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02 2007

Strategischer Universalismus: Dead Concept Walking

Von der Subalternität der Kritik heute

Boris Buden

Universalismus ist ein totgesagter Begriff. Sowohl der genaue Zeitpunkt als auch die Ursache seines Todes sind schon längst bekannt gegeben worden: Im Westen sei er schon 1968 gestorben und in Osteuropa etwas später, nämlich 1989. Das behaupten zumindest Agnes Heller und Ferenc Fehér, beide berühmten Lukacs-SchülerInnen und postmarxistische PhilosophInnen, in ihrem 1991 veröffentlichten Buch The Grandeur and Twilight of Radical Universalism[1]. Das Buch ist in der Tat ein Abschied von diesem Begriff, der, wie sie sagen, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten und einflussreichsten Visionen des hohen Modernismus war. Die AutorInnen betonen auch explizit, dass sie ihren Abschied retrospektiv, also im Rückblick auf die Vergangenheit des radikalen Universalismus schreiben und nicht etwa von der Vision seiner neuen Praxis her.[2] So legt auch das methodische Konzept des Buches die wahre Ursache des Todes des radikalen Universalismus bloß: Er sei nicht an inneren theoretischen Schwächen und Mängeln, sondern am Versuch seiner praktischen Anwendung zugrunde gegangen.

Unter einem radikalen Universalismus verstehen Heller und Fehér eigentlich den Marxismus, oder, wie sie es nennen, die Philosophie der Praxis.[3] Der radikale Universalismus ist für sie nichts anderes als eine Philosophie der Praxis. So stellen sie Marx als eine Art Super-Hegel dar. Statt das Hegel’sche System und damit auch die Metaphysik und die große Erzählung zu dekonstruieren, worum sich zuerst Feuerbach und danach Kierkegaard bemüht hätten, hätte Marx diese restauriert und radikalisiert. Dasselbe gelte auch für den Hegel’schen Universalismus, nämlich für die Idee, dass es eine universale Geschichte gibt, während alle anderen Geschichten partikular sind und von Bedeutung nur insofern sie zu dieser universalen Geschichte beitragen können. Seine universale Geschichte verstand Hegel als ein Fortschreiten zur Freiheit. Für ihn gab es auch ein universales Gesellschaftsmodell, eine universale Wissenschaft usw. Nach Heller und Fehér hätte Marx den allumfassenden Universalismus Hegels nochmals radikalisiert und zwar so, dass er ihn in die Zukunft projizierte und funktionalistisch umdeutete. Bekanntlich hätte Marx Hegel auf die Füße stellen wollen und so den Universalismus aus einem „Interpretationsinstrument“ (interpretative device) in ein „prophetisches und handlungsorientierendes Instrument“ (predictive and action-orienting device) umgewandelt. Und gerade diese praktische Anwendung des Universalismus, seine Transformation in eine Philosophie der Praxis, hätte, wie Heller und Fehér glauben, sein Schicksal besiegelt.

Demnach käme das ganze Übel des Marxismus, und das heißt vor allem, der Horror des kommunistischen Totalitarismus, all die Bürgerkriege, Scheinprozesse, der Gulag usw. nicht von der kritischen Philosophie Karl Marx’, sondern von dem Willen, durch ihre praktische Anwendung die Welt zu verändern. So sei aus einer Weltinterpretation eine Anleitung zur praktischen Anwendung (manual for action) geworden. In der Sprache der philosophischen Tradition heißt es: Der Teufel des radikalen Universalismus qua Philosophie der Praxis stecke im Zusammenfallen von theoretischer und praktischer Vernunft, also in der Idee einer Realisierung von Philosophie.[4]

So können wir sagen, dass das Schicksal des radikalen Universalismus in einem einzigen Satz Marx’ – in der berühmten elften These über Feuerbach – besiegelt wurde: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[5] Das war sozusagen sein Todesurteil.

Viele Intellektuelle – unter ihnen nach eigenem Geständnis auch Agnes Heller und Ferenc Fehér – haben seitdem mit der Idee gespielt, dem Projekt des radikalen Universalismus nach den gescheiterten Versuchen der Sozialdemokratie und des Bolschewismus eine dritte Chance zu geben. Doch diese Hoffnung sei im Westen 1968 und im Osten 1989 endgültig aufgegeben worden.[6] Damit würde das ganze Projekt des radikalen Universalismus für immer verschrottet.

Das ist also der Tod des Universalismus. Was danach kam, kann nach Heller und Fehér nicht so sehr als postuniversalistisch oder postmarxistisch beschrieben werden, da diese Beschreibungen nur in einem, wie sie sagen, autobiographischen Kontext Sinn machen. „Wir sind deshalb lieber postmodern“, schreiben sie, was nicht bloß „nach der Geschichte“ (after history), sondern vielmehr „nach der Epoche des radikalen Universalismus“ heißt. Es sei dieser radikale Universalismus, der in der Postmoderne zur Vergangenheit wurde, samt all der universalistischen Bewegungen, Ideologien, Parteien oder der auf dem radikalen Universalismus gegründeten Philosophie und Gesellschaftstheorie. In der Postmoderne sei weder eine neue universalistische Vision noch eine Wiederbelebung der alten möglich. Stattdessen versuche man wieder, die Welt zu verstehen, gewisse neue Möglichkeiten zu erkunden und Argumente für alles, was besser, schöner, oder gerechter scheint zu liefern.[7]

 
Ein nicht wirklich toter Universalismus

Es gibt jedoch ein generelles Problem mit all den postmodernen Totsagungen. Sie bedeuten nicht wirklich das, was sie meinen. Der in der Postmoderne für tot erklärte Mensch lebt irgendwie weiter. Aus seinem Tod machten etwa Althusser oder Foucault sogar den Ausgangspunkt des gegenwärtigen Denkens. Auch der Tod der Kunst heißt noch nicht, dass es sie nicht mehr gibt. So etwa definiert Danto contemporary art ausdrücklich als die nach ihrem postmodernen Tod gemachte Kunst.[8]

Dieses Leben nach dem Tode nannte Benjamin „Fortleben“ und er verwendete es, um seinen Begriff der Übersetzung zu erklären. Eine Übersetzung ist nach Benjamin nichts anderes als ein Fortleben des Originals. Das schließt aber auch den Tod des Originals mit ein. Von einer Übersetzung führt kein Weg zurück zum Original. Das ist der Kontext, innerhalb dessen wir uns heute mit dem Begriff des „strategischen Universalismus“ auseinandersetzen. Er ist als eine Form des Fortlebens – eines Lebens nach dem Tode – des alten, radikalen Universalismus zu verstehen, das heißt als seine Übersetzung, die sich vom Original ein für alle Mal befreit hat. Was in der Übersetzung unwiderruflich verloren gegangen ist, was mit dem Original verstorben und deshalb in der Übersetzung nicht mehr (be)greifbar ist, ist jene revolutionäre Bedeutung des alten Universalismusbegriffs, sein praktischer Anspruch auf die Veränderung der Welt. Daher das Paradoxon der globalisierten Welt, in der man alles verändern kann, nur diese Welt als Welt nicht. Das Globale ist eben nicht das Universale, sondern „nur“ seine Übersetzung. Man erkennt zwar in ihr das Echo des Originals, doch nicht das Original selbst. Die Welt in ihrem universalistischen Sinn ist tot. Die globale Welt ist die Form ihres Fortlebens.

Erst in diesem historischen Kontext kann der Begriff des strategischen Universalismus verstanden werden. Er gehört eindeutig der globalen und nicht (mehr) der universalen Welt an. Deshalb wird seine wahre Bedeutung erst in der Sprache dieser globalen Welt klar. Sie ergibt sich viel mehr aus dem Verhältnis des Begriffs zu anderen Phänomenen der globalen Welt als aus dem Verhältnis zu seinem Original, zur Bedeutung, die er in der Sprache der universalen Welt hatte.

Was heißt das konkret? Zuerst, dass man, selbst ohne ExpertIn in postkolonialer Theorie zu sein, im strategischen Universalismus sofort eine Reaktionsbildung erkennt: Er wurde direkt in Analogie zum Begriff des strategischen Essenzialismus geprägt. So kann man etwa den von Paul Gilroy entworfenen Begriff des strategic universalism als eine Art anti-anti-anti-essentialism verstehen.[9]

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Essenzialismus und Universalismus an sich keine Gegensätze sind. Der Essenzialismus – eigentlich eine altmodische bzw. altmodernistische Position – steht für die Überzeugung, dass Identitäten notwendigerweise eine positiv greifbare Substanz haben, etwa ein Set von zeitlosen und unveränderlichen Eigenschaften, die ihr Wesen definitiv bestimmen und sich von anderen Identitäten klar und eindeutig unterscheidet. Auf diese Weise kann man zum Beispiel gender, politische Gemeinschaften oder politische Subjekte wie Nation, Klasse oder auch – was jüngst am häufigsten der Fall ist – eine bestimmte „Kultur“ definieren. Doch eine dieser Eigenschaften kann auch die Universalität sein. So wird heute etwa der politisch so wichtig gewordene (Kultur-)Begriff des Westens durch bestimmte, als universal verstandene Werte – „our values“ wie Individualität, Freiheit, Demokratie, Säkularität, etc. – identifiziert. Im Marxismus wurde auch die Arbeiterklasse essenzialistisch definiert, zum Beispiel bei Lukács durch ihr spezifisches, einmaliges Klassenbewusstsein. Doch gerade dieses Klassenbewusstsein ist das Bewusstsein von der Universalität der Arbeiterklasse als Klasse bzw. von ihrer weltgeschichtlichen Rolle: Dadurch, dass sie sich durch die Revolution aufhebt, schafft sie das Klassenverhältnis als solches und damit alle Klassen ab.

Kurz: Das, was in der Moderne als universal verstanden wurde, ist in der Postmoderne zur spezifischen Eigenschaft einer Partikularität geworden. Genauer gesagt, in der Postmoderne wurde jede universale Position mit ihrem Außen konfrontiert, mit dem sie in einem Machtverhältnis steht, sei es in einem offenen Antagonismus, im Kampf um Hegemonie oder um Anerkennung. So wurde zum Beispiel die Universalität des Westens seitens der Kolonisierten herausgefordert. Der schwarze Mensch erwies sich als das Außen der nun partikularen, westlichen Universalität, bzw. diese Universalität erwies sich als weiß und rassistisch. Ähnliches geschah mit der proklamierten Universalität der Arbeiterklasse. Auch sie erwies sich als hauptsächlich männlich und patriarchal, indem sie nämlich Frauen ausschließt.

Auch die dem Essenzialismus theoretisch direkt entgegengesetzte Position, die wir als Konstruktivismus bezeichnen können, bildet politisch keine Parallele, kein Gegengewicht zum politischen Essenzialismus. Man kann etwa die Identität einer Nation theoretisch dekonstruieren und zeigen, dass sie nichts als der Effekt einer diskursiven Konstruktion ist, dass sie inhaltlich leer ist und nur aus Verhältnissen zu anderen Identitäten besteht, doch der politische Gebrauchswert eines solchen Wissens ist minimal. Dekonstruktion produziert keine politisch wirksamen Subjekte. Sie ist nicht in der Lage, eine essenzialistisch fundierte Gemeinschaft politisch herauszufordern – etwa eine Nation mit all ihren politischen und kulturellen Institutionen und reproduktiven Mechanismen, vor allem aber mit ihrem politischen Ausdruck, dem Nationalstaat.

Diese Spaltung zwischen Wissen und Handeln – in diesem konkreten Fall zwischen der theoretischen Dekonstruktion und dem politischen Essenzialismus ist konstitutiv für den Begriff des strategischen Essenzialismus. Dieser Begriff ist in der Tat nichts anderes als ein Überbrückungsmanöver, ein Versuch, diesen Spalt wieder zu schließen, Denken und Handeln, Theorie und Praxis wieder zu verbinden, doch diesmal unter den schon erwähnten postmodernen Voraussetzungen, was vor allem heißt, nach dem Tod des Universalismus.

 
Noch ein strategischer Begriff: Essenzialismus

Bekanntlich hat Gayatri Spivak mit „Can the Subaltern speak?“ die Möglichkeit einer subalternen Subjektivierung und damit auch politischen Artikulation prinzipiell ausgeschlossen und diese theoretisch dekonstruiert. Sie hat gezeigt, dass die Subalternität nur durch das elitäre Denken erfasst werden kann, weshalb es sie außerhalb der elitären Präsentation gar nicht gibt, und dass sie immer nur ein rein diskursives Phänomen ist. Das steht hinter der These, dass eine subalterne Frau nicht sprechen kann und an ihrer Stelle und in ihrem Namen immer irgendein Vater oder der Rebell der Nation auftritt. Mit anderen Worten, die Subalternität als solche schließt eine sich selbst transparente Subjektivierung aus, kann nie zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte und dadurch zum Subjekt der eigenen Emanzipation werden. Doch das ist etwas, was wir nur wissen, etwas das nur auf der ontologischen Ebene gilt, auf welcher der Begriff der Subalternität leer ist.

Auf der strategischen Ebene – das heißt für Spivak auf der Ebene der politischen Artikulation – kann man diese Leere mit einer essenzialistischen Projektion füllen. Obwohl eine subalterne Frau an sich nicht sprechen kann, kann es das Projekt der Subaltern Studies in ihrem Namen tun, solange es ein klares politisches Interesse vor Augen hat, nämlich solange dieses Interesse bedeutet, die offizielle indische Geschichte zu subvertieren. Gemeint ist die Geschichte, aus der jene subalterne Frau ohnehin ausgeschlossen ist. Nur im Namen dieses Interesses macht es Sinn, die Subalternität zu essenzialisieren und dadurch politisch wirksam zu machen.

Mit dem Begriff des „strategischen Essenzialismus“ versucht Spivak, einer subversiven politischen Praxis, die sich auf Essenzialismus beruft, theoretische Legitimation zu verschaffen und sie trotz ihrer theoretischen Inkompatibilität mit der Dekonstruktion von dieser billigen zu lassen. Es geht dabei um den Versuch, die politische Dignität der Dekonstruktion und des postmodernen Denkens insgesamt zu retten.

Die von Spivak projizierte ideale politische Rolle des strategischen Essentialismus ist es, den Unterdrückten jeder Art – Nationen, ethnischen, sexuellen und anderen Minderheiten – zu ermöglichen, sich zu präsentieren und politische Ansprüche zu stellen, ohne innere Differenzen und innere Debatten auszulöschen. Er soll nur temporär und zu einem ganz bestimmten politischen Zweck angewendet werden, sonst drohen Missbrauch, Nationalismen, Totalitarismen usw.

Der Begriff des strategischen Essenzialismus wurde in der Tat notwendig, weil sich die historische Situation, in der wir leben, in zwei verschiedenen Sprachen artikuliert: einerseits in der Sprache der postmodernen, antiessenzialistischen Reflexion und andererseits in der Sprache der alten essenzialistischen Politik. Strategic essentialism ist der Beweis dafür, dass es keine Möglichkeit gibt, diese zwei Sprachen aufeinander zurückzuführen oder sie in einer anderen, universalen Sprache dialektisch aufzuheben. Man kann sie deshalb nur ineinander übersetzen. Doch bereits seit Humboldt wissen wir, dass kein Wort einer Sprache ein vollkommen entsprechendes Wort in der anderen findet. Die Übersetzung ist per definitionem unperfekt, bzw. sie ist nur als ein Kompromiss möglich, der notwendigerweise eine blinde Lücke hinterlässt, die ständig nach ihrer endgültigen Schließung drängt. Jede Übersetzung – und darin unterscheidet sie sich wesentlich vom Original – verlangt dringend nach einer weiteren Übersetzung. Deshalb ist sie eine unendliche Aufgabe. Neben einer weiteren Bedeutung des Originals produziert sie auch das Bedürfnis nach noch einer weiteren Bedeutung und so weiter. Sie kann jene Lücke nur schließen, indem sie sie neu eröffnet.

Gerade deshalb wurde auch der Begriff des strategischen Universalismus geprägt. Er ist keinesfalls nur eine Reaktionsbildung zum Begriff des strategischen Essenzialismus, die eine entgegengesetzte und heute angeblich vernachlässigte politische Motivation artikuliert, etwa die universalistische Seite des binären Verhältnisses zwischen dem Universalen und dem Partikulären, sondern eine Art Derrida’sches Supplement: Der Begriff des strategischen Universalismus wurde geprägt, um die nicht reduzierbare Lücke zwischen zwei Sprachen unserer historischen Erfahrung zu schließen, zwischen der Sprache der reflexiven Kritik und der Sprache der politischen Praxis.

 
Can the critique speak?

Doch wofür sollte man sich unter diesen Umständen endgültig entscheiden: für die kritische Dekonstruktion oder für die essenzialistische Politik? Für welche Übersetzung dieser zwei Sprachen, für die essenzialistische oder für die universalistische? Ist es nicht Zeit gekommen, nach all den Versuchen, ein linkes politisches Engagement im Sinne des strategischen Essenzialismus zu artikulieren, jetzt die andere, universalistische Strategie auszuprobieren?

Wahrscheinlich ist das Beste, das man in diesem Dilemma tun kann, sich für das Dilemma selbst zu entscheiden. Das heißt, in jener Lücke zu verweilen, die keiner der Begriffe schließen kann. Das würde nicht bedeuten, den erpressten Entscheidungen und faulen Kompromissen ein für alle Mal aus dem Weg zu gehen, sondern sie als solche zu erkennen. Es gibt etwas noch Schlimmeres, als Erpressungen und opportunistischem Kalkül nachzugeben, nämlich sie als emanzipatorische Strategie zu preisen.

Nehmen wir als Beispiel den berühmten Fall der Mohammed-Karikaturen. Wofür hätte man sich hier entscheiden sollen? Für den im Namen der Meinungs- und Pressefreiheit verbreiteten Rassismus? Oder für den sich auf die demokratischen Minderheitenrechte berufenden Fundamentalismus? Hätte man sich dabei nach der Logik des strategischen Essenzialismus oder nach der Logik des strategischen Universalismus entscheiden sollen? Die richtige Antwort in beiden Fällen ist: Weder noch!

Natürlich hört man schon den Vorwurf: Dieses Schweigen angesichts der brennenden Probleme unserer Welt ist keine Strategie des Widerstands, sondern die endgültige Kapitulation des kritischen Denkens und des politischen Engagements!

Unsere Antwort darauf ist eine weitere Frage: Can the critique speak? Die Antwort ist schon in der Analogie zur Spivaks Frage über die Sprachlosigkeit der Subalternen vorgegeben: Es ist die Kritik selbst, die heute subaltern geworden ist. Gemeint ist eine Kritik, die sich durch die Integration kritischen Denkens und einer verändernden Praxis artikuliert. Diese Kritik ist heute sprachlos, was heißt, dass sie nur noch durch das elitäre Denken zu Wort kommt. An ihrer Stelle und in ihrem Namen tritt etwa das akademische Wissen auf, konkret, die ProfessorInnen der Dekonstruktion und die Gelehrten all der Formen von critical studies: post-colonial, cultural, subaltern etc. Sich selbst jedoch kann die Kritik weder repräsentieren noch subjektivieren. Mit anderen Worten ist der Begriff der Kritik auf der ontologischen Ebene in gleicher Weise wie Spivaks Begriff der Subalternität vollkommen leer. Auf der strategischen Ebene jedoch – auf der Ebene der politischen Artikulation – taucht die Kritik in einem Wechselspiel von Universalismus und Essenzialismus: einmal im Kampf um die Anerkennung einer unterdrückten (sich essenzialistisch subjektivierenden) Identität (Nation, gender, Kultur oder verschiedene Minderheiten); einmal im universalistischen Überschreiten der Identitätsgrenzen und der identitären Logik der politischen Subjektivierung insgesamt. Oder als die treibende Kraft des Multikulturalismus: als seine an ihm parasitierende Korrektur, eine Art Schönheitschirurgie an ihm. Das Ziel einer universalistischen Kritik des Multikulturalismus ähnelt im Wesentlichen der Aufgabe eines Schönheitschirurgen, die bekanntlich nicht darin besteht, eine Anomalie der Natur vom Körper wegzuoperieren, sondern diesen Körper nach dem herrschenden Schönheitsideal zu schneiden.

Um es auf den Punkt zu bringen: In den zwei Formen des strategischen Auftretens der Kritik – der essenzialistischen und der universalistischen – manifestiert sich nicht ihr fundamentaler Widerspruch, sondern ihr sich gegenseitig ergänzender Charakter. Üblicherweise wird die Universalisierung als ein protodemokratisches und damit auch ein protopolitisches Ereignis verstanden. Eine in sich partikuläre Position erhebt plötzlich einen universalistischen Anspruch und ruft dadurch einen neuen Antagonismus hervor, der das gegebene politische Feld radikal spaltet und aufs Neue artikuliert. Eines der berühmtesten Beispiele für ein solches Ereignis war die 1989 von den Dissidenten und den rebellierenden Massen der ehemaligen DDR artikulierte Parole: „Wir sind das Volk!“ Der von der Macht ausgeschlossene und zum konterrevolutionären Gesindel erklärte Teil des Volkes hat sich auf einmal zum Volk selbst – zum Stellvertreter des gesellschaftlichen Ganzen – erklärt und so den Sturz des ancien régime eingeleitet. Das wird oft als die Geburt des Politischen schlechthin und damit als Modell einer radikalen Kritik unseres postpolitischen Zeitalters bejubelt. Bekanntlich haben jedoch kurz danach dieselben Massen ihren Slogan etwas geändert: „Wir sind ein Volk“, hieß es jetzt. Das originale Ereignis, „die demokratische Revolution von 1989“, war jetzt nur noch in seiner Übersetzung, „die deutsche Wiedervereinigung“, präsent, was üblicherweise als eine Art Regression gedeutet wird: als neue Schließung des gerade geöffneten Raumes des politisch Möglichen und als Rückkehr vom eigentlich Politischen zu dem, was Rancière das Polizeiliche[10] nennt, also zur existierenden Ordnung, in der sich jeder Teil an seiner entsprechenden Stelle befindet. Damit erscheint politische Universalisierung – bzw. das Auftreten des strategischen Universalismus in einer konkreten politischen Situation – als eine Art Intermezzo des Politischen im normalen Ablauf der essenzialistischen Postpolitik. Eine essenzialistisch generierte politische Aktion erscheint hingegen als unpolitisches Phänomen. Dieses Ungleichgewicht ist nicht plausibel. Es ist eigentlich ein Effekt derselben Postpolitik, durch deren Kritik es sich artikuliert. Das erklärt auch, warum der Begriff des strategischen Essenzialismus notwendig wurde – nämlich, um das durch die universalistische und dekonstruktivistische Multikulturalismuskritik gestörte Gleichgewicht zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen Dekonstruktion und essentialistischer Politik wiederherzustellen. Doch genauso wie sein Pendant, der strategische Universalismus, bleibt der strategische Essenzialismus noch immer der hegemonialen liberaldemokratischen Ordnung – und nicht etwa deren Kritik – verpflichtet. Was die beiden gemeinsam haben, ist die Vision eines graduellen Fortschreitens der Emanzipation, das als geschicktes Balancieren zwischen den zwei Polen der existierenden politischen Weltordnung erfolgt, dem partikular-essenzialistischen und dem universal-konstruktivistischen.

Doch die Position der Kritik ist eine andere. Der erste Schritt ihrer Subjektivierung ist die Gewissheit über die eigene Subalternität, ein Schritt übrigens, den sie mit der künstlerischen Avantgarde heute gemeinsam hat.[11] Das ändert gleich ihre Aufgabe: Statt nach einem Gleichgewicht der Unmöglichkeiten zu suchen, stellt sie sich lieber der radikalen Unmöglichkeit des Gleichgewichts.

Was will uns etwa die wahrscheinlich berühmteste Maxime der globalen Welt, „Think global, act local!“, eigentlich sagen? Dass man die Beschränkungen, welche die Globalisierung unserem Denken und Handeln auferlegt, überlisten und sogar, wenn man gescheit genug ist, zum eigenen Vorteil manipulieren kann? Aus der Perspektive einer ihrer Subalternität bewussten Kritik erweist sich diese Erfolgsformel der Globalisierung als pure Erpressung: „Denke global, handle lokal“, weil du nicht anders kannst. Es ist heute eben unmöglich, gegen die globale Macht einen auf derselben globalen Ebene politisch wirksamen Widerstand zu leisten. In gleicher Weise ist es unmöglich, auf der lokalen Ebene eine wirksame reflexive Kritik zu artikulieren. Der lokale, politische Essenzialismus macht jedes kritische Denken stumm, genauso wie die reflexiv universalistische Kritik jeden lokal wirksamen politischen Akt unberührt lässt. Diese Spaltung überwinden zu wollen kann schon eine edle Aufgabe sein, nicht jedoch die der Kritik. Diese ist nicht dafür da, um eine aus dem Gleichgewicht geratene Welt wieder auszubalancieren, sondern die Tiefe der Krise, in welcher sich diese Welt befindet, zu vermessen. Deshalb muss sie den Blick in den Abgrund wagen, auch wenn sie dabei ihr Wort verliert. Das ist auch Teil ihrer historischen Erfahrung. Wer es nicht glaubt, sollte sich an die Worte Karl Kraus’ erinnern, die er – vollkommen vereinsamt in seiner Kritik – zum Horror des Ersten Weltkrieges 1914 geschrieben hat: “Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!”[12]

Der Sinn einer wahrhaften Kritik besteht nicht bloß darin, in die aktuellen Antagonismen zu intervenieren und das Wort im Namen einer der Seiten zu ergreifen. Oft kann sie ihren Zweck besser erfüllen, wenn sie im Namen eines erst aufkommenden Antagonismus schweigt.



[1] Agnes Heller and Ferenc Fehér, The Grandeur and Twilight of Radical Universalism, New Brunswick, London: Transaction Publishers 1991.

[2] Ibid., S. 5.

[3] Ihren Begriff einer Philosophie der Praxis sollte man nicht mit der Philosophie der Praxis der so genannten jugoslawischen Praxis-Schule verwechseln.

[4] Ibid., S. 3 f.

[5] Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin: Dietz Verlag, 1969, S. 5–7.

[6] Für Heller und Fehér ist das Jahr 1989 „Eastern Europe’s 1968“.

[7] Vgl. ibid., S. 4.

[8] Vgl. Arthur C. Danto, After the End of Art: Contemporary Art and the Pale of History, New Jersey: Princeton University Press 1997.

[9] Vgl. Paul Gilroy, Against Race: Imagining political culture beyond the color line, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2001.

[10] Vgl. Jaques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 40 ff.

[11] “The task of an artistic avant-garde in this context is defined less by achieving global recognition within the proliferating artworlds, than by positioning itself below the radar as a subaltern, globally connected underground that serves, not the warring factions, but those civilian multitudes who are caught in the crossfire.“ In: Susan Buck-Morss, Thinking Past Terror, London, New York: Verso 2003, S. X.

[12] Karl Kraus, „In dieser großen Zeit“, in: Die Fackel, Heft 404, Wien, Dezember 1914, S. 2.

Boris Buden

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