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05 2008

Kunst des Sehens und Ethik des Blicks

Zur Debatte um Georges Didi-Hubermans Buch Bilder trotz allem

Karoline Feyertag

Es ist eine Gratwanderung, die der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in seinem 2003 erschienenen Buch Images malgré tout[1] unternimmt. Zwischen Politik der Zeugenschaft und Bildphilosophie. Zwischen Appell an das Gefühl und Appell an die Vernunft. Zwischen Reanimierung historischer Fotografien und Selbsternennung zum Zeugen. Zwischen der Erinnerung an das Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und gegenwärtigem Kriegsjournalismus.

Die Debatte, die dem Buch zugrunde liegt, entfachte sich an der fotohistorischen Ausstellung „Mémoire des camps“, welche 2001 in Paris gezeigt wurde, und an einem von Didi-Huberman im Ausstellungskatalog veröffentlichten Text zu vier Fotografien, die von Mitgliedern des „Sonderkommandos“ in Birkenau im August 1944 gemacht worden waren.[2] Dem Ausstellungsmacher und Fotohistoriker Clément Chéroux ging es darum, die Geschichte von fotografischen Dokumenten während des Betriebs der Lager, zur Stunde ihrer Befreiung und in der Zeit danach (1945–1999) einem breiteren Publikum zu präsentieren und gleichzeitig auf blinde Flecken in der historischen Forschung aufmerksam zu machen. Didi-Huberman setzte in diesem Zusammenhang auf einen programmatischen Tabubruch, der zunächst das von Claude Lanzmann verhängte Bilderverbot betrifft. Der erste Satz seines Textes kann auch als Resümee des zwei Jahre später als Antwort auf heftige Polemiken erschienenen Buches gelesen werden: „Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen.“

Sowohl in der Ausstellung als auch im Katalogtext Didi-Hubermans besteht das Hauptanliegen darin, Fotografien als materielle Zeugnisse und in gewisser Weise als „stumme Zeugen“ in ihrer jeweiligen Historizität und Singularität ernst zu nehmen. Im Gegensatz zu Lanzmanns Großprojekt „Shoah“, in dem orale Zeugnisse immens starke Bilder in der individuellen Vorstellung der ZuschauerInnen erzeugen, die sich gewissermaßen nur an den Augen der im Film zu Wort kommenden Zeugen ablesen lassen, geht Didi-Huberman den umgekehrten Weg. Er versucht, die stummen Fotografien zum Sprechen zu bringen. Der Horror, der auf diese unterschiedlichen Weisen zum Vorschein kommt, ist jedoch derselbe – es ist der Horror der Vernichtungslager. Lanzmann zeigt ihn nicht im Bild, er verwendet kein einziges Archivbild, auch wenn er an die Orte der Vernichtung 30 Jahre später zurückgekehrt ist. Die scharfe Kritik an Didi-Hubermans Vorgangsweise entstand vor allem dadurch, dass der Kunsthistoriker gegen diese von Lanzmann geschaffene, unsichtbare „Aura des heiligen Entsetzens“ (Helmut Lethen) Fotografien aus dem Archiv holte, die genau diesen angeblich undarstellbaren Horror vor Augen führen. Diese vier Fotografien legen laut Didi-Huberman nicht nur Zeugnis von den Gräuel der Nazis ab, sondern seien auch ganz bewusst in einem Akt politischen Widerstands angefertigt worden, gerade um der Welt das Ausmaß der Vernichtung in Auschwitz-Birkenau im Augenblick des Betriebs des Lagers bewusst zu machen. Dass diese Bilder dann zwar aus dem Lager in die Hände des polnischen Widerstands gelangten, in der Folge jedoch nicht weiter verbreitet wurden, ist eine Tatsache, die nicht zuletzt daran deutlich wird, dass Auschwitz nie von den Alliierten bombardiert wurde.

Leider geht Didi-Huberman nicht auf die Hintergründe des Verschwindens der Fotografien von der politischen Bildfläche ein. Seine Beschreibung konzentriert sich auf den Moment ihrer Aufnahme, die Rekonstruktion der Bedingungen vor Ort, am Krematorium V im August 1944, als die Leichen im Freien verbrannt wurden, da die Krematorien aufgrund der Massendeportationen ungarischer Juden „überlastet“ waren. Des weiteren beschäftigt er sich eingehend mit zwei der vier erhaltenen Fotografien, auf denen ein schwarzer Türrahmen zu sehen ist, welcher in der Geschichte dieser Fotografien oftmals wegretuschiert wurde, um die Aufmerksamkeit auf das, was durch die Tür zu sehen ist (nämlich die Leichenberge), zu lenken. Laut Didi-Huberman stellt dieser Türrahmen, der nichts zu sehen gibt, weil er nur das Schwarz eines dunklen Innenraums wiedergibt, das Innere der Gaskammer dar, in der sich der Fotograf vor der Wache versteckt hielt, um überhaupt fotografieren zu können.

Ich meine, dass es vor allem diese „Animation“ der im Museum von Auschwitz aufbewahrten Fotografien war, die Gérard Wajcman und Elisabeth Pagnoux, Didi-Hubermans schärfste KritikerInnen, verstört hat.[3] In der Tat bewegt sich hier der Kunsthistoriker auf einer gefährlichen Gratlinie zwischen empathischer Veranschaulichung des Terrors (aus Sicht der Opfer) und wissenschaftlicher Rekonstruktion von Fakten, die in der Folge als „Bildlegende“ die notwendige textuelle Ergänzung zur bloßen Fotografie konstituieren. Dieser Teil der Debatte ist in Deutschland und Österreich, unter anderen Vorzeichen, aus dem „Skandal“ um die erste Wehrmachtsausstellung bekannt: die falsche oder unzureichend recherchierte Zuordnung von Bild und Text. Didi-Huberman reagierte auf die Kritiken, von denen ein Artikel den zynischen Titel „Fotoreporter in Auschwitz“ trägt, mit einer differenzierten Bildtheorie. Beim Lesen des Buches Bilder trotz allem wird jedoch klar, dass es in der französischen Debatte nicht allein um den Streit einer angemessenen „Beschriftung“ von Archivbildern der Shoah geht. Es ist vielmehr die ethische Frage nach dem Umgang mit schriftlichen, mündlichen und schließlich bildlichen Zeugnissen, die die Folie für diese Debatte bildet, die plakativ als eine um die Repräsentationsmöglichkeit der Shoah schlechthin umschrieben werden kann. Schon in den 1980er Jahren konstatierte die Philosophin Sarah Kofman eine „Pflicht zu sprechen, ohne Unterlass für jene zu sprechen, die nicht sprechen konnten, weil sie das wahre Wort bis zum Äußersten bewahren wollten, ohne es zu verraten. Sprechen, um ein Zeugnis abzulegen, aber wie? Wie kann ein Zeugnis dem idyllischen Gesetz der Erzählung entgehen? Wie kann man vom ‚Unvorstellbaren‘ sprechen – das sehr schnell, sogar für die, die es erlebt hatten, unvorstellbar wurde –, ohne beim Imaginären Zuflucht zu suchen? Und wenn, wie Robert Antelme sagt, nur der literarische Kunstgriff über die notwendige Ungläubigkeit siegen kann, entwertet das dann nicht das Zeugnis, wenn mit der Fiktion Anreiz und Verführung dort eingeführt werden, wo die ‚Wahrheit‘ allein sprechen sollte?“[4]

Meiner Ansicht nach beinhaltet diese Frage ein doppeltes Paradoxon, welches in eine erkenntnistheoretische Aporie führt. Auf der einen Seite steht der für den Menschen konstitutive „Wille zum Wissen“, welcher sich in der Holocaust-Forschung und den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ausdrückt, die versuchen, das Ereignis der Shoah wissenschaftlich „aufzuarbeiten“. Auf der anderen Seite versuchen Kunst und Gedächtniskultur, mit dem Leid, Schmerz und Schrecken auf irgendeine Weise „umzugehen“, ohne selbst dabei unterzugehen. Diese Versuche verbinden sich auch mit einer psychologischen Aufarbeitung, die sich wieder mit wissenschaftlichen Methoden überschneiden kann – z. B. bei der Psychotraumatologie. Sie reichen aber ebenso in den Bereich des Fiktionalen, wobei es eine Grenzfrage ist, ob nicht Dichtung oftmals näher an Wahrheit herankommt als faktische Beschreibung. Um dieses erste Paradoxon zu verdeutlichen, kann ein vorläufiger Versuch unternommen werden, einen wissenschaftlich-apathischen und einen künstlerisch-empathischen Blick zu unterscheiden.

Das zweite Paradoxon besteht nun in der Annahme, dass es einerseits eine ethische und andererseits eine politische Pflicht gegenüber diesem historischen „Erbe“ gibt. Weshalb diese Unterscheidung? Baut nicht das Politische auf dem Ethischen auf? Was macht die Qualität dieses Unterschiedes aus? Ich denke, dass eine ethische Verpflichtung zur Erinnerung an die Opfer nicht zwangsläufig in eine politische Haltung und Handlung münden muss. Hier verstehe ich politisch als handlungspolitisch im Rahmen einer nationalstaatlichen Mehrparteiendemokratie wie z. B. in Frankreich und Österreich. Auch wenn Lanzmanns Film „Shoah“ mit Sicherheit kein unpolitischer Film ist, liegt es nicht in der Absicht des Films, politische Handlungen von Individuen in der Öffentlichkeit hervorzurufen. Vielmehr appelliert Lanzmann an das menschliche Ethos schlechthin. Einen politischen Umgang hingegen hat Serge Klarsfeld gesucht und tatsächlich nicht nur auf juristischer Ebene die Wiederaufnahme von Prozessen gegen Verantwortliche des Nazi- und Vichy-Regimes verfolgt, sondern auch mittels akribischer Recherchen der Erinnerung an die französischen, deportierten Juden ein Denkmal gesetzt.

Didi-Huberman versucht einen „dritten Weg“ zu gehen – sowohl wissenschaftlich als auch empathisch, sowohl ethisch als auch politisch: Das Bild wird im Gegensatz zu Lanzmann nicht als Mittel zu innerer Kontemplation verstanden, sondern – mit Sartre – als eine Handlung, die erst vollzogen werden muss. Das Bild ist ein Akt – und eine Entscheidung. Im Fall der vier Fotografien der Mitglieder des „Sonderkommandos“ ist das Bild sogar der beinahe einzig mögliche politische Widerstandsakt. Ein Zeugnis abzulegen – ob dies nun schriftlich oder mithilfe der fotografischen Technik geschieht – bedeutet somit, politisch zu handeln. Es wäre müßig, zu erklären, dass eine politische Handlung auf Ethik aufbaut. Dennoch scheint es diese Gratlinie zwischen Ethik und Politik in Hinblick auf unseren gegenwärtigen und die Zukunft womöglich bestimmenden Umgang mit der Vergangenheit zu geben. Vorläufig lässt sich dies vielleicht wieder an einem Gegensatz verdeutlichen, jenem zwischen Passiv und Aktiv, der erleidenden Form des Pathos und der intervenierenden Form des Handelns.

Das Bild dieses doppelten Paradoxes wäre der Mythos der Medusa. An der Metapher des Versteinerns durch den Anblick des Gorgonen-Hauptes spalten sich die Geister. Und das nicht nur in der Debatte um Didi-Huberman. Für Giorgio Agamben ist der einzige „vollständige Zeuge“ von Auschwitz der Muselmann, der eigentlich schon kein Zeugnis mehr ablegen konnte – verbannt aus dem Reich der Lebenden, da er dem absoluten Horror ins Antlitz sah: „Dass auf dem ‚tiefsten Punkt‘ des Menschlichen nichts anderes ist als eine Unfähigkeit zu sehen – dies ist die Gorgo, deren Anblick den Menschen in den Nicht-Menschen verwandelt hat. […] Die Gorgo und wer sie erblickt hat, der Muselmann und der, der für ihn Zeugnis ablegt, sind ein einziger Blick, eine einzige Unmöglichkeit zu sehen.“[5] Schon Agambens Buch hatte in französisch-jüdischen Intellektuellenkreisen heftigen Widerspruch hervorgerufen, da auch seine Theorie auf einem Paradox beruht. Didi-Huberman nimmt Agambens Argumentation zwar ernst, teilt aber deren letzte Konsequenz nicht: „Ebenso wenig geht es darum, ‚die Gorgo‘ mit den Augen ihres Opfers ‚zu erblicken‘, wie Giorgio Agamben es im Hinblick auf den ‚Muselmann‘ der Lager nahe legt: Von einem gelähmten und versteinerten Blick, von einem ‚absoluten Bild‘ – wie Agamben es nennt – , das einen erstarren lässt, den Tod bringt und uns der ‚Unmöglichkeit des Sehens‘ ausliefert, ist in der Tat nichts zu lernen.“[6]

Für Didi-Huberman ist dem Medusa-Mythos nur insofern etwas abzugewinnen, als er die siegreiche List des Perseus offenbart, dem es anhand des Spiegelbilds der Medusa in seinem Schild gelingt, das Monster zu enthaupten. Um zu überleben und ein Zeugnis abzulegen, ist es also notwendig, eine List anzuwenden. Vor allem aber ist es notwendig, den „Mut zur Erkenntnis“ einer lähmenden bzw. lebensbedrohlichen Realität aufzubringen. Didi-Huberman kritisiert seinen Kontrahenten Wajcman, für den der Schild des Perseus als Spiegel des Grauens funktioniert, dessen bloßes Abbild eine beruhigende Wirkung habe, die „nicht anschaubare Realität“ jedoch bliebe „bei Todesstrafe“ ungesehen und undarstellbar[7]. Gegen dieses Dogma der Undarstellbarkeit und gegen die vereinfachende Definition des Bildes als trügerisches Simulacrum schreibt Didi-Huberman an. Er versucht die ikonoklastische Haltung mit der sowohl ethischen Pflicht als auch politischen Verantwortung zu konfrontieren, sich den vorhandenen Darstellungen – ob fotografischen oder schriftlichen Zeugnissen – zu stellen: „Perseus bietet der Gorgone trotz allem die Stirn, und dieses trotz allem – diese faktische Möglichkeit trotz der theoretischen Unmöglichkeit – trägt den Namen Bild: Das Spiegelbild und der Schild sind nicht alleine sein Schutz, sie sind auch seine Waffe, seine List, sein Werkzeug, um das Monstrum zu enthaupten. Die anfängliche Machtlosigkeit und Fatalität (‚der Anblick der Medusa ist unmöglich‘) macht einer ethischen Antwort Platz (‚gut, dann werde ich der Medusa begegnen, indem ich sie auf andere Weise betrachte‘).“[8]

Nicht weil es auf den vier Fotografien nichts zu sehen gäbe, was wir nicht schon wüssten, wie Wajcman und Pagnoux im Zuge ihrer Polemik unterstellen, muss sich die Betrachtungsweise ändern. Didi-Huberman werden zum Beispiel Worte in den Mund gelegt wie: „Keine Bilder? Ändert den Blick!“ oder „Ändert euren Blick, und ihr werdet die Gaskammern sehen!“[9]. Dass es in dieser Debatte nicht um die Beweislogik der Holocaust-LeugnerInnen geht und dass diese Polemik eigentlich Letzteren in die Hände gespielt hat, versuchte bislang nur Didi-Huberman klarzustellen. Gerade die Verbindung von wissenschaftlicher Argumentation, einer empathischen „Kunst des Sehens“ und einer politisch motivierten „Ethik des Blicks“ konstituiert Didi-Hubermans Tabubruch. Fraglich wird seine argumentative Strategie jedoch dann – und hier ist die Skepsis der KritikerInnen von Didi-Hubermans naiv anmutender „Bildgläubigkeit“[10] auch angebracht –, wenn es sich nicht mehr um fotografische Zeugnisse der Opfer handelt, deren Handlung empathisch als Widerstandsakt verstanden werden kann. Wenn es die Täter sind, die das von den Nazis auferlegte Bilderverbot brechen, wird die Möglichkeit empathischer Identifikation problematisch. Didi-Huberman scheint sich dieser Schizophrenie zumindest bewusst zu sein, da er ein schriftliches Zeugnis von Zalmen Gradowski, einem Mitglied des „Sonderkommandos“, zitiert, in dem wohl beide Positionen – die der Opfer und die der Täter – letztendlich zusammenfallen: „Um diesen Bildern aber in der Vorstellung standhalten zu können, so schließt Gradowski, muss ‚Dein Herz zu Stein werden […] Dein Auge zu einem Fotoapparat‘.“[11] Die damit zum Ausdruck gebrachte Notwendigkeit von Gefühllosigkeit widerspricht deutlich der ethisch motivierten Forderung nach Empathie. Vom jenseits der Grenze menschlicher Erfahrung Stattfindenden ein Zeugnis abzulegen ist paradox. Mit wenigen Ausnahmen (die uns v. a. aus Claude Lanzmanns Film „Shoah“ bekannt sind) haben die Augenzeugen das „Sonderkommando“ Auschwitz-Birkenau nicht überlebt.

Dennoch bleibt die Feststellung richtig, dass es einer List bedarf, um überhaupt das Grauen noch bezeugen zu können. Die Möglichkeit, „trotz allem“ ein Zeugnis abzulegen, „dem Inferno ihrer Arbeit [der des ‚Sonderkommandos‘; Anm. KF] unter größter Gefahr einige Fotografien zu entreißen, die das besondere Entsetzen und das Ausmaß des Massakers bezeugen sollten“[12] oder auch schriftliche Zeugnisse unter der Asche im Umfeld der Krematorien in Birkenau zu vergraben[13] – diese Zeugnisse verdanken ihr „Überleben“ der menschlichen Fähigkeit zu List und Strategie. So wie Perseus der Medusa nur mittels einer List entgegentreten konnte, die ihm von der Göttin Athene geraten worden war, mussten Mittel dort erfunden werden, wo es nur noch Ausweglosigkeit gab. In der griechischen Mythologie hatte diese listige Intelligenz einen Namen: Metis. In der mythologischen Genealogie der Griechen ist Metis gleichzeitig die Mutter von Athene und Poros, welcher wiederum Vater des Eros ist.[14] Sarah Kofman greift in ihrem Buch Comment s’en sortir? Vernants und Detiennes Analyse dieses griechischen Terminus[15] auf, um die zentrale Bedeutung der List, die zugleich immer ein Werkzeug, Mittel und eine Strategie ist, für das Herausfinden aus einer aporetischen Situation zu beschreiben:

„Tatsächlich ist es Metis, die listige Intelligenz in der griechischen Mythologie, die es erlaubt, sich einen poros zu bahnen, einen Weg, eine Strecke durch die Hindernisse, einen Notbehelf (poros), um einen Ausweg (poros) aus einer ausweglosen, aporetischen Situation zu finden. Überall, wo die Unbestimmtheit (apeiras) herrscht, das Fehlen von einer Grenze und einer Richtung, wo Dunkelheit herrscht, überall, wo man gefangen, eingekreist ist, Gefangener unentwirrbarer Netze, ist es laut Detienne und Vernant Metis, die interveniert, indem sie eine Strategie, ein Mittel erfindet, einen rettenden Einfall hat, einen Trick anwendet, Listen, Machenschaften, mechane und technai, um schließlich vom Fehlen der Grenzen zur Bestimmtheit, von der Dunkelheit zum Licht zu gelangen. […] In dieser infernalischen, chaotischen Verwirrung bezeichnet poros den Ausweg, die Rettung der Seeleute und Navigatoren, die Strategie, welche den Ausweg aus der Sackgasse weist, aus der aporia und der Angst, ihrer Gefährtin.“[16]

Eines dieser technischen Hilfsmittel, an die die Hoffnung gebunden ist, um aus dem infernalischen Chaos von Auschwitz herauszufinden, ist in der Situation des Sommers 1944 der Fotoapparat. Der „Notbehelf“, der eingesetzt wird, um der Welt mitzuteilen, was geschieht, hat die unvorstellbare Angst der Gefangenen vielleicht kurze Zeit mindern können. An ihrer ausweglosen Situation hat er leider nichts geändert, da „die Welt“, die Alliierten nicht fähig waren, zu sehen und zu hören.

Das Fazit der französische Debatte: Es gelang beiden Parteien nicht, die jeweiligen Beweggründe, vielleicht auch Abgründe zu verstehen – oder zumindest nachzuvollziehen. Wajcman verteidigt ungebeten all jene, die der bloße Anblick von Fotografien oder Filmen, die unvorstellbare Gräuel sichtbar machen, solchermaßen schockiert, dass sie beinahe versteinern, dass etwas in ihnen bricht. Selbst diese „Sekundärerfahrung“ am Bild ist ambivalent, wie schon Susan Sontag 1977 beschreibt:

„Die erste Begegnung mit der fotografischen Bestandsaufnahme unvorstellbaren Schreckens ist eine Art Offenbarung, wie sie für unsere Zeit prototypisch ist: eine negative Epiphanie. Für mich waren dies die Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau, die ich im Juli 1945 zufällig in einer Buchhandlung in Santa Monica entdeckte. Nichts, was ich jemals gesehen habe – ob auf Fotos oder in der Realität –, hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah (ich war damals zwölf Jahre alt), und die Zeit danach – obwohl noch mehrere Jahre verstreichen mussten, bis ich voll und ganz begriff, was diese Bilder darstellten. Was konnte es nützen, sie zu betrachten? Es waren lediglich Fotos – von Ereignissen, über die ich noch kaum etwas erfahren und auf die ich nicht den geringsten Einfluss hatte, von Leiden, die ich mir kaum vorstellen und zu deren Linderung ich nichts beitragen konnte. Als ich diese Fotos betrachtete, zerbrach etwas in mir. Eine Grenze war erreicht, und nicht nur die Grenze des Entsetzens; ich fühlte mich unwiderruflich betroffen, verwundet, aber etwas in mir begann sich zusammenzuballen; etwas starb; etwas weint noch immer. Zu leiden ist etwas anderes, als mit fotografischen Abbildungen des Leidens zu leben, was nicht unbedingt bedeutet, dass das Gewissen geschärft und die Mitleidsfähigkeit gesteigert wird. Es kann sie auch korrumpieren.“[17]

Sontag bringt in einem knappen Absatz die strukturelle Ambivalenz von Fotografien zur Sprache – wofür Didi-Huberman über 200 Seiten braucht.

Es gibt keine Garantie dafür, dass ein Ereignis wie die Shoah nie wieder geschieht. Nicht als Wiederholung, sondern gerade in seiner unsichtbaren, erst a posteriori wahrnehmbaren Differenz. In Hinblick auf die dazu notwendige Wachsamkeit soll Didi-Hubermans Intention „trotz allem“ verteidigt werden, weil er die „aufklärerische“ Position einnimmt, „trotz allem“ Zeugnis abzulegen, hinzusehen, ohne abzustumpfen. Die Singularitäten ernst zu nehmen und sie dennoch in Beziehung zu setzen. Allein die Montage von Bildern, Texten, Erinnerungen, materiellen Fundstücken, Oral History und fotografischem Beweismaterial kann ein Denken in Gang bringen, welches vielleicht die Chance hat, beweglich zu bleiben und vor dem nächsten, unvorhersehbaren Ereignis in Zukunft nicht die Augen zu verschließen, sondern die Kategorien der Wahrnehmung flexibel zu halten, um das Ereignis greifbar und somit angreifbar, veränderbar, abwendbar machen zu können.



[1] Deutsche Übersetzung von Peter Geimer: Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink Verlag 2007.

[2] Georges Didi-Huberman, Images malgré tout, S. 219–242, in: Clément Chéroux (Hg.), Mémoire des camps. Photographie des camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999), Katalog zur Ausstellung des Patrimoine photographique, Paris: Marval 2001.

[3] Gérard Wajcman, „De la croyance photographique“, in: Les Temps Modernes (hg. v. Claude Lanzmann), N° 613, mars-mai 2001, S. 47–83; Élisabeth Pagnoux, „Reporter photographe à Auschwitz“, ebd., S. 84–108.

[4] Sarah Kofman, Erstickte Worte, Wien: Passagen Verlag 2005, S. 49.

[5] Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Suhrkamp 2003 (1999), S. 47. Siehe hierzu auch die Kritik von P. Mesnard und C. Kahan, Giorgio Agamben à l’épreuve d’Auschwitz, Paris: Kimé 2001.

[6] Didi-Huberman, op. cit., S. 251 f.

[7] Wajcman, op. cit., S. 68 f.

[8] Didi-Huberman, op. cit., S. 252.

[9] Wajcman, op. cit., S. 49 f.

[10] In Anlehnung an Wajcmans Titel „De la croyance photographique“, op. cit., S. 47.

[11] Didi-Huberman, op. cit., S. 55, zitiert nach B. Mark, Des voix dans la nuit. La résistance juive à Auschwitz-Birkenau [1965], franz. Übers. E. u. J. Friedman u. L. Princet, Paris: Plon 1982, S. 194.

[12] Didi-Huberman, op. cit., S.20.

[13] Ich meine hier die „Rollen von Auschwitz“, vorwiegend auf Jiddisch verfasste Manuskripte, die von Mitgliedern des „Sonderkommandos“ in der Nähe der Krematorien vergraben und nach dem Krieg gefunden wurden (vgl. Didi-Huberman, op. cit., S. 54 und S. 158 ff.).

[14] Vgl. Platon, Das Gastmahl, 203 b ff. (dt. Übers. von Friedrich Schleiermacher, Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1994)

[15] Marcel Detienne / Jean-Pierre Vernant, Les ruses de l’intelligence. La Mètis des Grecs, Paris: Flammarion 1993.

[16] Sarah Kofman, Comment s’en sortir?, Paris: Galilée 1983, S. 16 u. 20 (unveröffentlichte Übersetzung von K. Feyertag).

[17] Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt/Main: Fischer 2003, S. 25 f.

Karoline Feyertag

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