnet dieses Beispiel, die Übersetzung von Nancy Frasers Buch, ausgesucht? Das Motiv ist einfach: Es bringt uns direkt zum Kernproblem der kulturellen Übersetzung, zur Kulturalisierung von heutigen politischen Konflikten und Kämpfen, mithin zu dem, wovon Frasers Buch handelt. Außerdem scheint es, dass die Idee der kulturellen Übersetzung ausgerechnet in diesem Kontext als beides – als Symptom dieser Kulturalisierung und gleichzeitig, wie wir hoffen, als Heilmittel – verstanden werden kann.
Zunächst verweist Frasers Diagnose des wichtigsten politischen Problems unserer Zeit direkt auf die Kulturalisierung des Politischen oder – um es mit ihren Worten zu sagen – der sozialen Fragen. Die soziale Ursache, der Kampf um Verteilungsgerechtigkeit, ist in eine kulturelle Ursache politischer Kämpfe, nämlich den Kampf um Anerkennung, transformiert oder, wie wir es auch nennen können, übersetzt worden. Das ist offensichtlich eine Verlagerung von einer sozioökonomischen hin zu einer kulturellen Problematik. Fraser behauptet explizit, dass diese beiden politischen Probleme heute getrennt voneinander existieren und dass es ihr Ziel ist, sie wieder in Verbindung zu setzen. „Gerechtigkeit heute braucht beides, Umverteilung und Anerkennung“, schreibt sie.
Nancy Fraser verwendet diese Begriffe hauptsächlich im analytischen Sinn. Man soll sich eine Art Spektrum vorstellen, das an einem Ende eine rein sozialökonomische Kollektivität hätte – wie die ArbeiterInnenklasse in einem marxistischen Sinn, die ausschließlich durch ihre Position in der allgemeinen Arbeitsteilung definiert ist und deren Ziel darin besteht, sich selbst als Klasse abzuschaffen. Am anderen Ende des Spektrums hätten wir eine Art rein kulturell konstruierter Kollektivitäten – wie etwa Homosexuelle, deren Ziel, das heißt deren Heilmittel gegen die kulturelle Ungerechtigkeit, die sie aufgrund ihrer „verachteten Sexualität“ erfahren, nur in der Anerkennung ihrer Differenz gefunden werden kann. Zwischen diesen analytischen Kategorien gibt es eine reale Welt hybrider Gemeinschaften (Fraser verwendet explizit diesen Begriff, aber in der Bedeutung der Bivalenz. Eine bivalente Gemeinschaft ist eine, die von beiden Seiten aus Ungerechtigkeit erfährt – wie ökonomische Ausbeutung und kulturelle Nicht-Anerkennung). Ihre Beispiele sind Gender und „Rasse“.
Das Problem ist, dass diese beiden Logiken – der Umverteilung einerseits und der Anerkennung andererseits – in einer Welt hybrider Gemeinschaften immer im Widerspruch zueinander stehen: Die Logik der Umverteilung ist es zum Beispiel, Gender aus der Welt zu schaffen (dass es etwa keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Löhnen gibt); im Gegensatz dazu besteht die Logik der Anerkennung darin, die Besonderheiten der Geschlechter aufzuwerten, kulturell verankerten Sexismus und Androzentrismus zu verändern.
Die Auflösung dieses Widerspruchs, die Nancy Fraser in ihrem Buch anbietet, beruht auf ihrer Kritik des liberalen oder Mainstream-Multikulturalismus. Fraser zufolge versucht dieser das Problem nur oberflächlich zu lösen, indem er nämlich sowohl die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit als auch jene nach kultureller Anerkennung akzeptiert. Der Multikulturalismus lässt jedoch erstens die darunter liegende politisch-ökonomische Struktur intakt (das Ziel ist nur, den Konsumanteil benachteiligter Gruppen zu erhöhen) und stellt zweitens niemals essenzialistische Forderungen dieser Gruppen als identitäre Gemeinschaften in Frage. (Er erkennt etwa eine bestimmte schwule Identität an, aber verleugnet ihren queeren Charakter, das bedeutet, eine tiefere ambivalente Wahrheit der Heterosexualität und den immer schon veränderlichen, fluiden, konstruierten, nicht-binären Charakter sexueller Differenzen.) Was offensichtlich notwendig ist, ist eine komplett neue Herangehensweise an die Frage der Anerkennung, eine Herangehensweise, die Fraser Dekonstruktion nennt.
Aber dies ist genau das Konzept der kulturellen Übersetzung, das im besten Fall auf diese dekonstruktive, antiessenzialistische, postmultikulturalistische, postidentitäre Haltung verweist. Die kulturelle Übersetzung ist nur ein Name für den Prozess der Produktion dieser kulturellen Hybridität, dieser kulturellen „Zwischenheit“, wie Homi Bhabha sie nennen würde, der die Idee der kulturellen Übersetzung verwendet, um das Auftauchen neuer transnationaler postkolonialer Identitäten zu markieren. Anders als Gayatri Spivak, die – mit dem Begriff des „strategischen Essenzialismus“ – wie Fraser den Widerspruch zwischen dem politischen Gebrauch von angeblich essenziellen identitären Gemeinschaften und ihrem kulturell konstruierten Charakter erkennt, glaubt Bhabha an einen unmittelbaren politischen Einfluss der kulturellen Hybridisierung und schreibt dem Prozess der kulturellen Übersetzung eine immanente Subversivität zu. Im Gegensatz dazu sind sowohl Spivak als auch Fraser sich des Problems der Kulturalisierung bewusst, das für Fraser das Haupthindernis für eine Lösung des Dilemmas von Umverteilung und Anerkennung darstellt.
Tatsächlich bietet uns Nancy Fraser eine Lösung an, die in einer einfachen Formel zusammengefasst werden kann – Sozialismus in der Ökonomie und Dekonstruktion in der Kultur. In anderen Worten, kulturelle Übersetzung wird nur im Sozialismus progressiv, das heißt auf der Basis einer ungefähren sozialen Gleichheit. Damit diese Formel aber funktionieren kann, müssen sich, wie Fraser glaubt, alle Menschen ihre Bindung an geläufige kulturelle Konstruktionen ihrer Interessen und Identitäten abgewöhnen.
Aber wie kann man die Menschen davon überzeugen, ihre kulturellen Affiliationen zu vergessen und ihre Augen für jene soziale und ökonomische Ungleichheit, unter der sie leiden, zu öffnen? Kulturalisierung ist eine Art Übersetzung. Die Sprache sozialer Kämpfe wurde in die Sprache des Kampfes um kulturelle Anerkennung übersetzt. Das Problem ist, dass es keinen Weg zurück gibt. Kein Original kann aus seiner Übersetzung rekonstruiert werden. Eine Übersetzung ist irreversibel. Es wäre sonst möglich, eine Traumdeutung in den Traum selbst zurückzuübersetzen. Oder – um wieder unser Beispiel aufzugreifen: Wäre es möglich, den Originaltitel von Frasers Buch (Justice Interruptus. Critical Reflections on the Postsocialist Condition) aus seiner deutschen Übersetzung (Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats) zurückzuübersetzen? Die Antwort ist klar: Niemals!
In anderen Worten, es gibt keinen Weg zurück zur Gemeinschaft des demokratischen Sozialismus, wie dekonstruiert – oder kulturell übersetzt – seine kulturelle Identität auch immer sein mag.
Tugend der Untreue
In einem – bereits erwähnten – Essay des Buches über „Sex, Lies and the Public Sphere“ behandelt Nancy Fraser direkt das Problem einer gewissen Umkehrbarkeit im Prozess der Emanzipation der Frauen. Der Essay handelt vom Fall einer Frau, die versuchte, das Problem der sexuellen Belästigung öffentlich anzusprechen, es aber unmöglich fand, ihre eigene Privatsphäre vor öffentlichem Missbrauch zu schützen. Der Anliegen feministischer Mobilisierung war ursprünglich entlang der Achse privat–öffentlich verortet (die Aufgabe war es, das Private politisch zu machen). Plötzlich kehrte sich die Richtung um. Die Aufgabe war es nun, die Privatsphäre vor der Öffentlichkeit zu schützen, die ihren normativen Wert und ihre progressive politische Bedeutung verloren hatte.
In einem Essay über die Öffentlichkeit, der später veröffentlicht wurde[5], reflektiert Nancy Fraser (auch selbstkritisch) über die Veränderungen der politischen Rolle und der Natur der Öffentlichkeit im Kontext eines breiteren historischen Wandels – des Kollaps der so genannten post-westfälischen Ordnung, einer Weltordnung, die durch das 300 Jahre alte Konzept des souveränen Nationalstaats geprägt war.
Laut Fraser ist die klassische Theorie der Öffentlichkeit – deren Autor natürlich Jürgen Habermas ist – implizit im Konzept dieser westfälischen Ordnung begründet, weshalb sie auch einige Elemente voraussetzt, die eine conditio sine qua non einer nach ihren normativen Prinzipien funktionierenden Öffentlichkeit darstellen: einen nationalen Staatsapparat, der souveräne Macht über ein begrenztes Territorium und dessen BewohnerInnen ausübt; eine nationale Ökonomie, die im Prinzip einer staatlichen Regulierung unterworfen ist; eine nationale BürgerInnenschaft, die ihre Interessen im Rahmen des Nationalstaates artikuliert; eine Nationalsprache, die das Medium öffentlicher Kommunikation bildet; eine nationale Literatur und ein nationales Bildungssystem, die eine partikuläre kulturelle Identität erfinden, konstruieren und ausbilden, eine nationale Infrastruktur der Kommunikation, nationale Presse, Rundfunkmedien, etc.
Keines dieser Elemente ist heute noch immer im ursprünglichen Sinne gültig. Alle wurden durch das Aufkommen neuer Formen der transnationalen, globalen Souveränität in ihrer Substanz gefährdet. Konsequenterweise haben die normative Bedeutung und die politische Rolle der Öffentlichkeit ebenfalls ihre Gültigkeit verloren. Die alte Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen wurde ebenso verwischt. Kein Wunder also, dass auch die alten Ideen des Fortschritts und der Emanzipation ihre Richtung verloren haben.
Es war die Übersetzung, die gute alte sprachliche Übersetzung, die einst – im Sinne Humboldts – das Aufkommen der westfälischen Ordnung unterstützte. Das eben war ihre soziale und politische Aufgabe – die Gemeinschaften dieser Ordnung, die Nationen der heutigen Welt samt ihrer politischen Ausdrucksform, dem souveränen Nationalstaat, auszubilden. Am Ende dieses Prozesses, einem Ende, das wir postmodern, postnational, postsozialistisch, postkolonial, postwestfälisch, poststrukturalistisch etc. nennen können, wurde Übersetzung kulturell.
In der Übersetzung sah Walter Benjamin eine Art Fortleben des Originals. Warum dann nicht auch Kultur als ein Fortleben von Gesellschaft verstehen? Das impliziert selbstverständlich eine immanente Irreversibilität dieses Wandels. Man kann keine Kultur in eine Gesellschaft zurückübersetzen. Kein Kampf für kulturelle Anerkennung kann wieder als Kampf für soziale Gerechtigkeit gelesen werden. Es gibt keine neoliberale, postindustrielle Privatisierung, die zurück in den sozialdemokratischen Wohlfahrtstaat übersetzt werden kann und auch keine kulturelle Dekonstruktion, die in die Sprache des politischen Essenzialismus rückübersetzbar wäre. Übersetzung muss auch als zweiter Name für den point of no return verstanden werden, das heißt als zweiter Name für das, was wir jetzt, nachdem es nicht mehr als universaler Prozess verstanden werden kann, noch immer Geschichte nennen dürfen.
In diesem Kontext betrachtet kann die Idee der Übersetzung – sowohl im sprachlichen als auch im kulturellen Sinne – ihre politische Bedeutung nur in der Ausbildung einer neuen Gemeinschaft wiedergewinnen, jenseits der Trennlinien zwischen verschiedenen kulturellen Identitäten, jenseits des Unterschieds zwischen Kultur und Ökonomie, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen meiner und deiner Muttersprache, zwischen der materiellen und immateriellen Arbeit und letztendlich jenseits der Idee der Souveränität selbst.
Diese Art von Gemeinschaft hat schon ihren Namen bekommen – die multitude –, und ich habe keinen anderen, besseren Namen für sie. Was ich aber für sicher halte, ist, dass diese Gemeinschaft, um wirklich entstehen zu können, eine Übersetzung braucht, die zu ihrer Bildung beitragen könnte. Wie schon am Anfang gesagt, glaubte Humboldt, dass Übersetzung ihre Mission in der Gemeinschaftsbildung nie erfüllen kann, ohne von einer besonderen Tugend geleitet zu werden, von der Treue der ÜbersetzerIn (nota bene nicht eine Treue dem Originaltext, sondern der eigenen Muttersprache bzw. der eigenen Nation gegenüber).
Das bringt uns zur klaren Schlussfolgerung: Falls Übersetzung heute wieder ihre Verantwortung für eine neue, postnationale Gemeinschaft übernehmen soll, so müsste sie auch von einer besonderen Tugend geleitet werden. Ich schlage vor, diese Tugend die Untreue der ÜbersetzerIn zu nennen, die Untreue gegenüber ihrer Nation, ihrer kulturellen Identität, ihrer Muttersprache, kurz: die Untreue gegenüber der toten Sprache einer alten, obsolet gewordenen Emanzipation …
Schließlich ist eine ÜbersetzerIn immer schon eine VerräterIn, oder wie der Volksmund sagt: Traduttore traditore. Wer übersetzt, verrät. Erheben wir das also zum politischen Zweck.
[1] Nancy Fraser, Justice Interruptus. Critical Reflections on the Postsocialist Condition, New York / London: Routledge 1997.
[2] Nancy Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.
[3] Wilhelm von Humboldt, „Einleitung zu ‚Agamemnon‘“ in: Aeschylos’ Agamemnon metrisch Übers., Gesammelte Schriften, Abt. 1, Werke, hg. v. Albert Leitzmann im Auftrage der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin: B. Behr’s Verlag 1903–1936, S. 117–230.
[4] Alex Demirovic, „Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich“, in: Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien: Turia und Kant 2005, S. 42–56.
[5] Nancy Fraser, „Die Transnationalisierung der Öffentlichkeit“, in: Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien: Turia und Kant 2005, S. 18–31.