12 2007 Fotografien im KontextPierre Bourdieus fotografische Dokumentationen in Algerien, 1957–1961Für diesen Vortrag habe ich eine Auswahl von Fotografien Pierre Bourdieus getroffen, die in den Jahren 1957 bis 1961 in Algerien entstanden sind – eine Auskoppelung aus dem fotografischen Archiv, das Bourdieu uns mit dem Ziel, ein Ausstellungs- und Buchprojekt zu gestalten, übergeben hatte. Dieses von der Fondation Pierre Bourdieu in Genf und Camera Austria in Graz in den Jahren 2001 bis 2003 erarbeitete und seitdem international gezeigte Ausstellungsprojekt und die begleitende Publikation stellen zum ersten Mal die fotografischen Dokumentationen Bourdieus der Öffentlichkeit zur Verfügung, hatte doch Pierre Bourdieu seit dem Entstehen dieser Fotografien nur wenige zur Veröffentlichung freigegeben. Den KennerInnen der frühen Schriften Bourdieus über Algerien werden vielleicht jene Fotografien vertraut sein, die als Titelbilder für die Erstausgaben folgender seiner Bücher gewählt wurden: Le déracinement (mit Abdelmalek Sayad); Travail et travailleurs en Algérie (mit Alain Darbel et al.); Algérie 60 und Le sens pratique. Einige weitere Fotografien sind in Zeitschriften in Zusammenhang mit Texten Bourdieus erschienen. Viele Abzüge (darunter viele der Bilder, die für Veröffentlichungen herangezogen worden waren) sind jedoch nicht mehr im Archiv zu finden, zum Teil sind auch die Negative nicht mehr vorhanden.[1] Bourdieu erwähnte, dass viele der vielleicht 2000 Aufnahmen, die in den vier Arbeitsjahren insgesamt entstanden waren, durch Übersiedelungen verloren gegangen waren, stellte aber auch fest, dass er nicht alle Negative behalten, sondern bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Auswahl treffen wollte. Es ist nicht mehr möglich, diese Vorgänge und Entscheidungen an der Struktur des vorhandenen Bildmaterials nachzuvollziehen, doch weist die intendierte Selektion auf einen interessanten Aspekt von Bourdieus Umgang mit Fotografie hin, nämlich dass die Zusammenstellung der Aufnahmen einem archivalischen Konzept folgt, demnach die Bilder zusammen mit Interviews, Tonbandaufnahmen, Skizzen, Daten von Befragungen und statistischen Erhebungen für eine spätere Nutzung archiviert werden. Die Entscheidung, eine Aufnahme zu erhalten und andere zu verwerfen, verweist auch darauf, dass die in ihnen gespeicherte visuelle Information, ihr faktischer Inhalt im Kontext der Forschungen und im Lichte der in diesem Rahmen erhobenen Fakten zu lesen ist. In der Tat erlebt man – mit der Kenntnis des fotografischen Archivs – bei der Lektüre von Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie oder Bourdieus erstem Buch, La sociologie de l’Algérie, eine Reihe von Déjà-vus. Die äußerst komplexe Darstellung der sich in den Grundfesten verändernden Lebensumstände, des Schicksals und der Überlebensmöglichkeiten der algerischen bäuerlichen Bevölkerung zum Zeitpunkt des kolonialen Befreiungskrieges im Licht der Effekte der französischen Kolonialpolitik seit 1830 (insbesondere seit der Reform der Besitzrechte für Grund und Boden 1863, die auf die Zerstörung des Gemeinschaftseigentums und der traditionellen Gesellschaften zugrunde liegenden Clan-Struktur abzielte) bestimmt die Lektüre und die Interpretation der Bilder. Die „Themen“ der Bilder, deren faktischer, denotativer Inhalt, lassen die tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzungen ohne die Ergänzung durch die Analyse, welche die Schriften liefern, nur vereinzelt in ihrer Tragweite erspüren. Die wissenschaftliche Untersuchung gesellschaftspolitischer Tatsachen und deren Situierung in einem präzisen historischen Rahmen, unterlegt durch statistisch erhobene Daten, geht bis zum Registrieren und Analysieren von uns oft ephemer scheinenden Details: etwa eine Aufzeichnung der Kleidungsformen (westliche und traditionelle Kleidung in unterschiedlicher Mischung) oder der Wege, welche die BewohnerInnen der Umsiedlungslager für ihre täglichen Verrichtungen wählen, und dies als Beleg dafür, wie sehr die koloniale Neuordnung des Raums sich in die Landschaft ebenso wie in das Verhalten der in diese neue Raumordnung gezwungenen Menschen eingeschrieben hat. Die Komplementarität durch den Text lässt uns das in den Bildern gespeicherte Wissen präziser erkennen, stellt uns bei der Deutung der oft in Schwebe gehaltenen visuellen Information das interpretative Vokabular zur Verfügung. Kurz: Erst die textuelle Ergänzung lässt uns die Bedeutung des Bildes erkennen, deren Festlegung gerade in der Fotografie so sehr kontextabhängig ist. Erst so sprechen die Gesten im Austausch zwischen den Personen, ihre oft nur flüchtige Präsenz, von einer realen Erfahrung, erst so erkennen wir in der Anordnung von Gebäuden und Objekten deren Gebrauch oder verstehen ihre Logik als in den herrschenden Machtverhältnissen begründet. Anders als die verschriftlichten Aufzeichnungen, die in seine Bücher Eingang fanden, scheinen die Fotografien Bourdieus einen nahezu ausschließlich „privaten“ Gebrauch erfahren zu haben: Sie dienten ihm über Jahrzehnte als Erinnerungsstütze für das wiederholte Studium und die Analyse der algerischen Erfahrungen. Ihren „Gebrauchswert“ als Bildkorpus (etwa als wissenschaftliches Material oder visuelles Narrativ in Ergänzung der Schriften) hat Bourdieu nicht in Veröffentlichungen realisiert. Es existieren aber Entwürfe für die Gestaltung einer Ausstellung, in denen die Montage von Bildern und Texten versucht worden ist und die uns bei der Entscheidung für eine Kontextualisierung des fotografischen Korpus durch Auszüge aus den Schriften zu Algerien geleitet haben. Für sein Vorhaben, Zeugnis abzulegen von den tatsächlichen Vorgängen in Algerien, war die Fotografie für Pierre Bourdieu eine geeignete Aufzeichnungstechnik, derer er sich in seiner weiteren beruflichen Praxis (mit Ausnahme einer Studie über die Heiratsgebräuche in seinem Heimatdorf Lasseube im Béarn, die er 1962 nach der Rückkehr aus Algerien und in Zusammenarbeit mit Abdelmalek Sayad durchführte) jedoch nicht mehr bedienen sollte. Bourdieu war ein begeisterter Fotograf mit lebhaftem Interesse an der Technik ebenso wie an der Ästhetik des Mediums, wie seine große, im Auftrag von Kodak durchgeführte und im Team erarbeitete Studie über „Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie“ eindrucksvoll nachweist.[2] Interessant ist jedoch, dass Bourdieu auf das von FreundInnen an ihn herangetragene Ansinnen, auch die Entwicklung der Negative und die Ausarbeitung der Abzüge selbst zu machen (also die künstlerisch-handwerkliche Autonomie zu wahren, typisch für engagierte FotoamateurInnen ebenso wie für KünstlerInnen) nicht eingegangen ist: Er favorisierte als Wissenschaftler die Arbeitsteilung, beschränkte sich darauf, die Aufnahmen zu machen, und überließ es in der Folge einem Fotografen in Algier, ihm die gewünschten Verarbeitungen zu liefern. Aus seinen Gesprächen über Algerien wissen wir, wie sehr die Fotografie seinem Konzept der teilnehmenden Beobachtung und der wissenschaftlichen Distanzierung und Objektivierung entgegenkam.[3] Die Erfahrungen seiner „Lehrjahre“ in Algerien (die mit dem Militärdienst 1955 begonnen hatten) bedeuteten eine tatsächliche „Konversion“ für den jungen Wissenschaftler, die seinen Blick auf das Soziale und die ökonomischen und kulturellen Bedingungen gesellschaftlichen Handelns in allen Aspekten bleibend prägen sollte. Bourdieus Reflexivität, seine Fähigkeit, seine Position in der jeweiligen Situation und sein Tun jederzeit infrage zu stellen, vor allem auch seine in der ungeheuren Erfahrungslast angeeignete Vigilanz bildeten die Voraussetzung dafür, die schwierigsten Situationen zu bewältigen und eine Vertrauensbasis zu den Opfern von Unterdrückung und Vertreibung herzustellen, die eine konkrete Arbeit im Zustand des Krieges, in diesem „gesellschaftlichen Laboratorium“, wie er Algerien bezeichnete, erst möglich machte. Die Fotografie interessierte ihn in mehrfacher Hinsicht: Sie repräsentiert die distanzierte Beobachtung und Objektivierung des/der WissenschaftlerIn und macht die Tatsache des Beobachtens selbst bewusst; sie erlaubt es, unmittelbar und aus nächster Distanz Details aufzunehmen, deren Bedeutung im Augenblick der Wahrnehmung übersehen oder die im Feld nicht eingehend studiert werden können und so archiviert und für spätere Untersuchungen bereitgestellt werden. Die Fotografie stellt einerseits zwar Distanz her, eröffnet aber auch Kommunikation, denn sie zeigt das Interesse am Gegenstand der Beobachtung, am Schicksal der Menschen, und ist, wie Bourdieu sagte, „verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin […].“[4] Es waren die Menschen, denen das zentrale Interesse Bourdieus galt. Die fotografische Arbeit Pierre Bourdieus steht in der Tradition einer engagierten humanistischen Fotografie, wie wir sie (zudem in thematischer Nähe) von den groß angelegten Dokumentationen des Elends der landlos gewordenen Bauern und Bäuerinnen oder der ihr Dasein als PächterInnen oder LandarbeiterInnen fristenden Bevölkerung in den USA der 1930er Jahre kennen. In zeitlich engerem Zusammenhang finden wir gerade in der französischen Fotografie (z. B. bei Robert Doisneau) in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Hinwendung zu einem humanistischen Dokumentarismus, der – immer auch mit Bedacht auf eine Kommentierung der Bilder in begleitenden Texten – erstmals auch den „kleinen Leuten“, Obdachlosen, ArbeiterInnen, dem Straßenleben, den Volksfesten Sichtbarkeit und durch die Veröffentlichung in den großen Magazinen Öffentlichkeit gab. Im selben Zeitraum präsentierte die 1955 für das Museum of Modern Art organisierte und weltweit präsentierte Ausstellung „The Family of Man“ (auf die Roland Barthes 1957 als einem der Mythen des Alltags einging) eine auf exemplarische Weise dehistorisierende Darstellung der conditio humana, indem sie der Fotografie jegliche kontextuelle Einbettung entzog und sie damit zu einem Transportmittel der Mythisierung allen menschlichen Tuns machte. Die Auseinandersetzung um die Darstellung des Sozialen und des Politischen hat die Debatte über Fotografie seit jeher begleitet. Unter den Aspekten des Postkolonialen müssen wir im aktuellen Zeitrahmen den virulenten Fragen nach der Repräsentation des Anderen einen zentralen Platz in der Analyse und Interpretation von Bildern geben. Bei dieser Aufgabe – nämlich die Fallen des Pittoresken und des (unsere ideologischen Verdrehungen so treffend illustrierenden) entlarvenden Exotismus zu vermeiden – kann uns die Reflexivität Pierre Bourdieus von Nutzen sein, eine Reflexivität, die in seinen Bildern aus Algerien und den begleitenden Schriften so einprägsam dokumentiert ist.
In der Folge möchte ich näher auf den Begriff der „Entwurzelung“ – Le déracinement – eingehen, unter Bezugnahme auf seine Verwendung in den Werken Pierre Bourdieus über Algerien. Dieser Begriff ist zugleich Titel und zentrales Thema einer seiner ersten Publikationen, die er gemeinsam mit seinem Koautor Abdelmalek Sayad verfasste (Sayad wurde später zu einem der bedeutendsten Analytiker der Migration vom Maghreb nach Europa). Die Feldforschungen und Recherchen, auf denen das Buch basiert, wurden gemeinsam mit einer Gruppe von Bourdieus StudentInnen der Universität in Algier durchgeführt, wo er nach Beendigung seines Militärdienstes 1957 Philosophie und Soziologie unterrichtete; das Buch selbst erschien erst etwas später, im Jahr 1964.[5] Bourdieus Feldforschungen zur Entwurzelung der algerischen Landbevölkerung und zur Geburt eines urbanen (Sub-)Proletariats in diesem Land sind von elementarer Bedeutung für das Verständnis der Herausformung seiner gesellschaftspolitischen Haltung und bringen auch jene Verbindung ans Licht, die von Beginn an zwischen seinem wissenschaftlichen und seinem politischen Engagement bestand. Wir können die Komplexität und Originalität von Bourdieus Denken nur erfassen, wenn wir es in den sozialen und politischen Kontext stellen, welcher zu seiner Entstehung beigetragen hat: die algerische Gesellschaft, welche den Auswirkungen einer 130-jährigen Kolonialisierung und des Unabhängigkeitskrieges ausgesetzt war. In dieser Situation, die von politischen Spannungen geprägt war und in der keinerlei zuverlässige Daten über die in einem ebenso rasanten wie dramatischen Umbruch befindliche Gesellschaft existierten, war Bourdieu gezwungen, seine eigenen Untersuchungen anzustellen und sich einem von diesem Umbruch in seinem Selbstverständnis zentral betroffenen Teil der algerischen Gesellschaft zuzuwenden: den entwurzelten Bauern und Bäuerinnen (paysans déracinés), um durch empirische Beobachtung das materielle und moralische Elend eines ganzen Volkes verständlich zu machen. Bourdieu und seine algerischen MitarbeiterInnen waren vor allem an zwei korrelierenden Krisenfaktoren interessiert: zum einen an den kolonialen Landenteignungen, welche seit 1880 Tausende Bauern in die Städte und nach Frankreich gezwungen hatten; und zum zweiten an der französischen Umsiedlungspolitik in den Kriegsjahren, als Millionen von Menschen in von der Regierung eingerichtete Lager gebracht wurden. Aus dem Blickwinkel der Entwurzelung wurde deren Krise des traditionellen wirtschaftlichen und sozialen Lebens betrachtet, die das Zerbrechen traditioneller Familienstrukturen, den Verfall gesellschaftlicher Werte und äußerste Instabilität zur Folge hatte. Durch diese Vorgänge wurden nicht nur Bauern und Bäuerinnen zu SozialhilfeempfängerInnen und WanderarbeiterInnen zu TagelöhnerInnen auf den Feldern der Kolonialmacht, die Umsiedlung führte auch zum fast völligen Schwinden der Agrarressourcen und zu einer Schwächung der alten solidarischen Traditionen. „Die aus ihren angestammten Wohnsitzen vertriebenen Bauern wurden in überdimensionierte Lager verbracht, deren Anordnung oft nach rein militärischen Gesichtspunkten bestimmt wurde. […] Die ‚Umgesiedelten‘ lebten in vollständiger Abhängigkeit von der Militärverwaltung […]. Trotz des Anfang 1959 erlassenen Verbots, Teile der Bevölkerung ohne Genehmigung der Zivilbehörden umzusiedeln, vervielfachen sich die Umsiedlungsmaßnahmen: 1960 sind 2.157.000 Algerier, das heißt ein Viertel der Gesamtbevölkerung, von Umsiedlungsmaßnahmen betroffen. Wenn man dazu noch die Landflucht einbezieht, ist die Zahl der Individuen, die sich 1960 nicht mehr an ihrem angestammten Wohnsitz aufhielten, mit wenigstens drei Millionen zu veranschlagen, was der Hälfte der Landbevölkerung entspricht. Diese Bevölkerungsverschiebung gehört zu den brutalsten der Geschichte.“[6] „Es ist äußerst schwierig, auf die richtige Weise über das alles zu sprechen. [Diese Lager waren] weit davon entfernt, ein Konzentrationslager zu sein. Es waren dramatische Zustände, aber nicht so, wie es oft gesagt wurde. Und ich war da und habe das alles beobachtet, und alles war so kompliziert und ging weit über meine Möglichkeiten! Wenn sie mir Dinge erzählten, habe ich danach manchmal zwei oder drei Tage gebraucht, um alles zu verstehen, komplizierte Namen von Orten oder Stämmen, Zahlen von verlorenem Vieh und anderen verlorenen Gütern, und ich war dann völlig überwältigt von dem allem, und insofern war jede Hilfe gut, und das Fotografieren war im Grunde eine Art und Weise zu versuchen, den Schock einer niederschmetternden Realität zu bewältigen.“[7] Feldforschungen in einem im Krieg befindlichen Land schufen für Bourdieu auch die Möglichkeit und die Verpflichtung, Ethnologie als ein wichtiges Instrument des symbolischen Kampfes einzusetzen und nicht nur als akademische Disziplin fernab jeder politischen Funktion. Er wollte Algerien existent, sichtbar und verständlich machen inmitten des Chaos eines Krieges, der von der kolonialen Ideologie bestritten und beschönigt wurde – bis heute wird nach wie vor in der französischen Terminologie der Begriff des „Ereignisses“ (évènement) für diesen Krieg verwendet. Dies war eine der zentralen Fragen für den jungen Philosophen und späteren Soziologen, und es erklärt auch seine Entscheidung, mithilfe eigener empirischer Forschung den Zerfall der Strukturen der einheimischen Bevölkerung aufzuzeigen. Die französische Kolonialisierung hat in Algerien dramatische Veränderungen herbeigeführt, die durch das präkapitalistische System und die darauf beruhende Wirtschaftsethik geprägt waren: Die brutale Durchsetzung zutiefst fremder ökonomischer Prinzipien, der rasante Verfall traditioneller landwirtschaftlicher Produktionsmethoden, das Entstehen eines neuen Subproletariats, wirtschaftliche Verarmung und soziale Entwurzelung wurden zum Schicksal weiter Teile der Bevölkerung. Was passiert mit einer Gesellschaft, die sich einer neuen Logik des Handelns gegenübersieht, die im Widerspruch zu allen sozialen Regeln steht, welche für Generationen gegolten hatten? Inwieweit schränkt der traditionelle ökonomische Habitus den Handlungsspielraum der sozialen AkteurInnen ein und in welchem Maße verleiht er dem, was vorstellbar oder unvorstellbar ist, Struktur? Welche Formen des Leidens und der Armut sind Begleiterscheinungen dieses Zustands der sozialen Entwurzelung und des Verlusts der sozialen Ordnung? Das Lesen von Bourdieus Fotografien in Verbindung mit seinen Schriften aus dieser Zeit erschließt uns einen Reichtum an Material über Habitus und Ethos des vormodernen Menschen und der ihm innewohnenden Würde. Mit seiner Theorie über die ökonomischen Bedingungen eines Zugangs zur Rationalität attackiert Bourdieu frontal die rassistischen Stereotype einer algerischen Bevölkerung, die angeblich praktisch nicht fähig ist, modernisiert und zivilisiert zu werden – was als legitimierendes Argument für die koloniale Struktur galt. Bourdieus Theorie von der Priorität der materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen (die auf den ersten Blick vielleicht materialistisch erscheinen mochte) hilft, die symbolischen Herrschaftsbeziehungen aufzudecken und zu kritisieren. Seine bahnbrechenden Feldforschungen belegen eine soziale Welt voller Anachronismen, deren Menschen ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung bis heute nicht überwunden haben, und eine Entfremdung sowohl von der Tradition als auch von der Moderne. In Bourdieus Händen diente die Ethnosoziologie als Mittel für die Rehabilitierung der traditionellen Kulturen, was – im algerischen Kontext – einer symbolischen Revolution gleichkam und im Widerspruch sowohl zu kolonialen Fantasien als auch zur revolutionären Propaganda der neu entstehenden algerischen Eliten stand – eben genau deshalb, weil er die Entwurzelung und die bestehenden kulturellen Widersprüchlichkeiten als zentralen Inhalt für das Projekt einer Nationsbildung sah. Wahrscheinlich besteht die größte Tragik Algeriens, die in Bourdieus Schriften und Fotografien zum Ausdruck kommt, darin, dass diese auch heute noch – vier Jahrzehnte später – nichts an Relevanz und Realismus verloren haben. [1] Das Archiv umfasst ca. 600 Negative im Format 6 x 6 cm, weiters 199 Kontakt- bzw. Arbeitsabzüge in den Formaten von 6 x 6 cm bis maximal 12,5 x 12,5 cm Größe. Den neben den Negativen wichtigsten Korpus des Archivs bilden 146 Abzüge in der Größe von 23 x 23 cm und – daraus eine kleinere Gruppe – von 30 x 30 cm, die von Pierre Bourdieu in Fotoalben, zum Teil thematisch geordnet, zusammengestellt worden waren (Bilder aus den Städten Algier und Blida, Arbeitslose und Straßenhändler im ersten; Bilder von den Umsiedlungslagern und aus den ländlichen Gebieten im zweiten). Von 26 dieser 146 Abzüge existieren keine Negative mehr, d. h., die vorhandenen Abzüge sind die einzigen Quellen, die uns noch zur Verfügung stehen. Titel und Datierungen sind nicht durchgehend vorhanden, wo sie publiziert werden, stammen sie ausnahmslos von Pierre Bourdieu, Ortsangaben wurden dort, wo sie eindeutig aus vorhandenem Bildmaterial ableitbar waren, ergänzt. [2] Pierre Bourdieu / Luc Boltanski / Pierre Castel / Jean-Claude Chamboredon / Gérard Lagneau / Dominique Schnapper, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a. M. 1965. Zeitgleich zu dieser Arbeit, und zum Teil in diese eingeflossen, entstand auch in Zusammenarbeit mit seiner Frau Marie-Claire Bourdieu die Studie „Le paysan et la photographie“, die 1965 in der Revue française de sociologie erschienen ist. [3] Vgl. „Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu von Franz Schultheis“, in: Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003. [4] Ibid, S. 49. [5] Das Buch ist übrigens Hénine Moula gewidmet, einem der Mitarbeiter Bourdieus, der 1961 von der OAS ermordet wurde. Die OAS – Organisation Armée Secrète/Organisation der Geheimarmee – war eine geheime Splittergruppe der französischen Armee in Algerien, die Terroranschläge verübte, um die Zentralregierung dazu zu zwingen, ihr Abkommen mit der Nationalen Befreiungsfront zu widerrufen und die Unabhängigkeit zu verhindern. [6] Pierre Bourdieu / Abdelmalek Sayad, Le déracinement. La crise de l'agriculture traditionnelle, Paris 1964, S. 12–13. [7] Pierre Bourdieu, in: Schultheis / Frisinghelli (Hg.) 2003, op. cit., S. 36–37. |
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