Übersetzt von Karoline Feyertag
Die aktuellen Debatten über die sogenannten „Gesetze der Erinnerung“[1] und die „koloniale Vergangenheit“ in Frankreich haben auf denkwürdige Weise das Thema, welches diesem Seminar[2] zugrunde liegt, wieder aufgeworfen: Welches Gewicht hatte der Kolonialismus in der Organisation der Welt? („Gewicht“ im dem Sinn, dass er dem Politischen, Kulturellen, Ökonomischen sowie dem Recht eine bestimmte Richtung gab). Darüber, wie mit der kolonialen Vergangenheit, zur Zeit der Sklaverei ebenso wie in ihrer Folge, umgegangen werden soll, kann für Frankreich eine tiefgehende Uneinigkeit festgestellt werden. Zwei Geschichtsschreibungen stehen einander gegenüber: Die eine behauptet, die „wissenschaftliche Wahrheit“ anzustreben, indem sie sich auf eine vermeintliche „Autonomie“ des/r ForscherIn und auf eine klare Trennung von Erinnerung bzw. Gedenken und Geschichte stützt, wobei die Erinnerung Neuschreibungen und Umschriften unterworfen sowie der Welt des Subjektiven und Emotionalen zuzuordnen sei, Geschichte sich hingegen in der Stille der Archive, fernab vom Lärms der Welt schreibe. Sie hinterfragt kaum ihre Produktionsbedingungen, und ihre Argumente wie das der Autonomie der Forschenden und der Trennung von Erinnerung/Geschichte verweigern der gesamten Arbeit der letzten dreißig Jahre die Anerkennung; davon ist die Methodologie, welche (als Überbleibsel eines orthodoxen Marxismus) das Soziale und Ökonomische gegenüber dem Kulturellen und Politischen bevorzugt, ein Unterkapitel. Sie verteidigt eine ideologisch bestimmte Vorstellung der Republik und illustriert dadurch recht offensichtlich die kritische und methodologische Sackgasse, in der seit langer Zeit in Frankreich Ereignisse wie koloniale Eroberung, Kolonialismus und nationale Befreiungskämpfe festgefahren sind.
Die zweite Form der Geschichtsschreibung versucht ihre Produktionsbedingungen zu hinterfragen, bevorzugt einander kreuzende Lesarten und Blickwinkel und interessiert sich für andere Archive als die „offiziell“ autorisierten; sie lässt es zu, die Geschichtsschreibung als konfliktreiches Terrain zu betrachten, auf dem sich widersprüchliche Interessen begegnen und wo die „Wahrheit“ das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses ist, welcher der Prüfung durch die Zeit, der Entdeckung neuer Archive und Paradigmenverschiebungen unterworfen ist. Sie lässt sich von der postkolonialen Theorie in ihrer Gesamtheit inspirieren sowie von den kritischen Arbeiten in der Philosophie, Geschichte und Anthropologie, welche zum Poststrukturalismus und zur Postmoderne gezählt werden.
Diese Opposition zwischen zwei Arten von Geschichtsschreibung ist nicht neu – sie fand ebenso statt, als es darum ging, die Geschichte der Frauen, der ArbeiterInnen, der Subalternen in den Narrativen der nationalen Unabhängigkeiten zu schreiben. Dass sie aber aus Anlass der Forderung nach Revisionen der französischen Nationalgeschichte wieder derart heftig auftaucht – einer Forderung, die von Gruppen erhoben wird, die der Geschichte des Sklavenhandels, der Sklaverei und ihrer Abschaffung sowie jener des Kolonialismus ihren Platz in der französischen Nationalerzählung und in der Konstitution der Moderne geben wollen –, ist hinreichend interessant, um eine genauere Analyse dieser Auseinandersetzung zu rechtfertigen.
Das Problem besteht jedoch nicht allein darin, die Berücksichtigung von „minoritären Geschichten“ einzufordern, die Geschichte bzw. Geschichtsschreibung auf „multikulturelle“ Weise zu demokratisieren oder die kleingeschriebenen Geschichten gegen die eine große Geschichte auszuspielen. Ich meine, dass heute ein Teil der universitären Institution, der eine breite Unterstützung in der Presse und den Verlagen genießt, versucht, diesen existierenden Ansätzen ihre Legitimität abzusprechen. Mehr denn als einen Methodenstreit verstehe ich diesen Zwist als einen Versuch der Weigerung, zu erkennen, wie und warum sich ein blinder Fleck im französischen Denken herausgebildet hat, wie und warum die Frage des Kolonialismus (und die der Sklaverei und ihrer Folgen) zu einem Knotenpunkt im nationalen Bewusstsein wurde. Es gibt kein Komplott, es gibt einen Konflikt; einen Konflikt um einen Zugang zum Politischen und zum Konflikt selbst. Es gibt kein Komplott – Bücher werden publiziert, Forschungen durchgeführt –, es gibt eine Divergenz zwischen den Formen der Verständigung darüber, was die Kolonie war und was die Postkolonie ist. Es gibt kein Komplott, aber es gibt Uneinigkeit.
Wenn ich von Uneinigkeit spreche, dann spreche ich von der Art, wie Geschichtsschreibung konzipiert wird und Begriffe wie Staatsbürgerschaft, Nation, Kolonie, Dekolonisierung, Unabhängigkeitskämpfe etc. gebildet werden. Es ist diese Konstituierungsbewegung, die den spezifischen Gegenstand der historischen Forschung darstellt. Die Erforschung dessen, was die Kolonie zu einem Raum außerhalb des nationalen Territoriums macht und inwiefern die Konstituierung des kolonialen Raums auch die „Dekolonisierung“ bestimmt, erhellt die Konstitutionsbewegung und den Prozess der Produktion dieses Raums. Die postkoloniale Theorie lädt uns dazu ein, „die Grenzen zu problematisieren, die die mentalen Karten der HistorikerInnen organisieren“[3]. Diese Grenzen werden selten in Frage gestellt und zeugen somit von einem kulturellen Nationalismus, welcher zur Missachtung der Raum-Zeit-Gefüge, v. a. jener der Kolonie führt. Die Ordnung des Diskurses und seines Schweigens strukturiert das historische Feld, so z. B. das Schweigen über die Revolution in Haiti in den historischen Berichten des 18. Jahrhunderts.[4] Aber die postkoloniale Theorie warnt uns auch vor einem allzu großen Vertrauen in die Möglichkeit, die Stimme der Subalternen in den kolonialen oder nationalen Archiven wiederzufinden.
Eine Reihe jüngster Veröffentlichungen – Daniel Lefeuvre, Pour en finir avec la repentance coloniale, 2006, Romain Bertrand, Mémoires d’empire. La controverse autour du „fait colonial“, 2006, René Rémond, Quand l’Etat se mêle de l’histoire, 2006, Pascal Bruckner, La Tyrannie de la repentance, 2006, Jean-Pierre Rioux, La France perd la mémoire. Comment un pays démissionne de son histoire, 2006 – wie auch spezielle Beiträge in Wochenzeitungen und Fachzeitschriften, Diskussionsrunden in Radio und Fernsehen haben das Forschungsfeld neu abgesteckt, indem sie versuchten, den politischen Konflikt als einen methodologischen Konflikt zu inszenieren: auf der einen Seite die der „Aktualität“ und dem Druck von Gedenkvereinigungen unterworfenen ForscherInnen, auf der anderen Seite die autonomen, nach Wahrheit strebenden ForscherInnen. Das übergeordnete Interesse der Nation würde verlangen, diese Geschichte dem Schweigen der Archive und den HistorikerInnen zu überlassen, welche einzig und allein fähig seien, die Fäden der Geschichte zu entwirren. Dieser Versuch der Delegitimierung, der Disqualifizierung von Forschungsarbeiten ebenso wie jenen, die sie durchführen, stützt sich außerdem auf die angeblichen starken Gegensatz zwischen Erinnerung und Geschichte, wobei die Erinnerung auf die Seite des Subjektiven, des Unvorstellbaren, der Hysterie, des Irrationalen und der oralen Tradition gestellt wird und die Geschichte auf die Seite der Vernunft, des Objektiven, des schriftlichen Archivs.
Eine derartige methodologische Distanzierung kann nur verstanden werden, wenn man die kulturellen, sozialen und politischen Einsätze, die der Debatte zugrunde liegen, analysiert. Denn das, worum es geht, ist der Sklavenhandel, die Sklaverei und die koloniale Eroberung (genannt „Kolonisierung“, ich werde noch auf diese semantische Verschiebung zurückkommen) – alle Phänomene, die man einer ein für alle Mal überstandenen Vergangenheit in Rechnung stellen möchte. Psychologische Ratschläge (man muss trauern können, sagen Rioux und Rémond) oder politische (ihr vergesst das Soziale, sagen Bertrand und Lejeune) tragen auf ihre Weise zur Delegitimierung einer ganzen Reihe von Interventionen bei, da Letztere bloß auf ein Unwohlsein oder eine Verblendung bezogen werden. Nichts scheint also legitim an diesen Interventionen.
Wir wohnen dem Versuch der Aufrechterhaltung einer Geschichtsschreibung bei, die ein Bild von Frankreich bewahren will, das die nationale Einheit garantieren soll (ein von der Linken wie auch der Rechten geteilter, nationaler Geschichtsbegriff). In dieser Erzählung wird das Koloniale in eine Linearität eingeschrieben, in der die Geschichte sich in „helle und dunkle Seiten“ teilt – eine hohle Formulierung, welche Geschichte in eine Landschaft verwandelt, über die ein paar dunkle Wolken ziehen. Diese Schattenzonen, will man der Metapher weiter folgen, sind jedoch von Gespenstern und Lebenden bevölkert, sie sind keine leeren Zonen, in die man bloß ein wenig Licht (Aufklärung) bringen muss, um sie freundlicher zu machen. Diese Gespenster und Lebenden existieren nicht „außerhalb“ des nationalen Territoriums, sie wohnen darin genauso rechtmäßig wie jene, die sich selbst als legitime BürgerInnen proklamieren. Es wird nicht ausreichen, diese Schattenzonen aufzuhellen, sondern man wird auch verstehen müssen, wie sie konstituiert wurden, wie und warum jene, die sie bewohnen, dorthin geführt wurden und wie und warum jene, die dort wohnen, dazu kommen, das Bürgerrecht im politischen Gemeinwesen einzufordern oder ein neues Gemeinwesen aufbauen zu wollen.
Der Sklave ist ein Bewohner dieser Schattenzone, ein für immer in die Vergangenheit verbanntes Gespenst, welchem es verboten ist, in der französischen Nation präsent zu sein. Doch der Sklave geistert durch die Grundverfassung Frankreichs. Man will heute nicht mehr auf den Rassisierungsprozess der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zurückkommen, heute, da dem Satz „Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren“ zwar ein „mit Ausnahme einiger“ hinzugefügt wird, aber allzu leise. Man versucht zur Erklärung dieses „mit Ausnahme einiger“ glaubhaft zu machen, es handle sich um einige KolonisatorInnen, die sich außerhalb des Nationalkörpers gestellt hätten. Diese Teilung zwischen weißen, zivilisierten Menschen, die in Frankreich leben, „entzivilisierten“ Weißen in den Kolonien und „Indigenen“, diesen Untermenschen, die sich selbst aus der Gemeinschaft der Gleichen ausschließen, ist schon zur Zeit der Sklaverei erkennbar und setzt sich in den Kolonien nach der Sklaverei fort. Die Arbeit von Pierre Nora, Les Francais d’Algérie, exemplifiziert diese Konstituierung von Gruppen anhand einer Wortwahl, die jene Menschen, die dem Fortschritt näher stehen, von jenen unterscheidet, die ihm am entferntesten sind. Dieses koloniale Vokabular der republikanischen Zivilisationsmission setzt sich in der politischen Sprache des heutigen Frankreich fort.
Die Begrenzung eines Territoriums gehört zu den Gründungsakten des Nationalstaats: Grenzen müssen gezogen werden. Hier die BürgerInnen, dort die Fremden. Im Inneren dieses Territoriums haben die französischen BürgerInnen Rechte, hier wird die Nationalerzählung geschrieben. Staatsbürgerschaft, Nationalerzählung und Territorialität stehen in einer Verbindung. Die Kolonie, zur Zeit der Sklaverei und danach, wurde aus der Territorialität verbannt, aus dem Nationalkörper ausgegliedert, und die Opfer der Sklaverei und des Kolonialismus wurden wie selbstverständlich aus dem „Territorium des Rechts“ abgeschoben. Hannah Arendt hat davon in ihrem Buch über den Totalitarismus gesprochen, und ihre theoretischen Ansätze haben den Weg zu einer ganzen Reihe von Arbeiten eröffnet, wie etwa jenen von Achille Mbembe, Ann Laura Stoler, Edward Saïd, Michel Foucault oder Saskia Sassen. Sie alle erklären, wie unmöglich es ist, unsere Gegenwart zu begreifen, wenn wir uns nicht mit der komplexen und konfliktreichen Geschichte der Rechte und ihrer Territorialität beschäftigen. Mitglied einer politischen Gemeinschaft zu werden ist keine Selbstverständlichkeit.
Die Geschichte der Kolonien in Übersee gehört immer noch nicht zur nationalen Geschichte; sie existiert am Rande, zusätzlich. Die Sklaverei stellt ein Kapitel dieser Geschichte dar, welches so sehr der Vergangenheit angehört, dass man immerhin in der aktuellen Debatte um das Taubira-Gesetz vernehmen kann, es sei zwar legitim, ihre Geschichte zu studieren, die Erinnerung an sie wachrufen zu wollen zeuge jedoch von einer neurotischen Bindung an die Vergangenheit, von einer Vermischung von Vergangenem und Gegenwärtigem und von einem Bedürfnis, die Geschichte zu manipulieren. Gewiss, das bedeutet, diese Geschichte sehr schlecht zu kennen. Gleichzeitig aber bedeutet es die bewusste und in revisionistischer Absicht erfolgende Ausblendung jener Beiträge, welche sich für eine kritische wissenschaftliche Forschung einsetzen.
So ignorieren all jene HistorikerInnen, die sich gegen das Taubira-Gesetz stellen, den Bericht des Comité pour la Mémoire de l’Esclavage[5], der seit Mai 2005 online und Ende 2005 in gedruckter Form erschienen ist. Sie kommen unaufhörlich auf die Forderung des Comité des Antillais, Guyannais et Réunionnais[6] von Anfang 2005 zu sprechen, gegen Olivier Pétré-Grenouilleau strafrechtlich vorzugehen; Pétré-Grenouilleau ist der Autor des Buchs Les traites négrières (erschienen bei Gallimard), welches sofort nach seinem Erscheinen von der Kritik gefeiert und mehrfach ausgezeichnet wurde und seitdem als von seinem wissenschaftlichen Umfeld „einstimmig gelobtes Werk“ legitimiert ist (das strafrechtliche Verfahren gegen Pétré-Grenouilleau wurde Anfang 2006 eingestellt). Ich kann einem derartigen Prozess in keinster Weise zustimmen und versuche die Bedingungen einer solchen Jurisdiktion der Geschichte zu analysieren, aber es interessiert mich ebenso sehr, wie die Geschichte dieses Vorfalls geschrieben wurde und sich seither als „Wahrheit“ verfestigt hat. Dieses Vexierspiel, in dem ein sogenannter „kommunitärer“ Verein die moralische Entrüstung der HistorikerInnen nährt, hat schließlich jegliche kritische Lesart dieser Publikation verhindert, obwohl sie es auf jeden Fall verdient hätte – umso mehr, als man das Buch von Pétré-Grenouilleau nach Kenntnis des 2006 endlich ins Französische übersetzten Buches von Lord Hugh Thomas, La Traite des Noirs (The Slave Trade), im Rahmen der langen Historiographie des atlantischen Sklavenhandels nun erstmals richtig einordnen kann. Es geht also einmal mehr darum, zu verstehen, wie ein Umfeld zur Legitimation des Kolonialismus herausgebildet wird und wie seine Produktionsbedingungen beschaffen sind.
In der offiziellen französischen Geschichtsschreibung wird das Ende der kolonialen Sklaverei als zwangsläufiges Moment in der historischen Entwicklung gesehen, in der Frankreich schlussendlich seine Rolle als Heimat der Menschenrechte einnimmt. In dieser teleologischen Erzählung ordnet sich alles wie in einem Bühnenstück ein, dessen politische Folgen erst heute erkennbar werden und in dem die französischen VerfechterInnen der Abschaffung der Sklaverei die Hauptrolle spielen. 1848 wendet sich Frankreich von seiner Vergangenheit der Sklaverei ab. Um den Erfordernissen einer Nationalerzählung zu entsprechen, in der Frankreich nicht sein Gesicht verlieren darf, wird eine gesamte historische Epoche aus der Erinnerung gestrichen.
Die Verkehrung der Bedeutung der Sklaverei in eine Geschichte, die sich „dort“ in „Übersee“ ereignet habe und keinen Bezug zur Nationalgeschichte unterhalte, hat zahlreiche HistorikerInnen und SoziologInnen zu einer blinden Ignoranz gegenüber aktuellen kulturellen und sozialen Forderungen in öffentlichen Diskussionen verleitet. Sie werden marginalisiert und als „kommunitaristische“ Forderungen abgetan. Diese Begrifflichkeit von zwei Zeitlichkeiten und zwei Räumen, die sich gegenseitig ausschließen, hängt mit einem territorialisierten Begriff von nationaler Geschichte zusammen; ihre Geographie ist eine Geographie, deren Grenzen aus dem 18. Jahrhundert stammen. Die Nationalerzählung berücksichtigt ausschließlich das Territorium und die Geographie der Königreiche und revolutionären Kriege auf dem europäischen Kontinent. Niemals jedoch die „französischen Übersee-Gebiete“. Dies ist einer der Gründe für die Auslassung, die systematische Ausschließung des Kolonialismus aus der Nationalerzählung. Um mich exakter auszudrücken: Die Kolonie ist Thema, aber die Querverbindungen zwischen dem Kolonialen und dem Nationalen werden nicht thematisiert.
Wenn man von diesen Bemerkungen ausgeht, kann man nicht vom Kolonialen (zur Zeit der Sklaverei sowie danach) und vom Post-Kolonialen (bezüglich dessen in Frankreich ein tiefes Unverständnis vorherrscht) sprechen, ohne sich die Notwendigkeit einzugestehen, die Erzählungen und Blicke zu kreuzen. Um eine Formulierung von Homi Bhabha aufzugreifen: „Das sichtbare Erbe dieser verdrängten Geschichte schreibt sich in die Rückkehr der ehemals Kolonisierten in die Metropole ein. Allein schon ihre Anwesenheit verändert die Politik der Metropole, deren kulturelle Ideologien und intellektuelle Traditionen, und zwar in dem Maße, wie sie aufgrund ihrer eigenen schmerzvollen Erfahrung von Kolonisierung einige der großen Erzählungen der Metropole über den Fortschritt und die öffentliche Ordnung ins Wanken bringen und die Autorität und Authentizität dieser Erzählungen in Frage stellen.“[7]
Dieser Ansatz wird bei weitem nicht von allen geteilt, sondern sogar als Bedrohung für die Republik oder auch für den Klassenkampf empfunden. Für den Historiker Daniel Lefeuvre verabschieden die „Reumütigen“ als eine unklar definierte Sekte das Problem des „sozialen Bruchs“[8], vergessen den „Klassenkampf“ und machen aus der kolonialen Vergangenheit das einzige Interpretationsraster für die Gegenwart.[9] Lefeuvre belegt den Irrtum der „Reumütigen“, indem er sich auf das Kosten-Nutzen-Argument stützt, ohne zu sehen, dass dieses eigentlich seine eigene Beweisführung widerlegt: Die Kolonien hätten Frankreich auf wirtschaftlicher Ebene nichts eingebracht, sie hätten den Staat sogar sehr viel gekostet. „Es ist nicht auszuschließen“, zitiert Lefeuvre den Ökonomen Paul Bairoch, „dass das koloniale Unternehmen der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs eher geschadet als genützt hat.“[10] Frankreich habe also nicht von den Kolonien profitiert, und wenn auch das Militär einigen Machtmissbrauch begangen habe, so sei dieser durch den eingeführten Fortschritt schnell wieder gut gemacht worden.[11] Aber wenn Frankreich nicht gerade im wirtschaftlichen Sinn von den Kolonien profitiert hat (was aber umstritten bleibt), dann heißt das wohl, dass es einen anderen Nutzen des Kolonialismus gegeben hat und dass dieser weniger ein wirtschaftlicher als vielmehr ein psychologischer, kultureller und politischer war.
Jean-Pierre Rioux schlägt in seinem Buch La France perd la mémoire eine andere Analyse des Phänomens vor. Der „Bruch oder die Kluft“, schreibt er, „welche wir heute in Bezug auf die Kolonisierung und die Sklaverei im kollektiven französischen Gedächtnis erleben, rühren eher von den ‚Lücken‘ in der Erinnerung sowohl im Gedächtnis Frankreichs als auch bei den Nachkommen der Opfer her, denn sie bringen oft derart verwirrte und zerstreute, manchmal auch rekonstruierte Erinnerungsstücke zusammen, immer fordernd und sogar rachsüchtig; die Summe dieser Bruchstücke macht jedoch noch keine Erinnerung aus.“[12] Auch wenn er die Legitimität der Forderungen der Nachkommen der SklavInnen anerkennt, damit sie „ihren kollektiven Stolz bestätigt sehen; um die Wärme der Gemeinschaft, von der sie träumen oder die sie wiederfinden wollen, zu bekräftigen; um eine Debatte über die gesellschaftliche und kulturelle Autonomie, welche die Republik ihnen geben sollte, zu führen“, so zieht Rioux dennoch die Schlussfolgerung, dass „jedenfalls nichts dazu nötigt, die Vergangenheit zur Hauptsache zu machen; im Gegenteil muss daran gedacht werden, eines Tages die Trauerarbeit zu beenden“. Es liege eine Gefahr darin, die Vergangenheit als Ausgangspunkt für die Erklärung der Gegenwart zu nehmen, da „die koloniale Vergangenheit ein Argument und ein Vorwand ist, um das Gastland oder seine Nationalität in Frage zu stellen“[13]. Was hier beanstandet wird, ist der Gebrauch der Vergangenheit, um die Gegenwart zu erklären, aber diese Kritik ist ein „Vorwand“, um Rioux’ Begriff aufzugreifen, um die Konstituierung eines anderen Arguments zu verdecken, dessen Ziel die Konstruktion einer Erzählung ist, in der zwar die Exzesse zugegeben werden, aber nur, um im selben Atemzug deren Folgen abzuschwächen. Sicherlich ist die Sklaverei zu verurteilen, aber es muss dennoch gesagt werden, dass Afrikaner und Muslime noch viel Schlimmeres gemacht haben! Ist das ein Verbrechen gegen die Menschheit? Ist es gerechtfertigt, von einer Vergangenheit zu sprechen, von der es keine Überlebenden mehr gibt? Sicherlich hat es Machtmissbrauch in den Kolonien gegeben, aber nachdem dieser vorüber war, hat die Kolonisierung nicht auch Fortschritt gebracht?
Das Vokabular eines erzieherischen Ideals der Kolonisierung und einer der Kolonisierungsmission inhärenten Gutmütigkeit hat den Kolonisator von seiner Überlegenheit überzeugt. Seine Sprache war die der Zivilisation und der Ordnung. Aber der Kolonisierte hat es sich nicht nehmen lassen, diese Sprache des Kolonisators mit Ironie oder Spott gegen ihn selbst zu kehren, um ihm ihre Grenzen, blinden Flecken und Schattenseiten zu zeigen. Die lange Geschichte der kolonialen Einsprachigkeit, die taub gegenüber anderen Sprachen ist, die Vermischung der Sprachen fürchtet und die Kreolisierung ablehnt, darf uns nicht die Geschichte der Aneignung des Französischen durch den Sklaven vergessen lassen, der von der Sprache des Anderen kolonisiert wurde.
Genauso wenig dürfen wir die Geschichte der Transformation dieser Sprache vergessen, der Übersetzung von Wörtern wie Freiheit und Gleichheit in den Kontext der Kolonisierten. Der Sklave und der Kolonisierte verstanden Französisch, aber auf welche Art? Nach Art eines Fremden, der gleichzeitig seine eigene Sprache, das Kreolische, entwickelt, aber sich des Französischen bemächtigt, um gegen den Unterdrücker dessen eigenen Worte zu wenden, ihm vorzuhalten, wie sehr seine Handlungen seinen Prinzipien, seinem Vokabular und seinem Anspruch auf Universalität widersprechen. Das Sklavengesetz sah vor, dem Sklaven die Zunge herauszureißen, um ihn zu bestrafen, ihn zu knebeln, ihm einen Maulkorb umzuhängen, ihm das Sprechen in der Öffentlichkeit zu verbieten. Er durfte nicht sprechen, denn hätte er sonst nicht seinen Herren verflucht und den Missbrauch angeprangert? Dennoch bemächtigten sich die SklavInnen und Kolonisierten der französischen Sprache und „entnationalisierten“ sie. Sie wird zur transkontinentalen, transnationalen, entrassisierten Sprache, die jegliche Verbindung zwischen Sprache und Nationalität zurückweist. Es handelt sich nicht um eine einfache „Tropikalisierung“ von Begriffen, sondern um eine Aneignung, welche die Ethnisierung ablehnt, die der koloniale Diskurs mit den Analogsetzungen von „Weiß“ und „frei“, „Weiß“ und „Bürger“ hergestellt hat.
Die Kolonisierten bemächtigen sich des Vokabulars der Französischen Revolution und der Aufklärung, um die übermäßigen Privilegien der besitzenden Klasse anzugreifen. Die Kolonisierten verwenden den republikanischen Wortschatz, indem sie ihn entnationalisieren und ihm auf diese Weise wieder seinen universellen Charakter geben. Aber heute ist dieses republikanische Ideal geschmälert; es hat sein Versprechen nicht eingelöst, sondern seine Grenzen im Licht der jüngsten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen aufs Neue offenbart – immer noch der Prinzipienliebe sowie der Verachtung des Pragmatismus verhaftet, dem abstrakten Universalismus und dem Misstrauen gegenüber den Differenzen.
[1] Hier und in der Folge ist v. a. die Debatte um das Taubira-Gesetz gemeint, welches am 21. Mai 2001 vom französischen Parlament beschlossen wurde, um der Sklaverei und des Sklavenhandels als eines „Verbrechens gegen die Menschheit“ zu gedenken. [Anm. d. Ü.]
[2] Polture and Culitics. On political prospects of cultural translation, Paris, 12.–14. Oktober 2006, http://translate.eipcp.net/Actions/discursive/paris2006
[3] Sandro Mezzadra: „Temps historique et sémantique politique dans la critique post-coloniale“, Multitudes, Herbst 2006, 26, S. 75–94, S. 84.
[4] Vgl. hierzu Françoise Vergès, La Mémoire enchaînée. Questions sur l’esclavage, Paris: Albin Michel 2006, und Michel Rolph Touillot, Silencing the Past. Power and the Production of History. New York: Beacon Press 1995.
[5] Komitee für die Erinnerung an die Sklaverei.
[6] Komitee der Antillaner, Guyanesen und Réunionesen: Interessenverband der ursprünglich aus den französischen Überseekolonien stammenden BürgerInnen, auch „collectif DOM (départements d’outre-mer)“ genannt. (Anm. d. Ü.).
[7] Homi Bhabha, „Le tiers-espace. Entretiens avec Jonathan Rutheford“, in: Multitudes, Herbst 2006, S. 95–108, S. 104.
[8] Im Französischen üblich, z.T. modisch gewordener Begriff, der den Begriff des Klassenkampfes zunehmend verdrängt und sich auch auf ethnische und religiöse gesellschaftliche „Bruchstellen“ beziehen kann. (Anm. d. Ü.).
[9] Daniel Lefeuvre, Pour en fiinir avec la repentance coloniale, Paris: Fammarion 2006, S. 219.
[10] Ebd., S. 134.
[11] Vgl. ebd., S. 64 f. u. 169 f.
[12] Jean-Pierre Rioux, La France perd la mémoire, Paris: Perrin 2006, S. 141.
[13] Ebd., S. 147.