03 2008 Geboren in BabelÜbersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel Boris Buden: Ich würde mit dir gerne über Übersetzung als gegendertes Konzept sprechen. Beginnen wir mit der Tatsache, dass die meisten ÜbersetzerInnen Frauen sind. Dies muss, wie ich meine, mit der traditionellen Vorstellung von Übersetzung als bloßer Reproduktion eines Originals in Verbindung gebracht werden, der es an Authentizität und Autonomie mangelt. Die ÜbersetzerIn bleibt im Schatten der AutorIn, und zwar ganz ähnlich wie die Frauen in der (traditionellen) Gesellschaft im Schatten der Männer als den „natürlichen“ Subjekten sozialer und kultureller Kreativität gehalten werden. Mich interessiert allerdings nicht vorrangig die Inblicknahme von Übersetzung als besonderem Fall gegenderter Arbeit – dies wäre vermutlich das traditionelle feministische Verständnis. Ich möchte mich vielmehr auf die Frau als Metapher einer historisch spezifischen Weise sozialer Reproduktion, politischer Macht und kultureller Produktion konzentrieren, kurz gesagt, auf die Frau als Metapher von Übersetzung. Es scheint nämlich, dass die Frau so lange als Übersetzung erscheint, wie die Gesellschaft auf Originalität Anspruch erhebt. Wir glauben heute aber nicht länger an den binären Charakter der Beziehung zwischen Original und Übersetzung, ebenso wenig denken wir über soziale HandlungsträgerInnen vornehmlich in Begriffen ursprünglicher Identitäten nach. Wie aber lässt sich dann diese Beziehung zwischen Gender und Übersetzung heute verstehen?
Nun, den Kontext wiederzugeben ist etwas vollkommen anderes, ganz abgesehen von der Tatsache, dass jede Übersetzung persönlich ist und überdies definitionsgemäß immer unzureichend bzw. teilweise unangemessen, obwohl sie notwendig bleibt. ÜbersetzerInnen haben sich demzufolge damit beschäftigt, einen unverzichtbaren, kulturellen Kontext darzustellen, der in der Kultur und Sprache, in die sie übersetzen und in die eine textuelle Übersetzung eingeführt wird, fehlt oder sich von diesen wesentlich unterscheidet. Nun ist es aber so, dass der Kontext, sogar mehr noch als ein Text oder eine Übersetzung, eine durch so viele persönliche, kulturelle, historische Dinge unterrichtete Vermutung darstellt. Ein Satz oder ein Wort kann sich auf unzählige Kontexte, Bedeutungen oder „Satz-Regelsysteme“, wie Jean-François Lyotard sagen würde, beziehen. Das Regelsystem selbst ist undefinierbar und unendlich, obgleich ein Regelsystem unvermeidbar ist. Es kommt immer zu einer Verkettung, allerdings können wir nicht im Vorhinein sagen, welcher Art diese Verkettung ist. Die Anzahl von Möglichkeiten für einen einfachen Satz wie „Öffne das Fenster“ ist unermesslich. Der Kontext ist vielleicht: „es ist warm“, „es ist kalt“, „ich ertrage die Klimaanlage nicht“ (sagt der Geschäftsinhaber auf der 21. Etage in Shanghai); „lass den Vogel raus“, „sie kann nichts hören“, „es brennt“, „ich kaufe Gemüse“ (mit einem am Seil hängenden Korb auf der dritten Etage, und zwar in Istanbul); „wir ersetzen die Fensterscheiben“, „es ist Mitternacht …“ („… und ich werde Geschirr auf die Straße werfen“, in Rom am 31. Dezember); „Romeo kommt“ (sagt Julia zu ihrer Magd), „ich muss die Fenster von außen waschen“ (sagt die Putzfrau aus Rajasthan im Büro zu ihrer sie begleitenden Tochter). In solchen Beispielen nahmen sich die ÜbersetzerInnen traditionell notwendige Freiheiten, um den LeserInnen den – möglicherweise nicht sofort einsichtigen – Kontext zu erklären. Dabei haben sie oftmals geraten. Sie haben der „Übersetzung“ jede Menge eigener Überlegungen hinzugefügt und somit oft eher „interpretiert“ als „übersetzt“. Wo verläuft die Trennlinie zwischen Übersetzen, Interpretieren oder Lesen? Sie lässt sich niemals festlegen und niemand kann sagen, wo sie verläuft. Es ist eine Sache des „Gespürs“, vergleichbar mit dem „Gespür“ in der Kunst oder beim Kochen, wie das sazón [die Würze] beim Kochen, der tateo[2], den man beim Hinzufügen einer „Prise“ Gewürz zu einer Speise entweder hat oder eben nicht. Obgleich es hinsichtlich der Qualität der textuellen und kontextuellen Übersetzung Abstufungen geben kann, liegt ein reines Kriterium dafür ebenso wenig vor, wie es eine reine Übersetzung gibt.[3] Die ÜbersetzerIn übersetzt nicht nur den Text und den Kontext; sie/er übersetzt auch die AutorIn, manchmal sehr zum Missfallen der/des Letzteren. Schließlich übersetzt sie/er auch sich selbst, ebenso wie die Köchin/der Koch im Gericht und die/der MalerIn im Gemälde inbegriffen sind, was für sie auch nicht immer angenehm ist! Die ÜbersetzerInnen wichen also manchmal sehr wesentlich vom „Original“ ab, insbesondere in Asien (aber vermutlich auch anderswo), und verstrickten sich als KoautorInnen entweder offen oder verdeckt in ihre Übersetzung. In Zeiten und Räumen, in denen dies als normal betrachtet wurde, wurde ihre Involvierung in die inhaltliche Veränderung des Originals nach Maßgabe der Erwartungshaltung oder des Verständnisses der LeserInnen, oder auch nach Maßgabe der Fähigkeiten der ÜbersetzerInnen selbst, gegenüber dem „Original“ zum vorherrschenden Phänomen. Die Idee einer gewissen „Treue“ der Übersetzung als Voraussetzung für die Übersetzung war überhaupt nicht immer und überall selbstverständlich. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Kriterium, das seinen Ursprung in der Übersetzung von ähnlichen, derselben Sprachfamilie zugehörigen, möglicherweise westlichen Sprachen oder Kulturen hat. Dies hat zweifellos auch mit dem Innehaben von Macht zu tun. Selbst wenn es ein brauchbares Ideal wäre, wer sollte letztendlich über die Treue einer Übersetzung urteilen, wenn sich der Kontext, die Sprache, die Kultur und die Zeit verändert haben? Die Idee einer getreuen Übersetzung kann nicht die einer wortwörtlichen, monosemischen Übersetzung sein. In bestimmten Kulturen, in denen ein fremder Name weder aussprechbar noch erinnerbar ist (man muss einer Sprache ausgesetzt sein, ehe man sich die Namen einprägt; deshalb tun uns TaiwanesInnen oder andere FreundInnen oft den übertriebenen Gefallen, sich westliche Namen zu geben, um uns die Identifikation zu erleichtern …), wirft die ÜbersetzerIn einen großen Schatten auf die AutorIn und nimmt sie/ihn in gewisser Weise „in Besitz“. Man kennt diese/n oder jene/n AutorIn durch diese/n oder jene/n ÜbersetzerIn/KoautorIn, die/der sich auf die/den AutorIn spezialisiert hat. In diesen Fällen kann die/der ÜbersetzerIn sogar größtenteils anderer Meinung sein als die/der AutorIn oder ihr/ihm widersprechen. Da ich keine Sinologin bin, weiß ich nicht genau, ob in Ostasien Übersetzungen auch hauptsächlich von Frauen erstellt wurden oder werden und ob Frauen in diesem Teil der Welt dasselbe Verhältnis zur Kultur der Übersetzung[4] haben. Das heißt jedoch nicht, dass ich glaube, asiatische Gesellschaften sind oder waren weniger patriarchal: Sie sind sicherlich anders patriarchal und bringen möglicherweise andere Metaphern zum Einsatz. Das heutige Indien würde diesbezüglich ziemlich ähnlich funktionieren wie der Westen, insofern Übersetzungsarbeiten hauptsächlich von Frauen übernommen werden. Aber ist die Frau in Indien auch eine Metapher für Übersetzung? Ich weiß es nicht. Möglicherweise nicht, aber darüber müssen andere befinden. Übersetzen ist eine sehr, sehr alte Tätigkeit in asiatischen Sprachen. So übersetzte beispielsweise Huen Tsang[5] den buddhistischen Kanon aus dem Sanskrit ins Chinesische. Du hast selbstverständlich das richtige Problem ausgemacht, wenn du darüber sprichst, dass die „Gesellschaft Anspruch auf die Originalität eines Textes erhebt“; und ich würde eventuell hinzufügen, dass es auch ihre eigene „Originalität“ ist, die diesem Anspruch zugrunde liegt. In solchen Fällen wäre „Originalität“ ein Anspruch auf eine Realität aus erster Hand, auf einen Vorrang, eine Priorität, ein höheres Wissen, und zwar im zeitlichen Sinn (das ist wesentlich) wie auch im Sinne der Qualität oder der Wichtigkeit. Hier zeigt sich eine Tendenz zur Historisierung als Technik der Bemeisterung und Herrschaft sowie ein Anspruch auf eine bestimmte Art von „Autochthonie“, die leicht in Ethnisierung, Rassifizierung, Identitarismus und Sexuation umschlagen können. Die Probleme, die solch einem Verständnis von Übersetzung entspringen, werden aufgrund des materiellen, des materialistischen Einsatzes leicht sexuiert. Ich würde mit der Behauptung zögern, dass es den Männern in der chinesischen Kultur sowie in mit ihr assoziierten Kulturen historisch zwingend gelang, sich selbst symbolisch mit größerer Autochthonie auszustatten als die Frauen, wie dies im antiken Griechenland und durch Griechenland vermittelt im Imaginären[6] des Westens des Fall war. Auch wenn an der historischen chinesischen Patriarchalität kein Zweifel besteht, verhält es sich möglicherweise dennoch so, dass die sozialen (und politischen) Aspekte chinesischer Gesellschaften mit einem anderen, viel direkteren Zugriff der Gesellschaft und auf die Gesellschaft verbunden waren, der nicht notwendigerweise von einem symbolischen System bedient wurde, das dem Männlichen den Vorrang einräumt. Aber das sind bloß Vermutungen. In der Tat ist dies verwirrend, und es würde eine Untersuchung lohnen, die sowohl Indien als auch China in einen Vergleich mit dem Westen rückt: Es finden sich selbst in anderen symbolischen Anordnungen und Kontexten als den westlichen, ja selbst dort, wo die ideelle, symbolische und imaginäre Möglichkeit einer Vorrangstellung des Weiblichen besteht (und wo es seit unvordenklicher Zeit solche Denkschulen gibt), dennoch sehr wirkmächtige Patriarchate. Die Metapher der Frau als materieller Einsatz der Übersetzung ist an diesen Orten möglicherweise nicht wirksam, Übersetzungen werden vielleicht unterschiedslos von Frauen wie Männern geleistet (wobei dies viel eher mit Sozialgeschichten wie etwa dem Zugang zu öffentlicher Bildung zusammenhängt) – ich weiß es wirklich nicht. Oder Übersetzungen mögen auch überwiegend Frauen anvertraut werden (handelt es sich doch um eine schlechter bezahlte Arbeit), und dennoch funktioniert unsere Metapher womöglich nicht, selbst wenn die sozialen Bedingungen von ÜbersetzerInnen, Frauen wie Männern, mit unseren Verhältnissen vergleichbar sein mögen (oder vielleicht auch nicht?). Die Frage nach der Beziehung zwischen Übersetzung und Gender kann als Frage nach dem Genre der Übersetzung gestellt werden. Handelt es sich bei Übersetzungen um ein (literarisches etc.) Genre, oder nicht? In vielen Kulturen, insbesondere in China, Korea und Japan, war die Übersetzung ein literarisches Genre. Warum sollten wir sie nicht als ein Genre begreifen? Genres sind letztlich doch ebenso gegendert wie Übersetzungen. Überdies haben beide Konzepte, Genre und Gender, denselben Ursprung, weshalb wir im Französischen auch für beide dasselbe Wort verwenden (genre). Frauen taten sich historisch also in Genres wie etwa Kinderliteratur, Poesie, gotischen Novellen (britische Autorinnen), romans roses, japanischen Romanen, Romanen im Allgemeinen, Kurzgeschichten, Science-Fiction, Übersetzung etc. hervor. Verschiedene Genres richten sich an verschiedene Öffentlichkeiten. „Gender“ ist ein mehrdeutiger Begriff. In der englischen Sprache hatte er die Funktion, die Tatsache zu betonen, dass es sich bei „männlich“ und „weiblich“ um relationale Konzepte handelt. Außerdem sollte auf diese Weise deren konstruierter, sozialer und historischer Charakter betont werden. Der Einsatz von gender unterstrich die Nichtnatürlichkeit der Konstruktion. Aber der Begriff hat seine Grenzen, wie nützlich er für politische Zwecke auch gewesen sein mag. Gender wird, wie das „natürliche Geschlecht“ [sex], schnell essenzialisiert und wurde, genauso wie sex, oftmals zur Kennzeichnung von Frauen und nicht zur Kennzeichnung der Relation eingesetzt. Die Sex-Gender-Unterscheidung entspricht der theoretisch unhaltbaren Unterscheidung von Natur/Kultur durch Levi-Strauss. Zum Konzept der Natur gelangen wir jedoch nur durch die Kultur … – und gleichermaßen gelangen wir zu Sex nur durch Gender. Demnach handelt es sich bei dieser Beziehung um eine falsche Symmetrie. Dies ist eine der Ausformungen dessen, was ich partage de la raison[7] genannt habe. „Wir haben fünfzig Prozent Gender“, verkündeten die Chiclero-ArbeiterInnen im guatemaltekischen Regenwald voller Stolz und meinten damit, dass sie einen fünfzigprozentigen Frauenanteil haben. Wir würden den Begriff Gender nicht benötigen, wenn es Symmetrie und Gleichheit gebe, er wäre irrelevant.
Man könnte hervorheben, dass die Mutter Gottes im Christentum über kein Evangelium, das heißt über keinen rezitierbaren Text, keine erzählbare Geschichte verfügt. Ihre Geschichte wurde nicht in der von ihr erzählten Weise niedergeschrieben. Vielmehr wurde ihre Geschichte von all den Männern in ihrem Umfeld zurechtgeschmiedet, von jenen, die über die richtigen Attribute zur Festlegung der Wahrheit verfügten; ihnen zufolge verhielt sie sich wie jede Frau, nämlich „angezapft von oben und offen von unten“ (wie Lacan Frauen beschreiben würde), und gebar physisch den logos in Form von Jesus. Logos bedeutet in diesem Kontext zugleich Wort und Gedanke, sowohl Gefäß als auch Inhalt. Marias physisch „erzähltes“ Material und ihre körperliche Geschichte sind der Körper des exemplarischen Mannes (Menschen), der teils Gott ist, und dieser Körper – Jesus – macht Geschichte, macht Universalgeschichte für uns alle, und zwar als Hierarchie, in der wir alle verortet werden. Darum hat die Mutter Gottes keine Sprache: Sprache bedeutet Vermittlung, Verhandlung; die Sprache ermöglicht alternative Universen, Flucht, Widerstand, andersgeartete Geschichten und Schauplätze, ungewisse und alternative Bedeutungen. Stattdessen gebar sie Die Bedeutung, die eine Bedeutung des Monotheismus, die bestrebt ist, uns auf eindeutige Weise zu definieren. Diese Übersetzung ist total und selbstverständlich totalitär. Die wahre Sprache ist der Jungfrau Maria (und symbolisch allen Frauen) untersagt, da sie eine Übersetzung ist; darum hat sie auch kein Evangelium. Gewiss liegt eine nützliche Verspieltheit in der Identifikation der Muttersprache mit einer Frau, um diese Metapher zu verwenden. Man könnte dies auch anders betrachten. Ist die Muttersprache* die Sprache der Mutter (auf sozialer Ebene, das heißt im Patriarchat, die Sprache des Vaters)? Wird die Sprache (des Vaters) von der Mutter gesprochen und dem Kind übermittelt? (Wir kennen selbstverständlich zahlreiche Gegenbeispiele, in denen die Sprache der Mutter und jene des Vaters verschieden sind und in denen je nach Ort Kommandos in jener Elternsprache –welche es auch sei – übermittelt werden, die mit der politisch dominanten Sprache zusammenfällt.) Oder ist die Muttersprache* die Mutter aller Sprachen? An diesem Punkt tut sich natürlich eine große Differenz auf, die mich besonders interessiert. Ich glaube, dass Übersetzung die Mutter aller Sprachen ist – und folglich auch unsere eigene, nicht ethnisierbare Muttersprache. Als Indologin weiß ich auch, dass Sanskrit als die Mutter der (indoeuropäischen) Sprachen imaginiert wurde; oder dass eine gemeinsame alte indoeuropäische Sprache imaginiert wurde, die verlorengegangen ist. Dies sind politisch eitle, linguistisch jedoch fruchtbare Vorstellungen. Ich habe anderswo Übersetzung als meine Muttersprache geltend gemacht. Übersetzung kommt „zuerst“, sie hat „vor“ irgendeiner Sprache statt und wohnt allen Sprachen als Prinzip inne. Eine Sprache ist keine Sprache, wenn sie nicht übersetzbar ist. „Übersetzbarkeit“ ist keine nur zufällige Eigenschaft der Sprache, sondern ein ihr inhärentes und fundamentales Element. Dies bedeutet nicht, dass es in den Sprachen keine „unübersetzbaren“ Elemente gibt, aber diese koexistieren mit einer grundsätzlichen Übersetzbarkeit. Die Übersetzbarkeit ist das Leben der Sprachen. Wären Sprachen durchgängig unübersetzbar, wären sie unbeweglich und für Transformation und Entwicklung undurchlässig. Auch die Unübersetzbarkeiten sind absolut grundlegend, insofern sie polysemische Wertigkeiten garantieren. Unübersetzbarkeiten verhindern die Übersetzung nicht, sondern sind im Gegenteil ihr Treibstoff; wir können uns glücklich schätzen, dass wir über sie verfügen. Wir übersetzen dank und trotz der Unübersetzbarkeiten. Darum haben wir einen Kontext. Aber grundsätzlich gibt es die Übersetzung noch vor der Sprache, in die übersetzt wird, da man in der Kommunikation sich selbst dem Anderen übersetzen muss; man übersetzt von innen nach außen und umgekehrt. Auch soziale Bedeutungen, politische Kodes, Institutionen, Gebräuche und Verhaltensweisen werden in die Sprache übersetzt und umgekehrt; Übersetzen ist keine solipsistische Tätigkeit. Die ganze Menschheit übersetzt, sogar jenseits einer Sprache, in einem komplexen Netzwerk, das Raum und Zeit umfasst, aber auch über sie hinausgeht. Deshalb sind wir nicht nur sterbliche und historische Seiende (als unübersetzbare Individuen), sondern auch transzendente Seiende (als Gattung, möglicherweise unter anderen Gattungen und in Interaktion mit diesen). Selbstverständlich findet Übersetzung auch in ein und derselben Sprache statt (wenn es denn möglich wäre, Letztere überhaupt zu definieren; wie ließe sich eine Sprache auf nicht willkürliche Weise von einer anderen abgrenzen?). Indessen ist die Unterscheidung zwischen „Sprache“ und „Dialekt“ eine politische (mit Macht verbundene) Unterscheidung, und ganz und gar keine linguistische Unterscheidung. Wir können den Turm von Babel als Metapher für das viele Universen beinhaltende Universum zum Einsatz bringen, und ebenso im Sinne einer Sprache, die den Keim aller anderen Sprachen in sich trägt, insofern die Sprache im Grunde Übersetzung ist. An dem Tag, an dem wir nur eine absolute Sprache und nur eine einzige Übersetzung hätten, wären wir tot. Wie Subcomandante Marcos sagt: „Die Welt, die wir begehren, ist eine Welt, in die viele Welten passen.“[8] Dasselbe gilt für Sprachen: Viele Sprachen passen in eine Sprache.
In einer Sprache (dem Serbokroatischen), in der die Grenzen ständig aufs Neue gezogen sowie von mit dem Aufbau der Nation beschäftigten LektorInnen, LinguistInnen und PolitikerInnen andauernd nachkorrigiert und durch das Fernsehen diktiert wurden, in einer Sprache, in der sich die offizielle Orthografie über die Jahrzehnte meiner Schreibtätigkeit ständig veränderte, in einer solchen Sprache wurde Sprachpurismus schnell zum Beruf. Ich erinnere mich an eine Reihe von verschiedenen amtlichen Standardisierungen; ich selbst hielt irgendwann stur an einer dieser Standardisierungen fest, indem ich die Übernahme nachfolgender offizieller Änderungen verweigerte. Das Ergebnis war, dass ich Texte in allen möglichen Standardisierungsvarianten veröffentlichte, je nach Strenge der/des LektorIn bzw. der linguistischen Politik des Verlagshauses (die ebenfalls variierte). Meine persönliche Geschichte ist, dass ich sowohl in Belgrad als auch in Zagreb aufwuchs, lebte und arbeitete und in meinen jungen Jahren die beiden Varianten der Sprache tatsächlich sprach, allerdings mit einigem Unbehagen, wenn ich mich in gemischter Gesellschaft befand. Üblicherweise sprachen die Leute nur eine Form der Sprache, selbst in Begleitung von FreundInnen, welche die andere sprachen. Ich aber wuchs in beiden Landesteilen auf und lernte beide Sprachen von früh an. Übersetzte ich zwischen Serbisch und Kroatisch? Ich sprach französisch mit Französisch sprechenden Menschen, englisch mit Englisch sprechenden und desgleichen kroatisch mit Kroatisch sprechenden, serbisch mit Serbisch sprechenden … Die Unterscheidung zwischen den letztgenannten Sprachen war offensichtlich sehr willkürlich und von jeweils vorherrschenden offiziellen Kriterien abhängig (jene Kriterien veränderten sich insbesondere auf der kroatischen Seite zunehmend in Richtung eines Purismus, indem zusehends kleine Unterschiede eingeführt wurden, die es historisch oder altertümlich klingen ließen). Es konnte sich dabei auch um eine Sache des persönlichen Gefühls handeln. Du hast natürlich Recht damit, dass der Kult um die Muttersprache ein Unsinn ist, aber es ist ein Unsinn, der sowohl Nationen wie Staaten begründet und der sich jedenfalls mit Machtausübung verbindet. Eben weil die Sprache ein wunderbares Disziplinierungsinstrument ist, ist sie auch ein mögliches Instrument für Friedensverhandlungen. Diese Fähigkeiten der Sprache erstrecken sich auf alles, was sich in die Sprache eingebettet findet, wie etwa die Literatur und das Schreiben. Heute schreibe ich hauptsächlich in anderen Sprachen als meiner ersten Muttersprache, aber selbst in diesen stoße ich auf genau dieselben Probleme, oder anders gesagt, der Zugang zu jeder Sprache vollzieht sich nur über Dilemmata und Tücken. Es gibt keine Sprache, die alles sagen kann, da die Sprache ein Teil von allem ist! Grundsätzlich erscheint uns jede Sprache als ungenügend und unzureichend, und genauso verhält es sich auch mit der Übersetzung. Alle Sprachen, einschließlich unserer kleinen Sprachen, träumen von Monolinguistik. In Verbindung mit dem linguistischem Purismus und bis zu einem gewissen Grad mit ihm vergleichbar, lässt sich auf die Wirksamkeit einer Besonderheit hinweisen, die für die französische Sprache ziemlich charakteristisch ist: eine monolinguistische, monosemantische Paranoia. Natürlich stimme ich Daniel Heller-Roazen zu, wenn er sagt: „Ich bestreite, dass jede Sprache eine Sprache ist, die mit ihrer eigenen Identität versehen ist“[9], und ebenso wenn er sagt, dass jede Sprache entweder auf eine andere Sprache verweist oder deren Echo ist; oder wie ich sagen würde, jede Sprache ist Übersetzung. Daher ist jede Sprache unzureichend, unvollständig, voller „Unübersetzbarkeiten“ und dennoch der Übersetzung überantwortet in der Weise eines Versprechens oder eines unvollendeten Projekts. Nicht nur Babel ist verwirrend, nicht nur das Netzwerk der Sprachen ist mystifizierend und verblüffend, sondern genauso verhält es sich innerhalb einer einzelnen Sprache und innerhalb jener Sprache wiederum in jedem einzelnen Satz, ja selbst in jedem einzelnen Wort oder Laut. Wir werden niemals eine endgültige Bedeutung haben, das heißt, obwohl wir übersetzt werden, werden wir niemals vollständig übersetzt werden. Eben daher denkt Heller-Roazen, dass Babel nicht der Vergangenheit angehört, sondern die Wirklichkeit der Sprache ist. Und wenn es sich auch nur um einen „Mythos“ handelt, so würde ich hinzufügen, dass er den Raum benennt, in dem wir uns wiederfinden und den wir bewohnen. Aber natürlich gibt es keine Fluchtmöglichkeiten, und offen bleibt die Frage nach der Göttlichkeit, nach der manchmal behaupteten Heiligkeit der Sprache. Unterschiedliche Kulturen oder Sprachen haben auf vielfältige Weise Sprachmuster oder linguistische Schablonen für die Welt hervorgebracht, oder auch einen „heiligen Text“, eine „Offenbarung“ oder eine in der Sprache niedergelegte „Wahrheit“, die uns seitens einer Transzendenz geschenkt werden. Die Monotheismen scheinen diesen Weg am weitesten gegangen zu sein, indem sie eine mehr oder weniger ausgeprägte, potenziell fundamentalistische Klerokratie, wenn nicht gar Theokratie (und beides trat oftmals zusammen auf), auf einen Text gründeten. Ich spreche von den Monotheismen, da sie die besondere Fähigkeit zur Verbindung von religiöser und staatlicher Macht hatten. Selbstverständlich lassen sich auch andere in die Sprache eingebettete Muster religiöser Macht finden, aber diese funktioniert nicht notwendigerweise durch den Staat. Clarisse Herrenschmidt erklärte, dass Gott in den semitischen Sprachen (die im Übrigen hartnäckige Monotheismen produzierten)[10] der Hüter jenes Teils ist, der unsichtbar bleibt – nämlich der Vokale. Demgemäß ist der Sitz zumindest dieses unsichtbaren Teils der Sprache (die drei Viertel der Sprache, von denen in den Veden die Rede ist; die Vokale in semitischen Sprachen etc.) außerhalb des Subjekts verortet, in einer unerreichbaren Transzendenz unter der Obhut Gottes (der Götter). „Wir können zwar ohne Vokale schreiben, nicht jedoch sprechen. Eine Sprache ohne Konsonanten wäre möglich, nicht jedoch eine Sprache ohne Vokale. Um zu sprechen, müssen wir atmen.“[11] Dieser Theorie zufolge haben Sprachen mit konsonantischer Schrift, wie etwa das Hebräische, die Möglichkeit zur „Neuerfindung“ der Sprache, und zwar innerhalb jenes versteckt gebliebenen Teils. (Ich habe hier einige Zweifel an allzu schnellen politischen Vermutungen, dass dies die „Wiederbelebung“ der hebräischen Sprache ermöglichte; das Problem ist vielmehr, ob sie historisch überhaupt „wiederbelebt“ wurde oder einfach nur fortbestand, und zwar trotz des mächtigen, möglicherweise mythisierenden Gründungsnarrativs ihrer „Wiederbelebung“). Der Argumentation der Autorin zufolge gibt es einen Raum der Erfindung in dem Maße, wie die Sprache nicht gänzlich in der Schrift gefangen ist. Ich würde diese Erfindung auch Übersetzung, politische und soziale Verhandlung nennen und jenen „Raum der Erfindung“ als möglichen politischen Raum betrachten (somit auch als einen Raum der Freiheit oder der Sklaverei), der über die Sprache um einiges hinausreicht. Diese Theorie interessiert mich vornehmlich aus einem anderen Grund: aufgrund der Politik, die an einer Sprachtheorie abgelesen werden kann, sowie um durch die Sprache ein Verständnis kolonialer Verhältnisse zu erlangen. Ich denke, dass in dieser Theorie kein Spielraum für ein Verständnis von Sprache als Übersetzung bleibt – aber ich bin mir nicht sicher, dazu müsste ich mehr von C. Herrenschmidt lesen. Andererseits ist jedoch ihre Idee sehr interessant – wenn auch vielleicht etwas dunkel –, dass eine Sprache, die in einem vollständigen (Konsonanten wie Vokale verzeichnenden) Graphismus niedergeschrieben wird, wie etwa die europäischen Sprachen (sowie viele asiatische und wohl auch viele andere Sprachen, wie ich hinzufügen würde) – dass eine solche Sprache der damit einhergehenden Philosophie die Möglichkeit eröffnet, das Konzept eines Subjekts zu konstruieren (oder ihrer Ausdrucksweise entsprechend, „dem Subjekt eine Stimme zu geben“). Nur, sollte dies als etwas Positives betrachtet werden? Wir können unser Urteil hier ebenso gut aussetzen, nicht so sehr im Vergleich mit dem Arabischen (warum nicht, fragt man sich, handelt es sich doch abermals um eine semitische Sprache), das nach Herrenschmidt das Subjekt weniger favorisiert als die europäischen Sprachen (und wie verhält es sich mit dem Hebräischen?). Subjektivität mit der Schrift in Zusammenhang zu bringen ist selbstverständlich problematisch, oder es bezieht sich lediglich auf eine herrschende und im Zentrum verortete Subjektivität. Ich könnte darauf zu sprechen kommen, dass die alte indische Philosophie der Subjektkonstitution keinen Vorrang einräumte, und zwar im Sinne einer ganz klar positiven, das heißt autonomen und frühen zivilisatorischen Wahl, die mit dem frühen indischen „linguistic turn“ in Zusammenhang stand (ich möchte dies nicht durch ein Urteil als positiv oder negativ charakterisieren).[12] Wenn im indischen Fall überhaupt irgendeine Beziehung zur Schrift besteht, so könnte die Nichtkonstitution des Subjekts (die nicht negativ verstanden werden sollte) mit der mündlichen Übermittlung in Verbindung gebracht werden. Obgleich es Schriften gab (die größtenteils Vokale entwickelt hatten), wurden sie im alten Indien zu anderen – nicht mnemotechnischen – Zwecken der Übermittlung „heiliger“ Texte verwendet.[13] Wenn überhaupt, dann steht, wie ich meine, die Differenz, die in den unterschiedlichen Verwendungen der Schrift liegen mag, nicht unbedingt in einem Zusammenhang mit der Bezeichnung der Vokale in der Schrift, sondern vielmehr mit dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch der Schrift als Mnemotechnik für „heilige“ Texte, das heißt in Verbindung mit einer Art Macht. Und hierin könnte ich Clarisse Herrenschmidt zustimmen, wenn sie denn tatsächlich in diese Richtung zielen würde (was mir nicht klar ist): Vielleicht brauchen wir in der Tat eine geschriebene Sprache, geschriebene heilige Texte, wenn wir wirksam und dauerhaft kolonisieren und die Kolonialisierung in ein Weltsystem (jenseits wilder Invasionen) transformieren wollen, das nachträglich Globalisierung genannt wird. Sie scheint davon auszugehen, dass wir deshalb keine Weltgesellschaft oder globale Zivilgesellschaft haben, weil wir über keinen zugrunde liegenden Universalmythos verfügen, insbesondere nicht für das Zeitalter neuer Technologien. Wir stehen daher in einer entsemantisierten und teilweise entsymbolisierten Welt (der es an zeitgemäßen Mythen mangelt) vor dem Problem, wie wir der Welt Sinn verleihen können. Aber was für ein Mythos ist Babel, wenn nicht ein zugrunde liegender Mythos, der noch über die Fragmentierung der Globalisierung hinaus standhält? Brauchen wir überhaupt einen vereinheitlichten Mythos? Möglicherweise nicht.
Die Formel könnte ebenso lauten A (A + B). Die Kraft des Universellen besteht darin, dass sie die beiden Seiten der Gleichung zusammenhält; sie ist sowohl „universell“ wie „partikular“, weshalb sie auch die Ebene wechseln und uns jederzeit täuschen kann. Auf der Ebene des Partikularen besteht nicht das geringste Problem; auf dieser Ebene sind wir alle verschieden, aber gleich. Das Problem entsteht nur hinsichtlich der Beziehung. Das Universelle sollte (paradoxerweise?) immer als eine Beziehung zwischen dem Universellen und dem Partikularen (den Partikularitäten) verstanden werden. Es gibt kein Universelles, das keine Partikularitäten einschließt. Übersetzt heißt dies auch, dass die Hegemonie auf jeder Stufe neu abgemischt werden muss, das Hegemoniale muss beständig geschaffen und wieder aufgelöst werden; ich will auch nicht am Kennzeichen der Hegemonie als Sackgasse festhalten (Laclau/Mouffe). Ich ziehe die Betrachtung der beständigen Wirksamkeit des Politischen (le politique) in diesem Prozess vor; dies ist unsere Chance, auch wenn unsere Chance oftmals unser (oder jedenfalls irgendjemandes) Verhängnis war. Es ist nicht möglich, Risiken zu vermeiden; das Risiko des Fehlers wohnt dem Politischen inne. Ich denke nicht, dass wir eine „allgemeine Erklärung dessen, was mit uns geschieht“[15], erwarten können. Nicht wenn wir in Babel wohnen. Es geschehen dermaßen viele neue Dinge, sie geschehen dermaßen unvorhergesehen, und die Beschleunigung vollzieht sich dermaßen schnell, dass wir das Verständnis für unsere Welt ebenso verloren haben wie entsprechende Kriterien und Werte, während neue nur langsam entstehen. Doch die Reterritorialisierung hält neben der Deterritorialisierung Einzug, und zwar auf dieselbe Weise, in der die neuerliche Semantisierung die Entsemantisierung durchkreuzt und sich eine neuerliche Symbolisierung langsam, aber sicher über die fragmentierten entsymbolisierten Zeiten und Räume verteilt. Doch dies alles wird erst im Nachhinein sichtbar, und nicht während es geschieht. Da über der großen globalen Fragmentierung eine allgemeine globale Vernetztheit waltet, geht niemals alle Bedeutung, alle Symbolisierung und alle Sprache auf einmal verloren, sondern wird in Differenz erneut eingesetzt, während zugleich die Desintegration am Werk ist. Dies ist die Verfasstheit von Babel und der vielfältigen „Muttersprachen“, die wir alle haben. Das Paradox und das Wunder der Sprache ist, dass sie zugleich persönlich und transpersonal ist, dass sie Raum und Zeit transzendiert. Sie wäre weder das eine noch das andere, wenn sie nicht Übersetzung wäre. Wie es scheint, brauchen wir Übersetzung, da wir in das historische Verhältnis eingelassen sind.[16] Ich habe die Differenz in Bezug auf die linguistische Politik des Kolonialismus und des postkolonialen Verhältnisses, die Differenzen zwischen Französisch und Englisch, wobei nur Englisch zur globalen Sprache wurde, an anderer Stelle näher ausgeführt. Die politischen Konsequenzen in Ländern, in denen diese Sprachen gesprochen werden, sind sowohl für die Metropolen wie auch für die früheren Kolonien enorm. Indische Intellektuelle, deren lokale Sprache (unter anderen lokalen Sprachen das Englische) mit der globalen Sprache zusammenfällt, profitieren stark von dieser Situation und gehen sofort auf Universitäten in den USA, ganz im Gegensatz zu den AlgerierInnen, die sich in einer völlig anderen Situation befinden, da ihre Kolonialsprache nicht zugleich die globale Sprache ist, die ihnen einen kosmopolitischen Zugang zum Wissen verschafft.[17] André Chevrillon argumentierte sehr überzeugend, dass das Englische mit einem „Werden“ (devenir) und dem Fluss der Zeit leichter zurechtkommt, während das Französische sich an das „Sein“ (être) sowie an unbewegliche, aber aufeinanderfolgende Zeitbrocken hält.[18] Selbst heute, oder heute sogar noch stärker denn je, scheinen sich diese beiden Sprachen in unterschiedlichem Ausmaß oder mit unterschiedlichen Intensitäten auf die Aktualisierung des Virtuellen einzulassen. Es treten natürlich zugleich Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen diesen beiden Sprachen auf, und zwar in dem Sinne, dass jede Sprache andere Sprachen in sich trägt, was wiederum eine Parallele in den immer (un)vereinbaren Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Vergangenheit und Gegenwart findet: All dies wurde in den gegenwärtigen Zustand der Globalisierung verschmolzen. Die Aushöhlung der Souveränitäten und die Deregulierung sind zusammen mit neuen „Anordnungen“ (S. Sassen, A. Ong) oder neuen „Gefügen“ (Deleuze) aufgetreten, die in der Vernetztheit des neuen Kosmopolitischen neue Netzwerke sowie unerwartete Zusammenstellungen und Verbindungen hervorbringen. Diese Produktion der neuen Formen von Leben, Politik, Produktion, öffentlichen Sphären, geschlossenen Sphären, informellen Politiken, neuen Souveränitäten (einschließlich solcher, die auf Krieg basieren), nichtlinearen Entwicklungen und unerwarteten Ergebnissen, Imaginarien, neuen Bedeutungen und neuen Symbolisierungen – ist ebenfalls Übersetzung. Diese Übersetzungen aus dem Globalen können im Nationalen immer noch Wirkung zeitigen: Es ist immer noch möglich, von der Ebene des Nationalstaats ins Globale[19] ebenso wie ins Persönliche zu übersetzen und umgekehrt, jedoch mit einigen Bedenken, mitunter mit einigen Fehlzündungen sowie mit vielen Abweichungen und Lücken, die mit anderen unerwarteten Elementen gefüllt werden müssen. Nicht nur Texte, sondern sich verändernde Kontexte müssen übersetzt werden, und ebenso die Phänomenologie der Politik. Klarerweise können wir mit der Welt, wie sie ist, durch die Forderung nach dem Universellen allein oder jene nach dem Partikularen allein nicht zurechtkommen. Widerstandsbewegungen bzw. Frauen forderten beides – und keines reichte aus. Wenn wir die Beziehung neu entwerfen, die die Bedeutung der Universalität ist, so werden wir uns möglicherweise einer Untersuchung der universellen Singularität zuwenden wollen. Balibar hat dazu gearbeitet, und in sehr verschiedener Weise auch Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Alain Badiou und andere. Wie kann die Schließung öffentlicher, sozialer und politischer Räume überwunden werden? Eine der wichtigsten Fragen ist heute die nach einem politischen Verständnis von Migrationsbewegungen, die Frage nach dem politischen Umgang mit diesen Bewegungen[20] sowie danach, wie wir – auch in unserer Wahrnehmung und Analyse – die politische Subjektivität von einer imaginären Identität entkoppeln können. Ich habe das Konzept der fehlenden BürgerInnen[21] vorgeschlagen, um eine Klasse sichtbar zu machen: etwa die fehlenden BürgerInnen von Europa oder Australien, die im Meer Ertrunkenen oder die Zurückgestoßenen, die positiv als eine Kategorie zu verstehen sind (jene, die einen Beitrag zu unseren Kollektivitäten hätten leisten können, dies aber wegen unserer Dummheit und Kurzsichtigkeit nicht tun konnten). Mehr oder weniger radikale theologische, revolutionäre oder theoretische Lösungen sind diesbezüglich vorgeschlagen worden, aber sie schienen – abgesehen von der Tatsache, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen – das Paradox nicht aufzulösen. Vielleicht weil sie die Frage nach einer Neufassung des Universellen nicht angepackt haben? „Radikale“ Lösungen in der Theorie, die von der sicheren Seite der Universitätsgelände her ihren Ausgang nahmen und sich von politischen Bewegungen fernhielten, brachten mitunter leere Beschreibungen und Aufzählungen hervor. Nationen sowie alle möglichen mehr oder weniger ethnisierbaren „Identitäten“, die behaupten, Opfer zu sein (meine Opferrolle gegen deine), erstarren und werden vermittels der Strukturierung eines sehr komplexen und immer erneuerten Netzwerks reziprok gestützter Hierarchien hergestellt. Aus diesem Grund führt die Beseitigung einer Ungerechtigkeit niemals zum Verschwinden aller Ungerechtigkeiten, werden doch neue Ungleichheiten ständig reproduziert. Und aus diesem Grund ist Babel unsere Bedingung.
[1] Viviane Alleton, „Traduction et conceptions chinoises du texte écrit“, in: Etudes chinoises XXIII, 2004. [2] Meredith E. Abarca, Voices in the Kitchen. Views of Food and the World from Working Class Mexican American Women, Texas: Texas A&M University Press 2006. [3] Rada Iveković, „Resisting Absolute Translation Like the Rhinoceros / Résister à la traduction absolue comme le rhinocéros“, in: Livraisons 8, 2007. [4] Das Wenige, das ich darüber weiß, entnehme ich dem Text von Dongchao Min, „Übersetzung als Grenzüberschreitung: Eine Fallstudie zu den Übersetzungen des Wortes ‚Feminismus‘ ins Chinesische durch die CSWS [Chinese Society for Women Studies]“ (übers. v. Hito Steyerl) sowie anderen Texten aus dem Webjournal transversal, 11/2007, „translating violence“ (http://eipcp.net/transversal/1107). [5] Huen Tsang bzw. Huanzang (玄奘), 7. Jh. nach westlicher Zeitrechnung, reiste von China nach Indien und war der erste bekannt gewordene Übersetzer buddhistischer Schriften. [6] Nicole Lorraux, Les enfants d’Athéna, Paris: Seuil 1990; La Cité divisée: L’oubli dans la mémoire d’Athènes, Paris: Payot 2005. [7] Anm. d. Übers.: Teilung der Vernunft; vgl. dazu auch Rada Iveković, „Grenzen übersetzen. Schranken des Nationalismus, Transnationalismus und Translationismus“, übers. v. Birgit Mennel u. Tom Waibel, in: translate/eipcp (Hg.), Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, Wien: Turia + Kant 2008, bzw. transversal, 06/2008, „borders, nations, translations“ (http://translate.eipcp.net/transversal/0608). * Im Original Deutsch; Anm. d. Übers. * Im Original Deutsch; Anm. d. Übers. [8] Vgl. Marcos, Cuarta declaración de la selva lacandona, [Vierte Deklaration aus dem lakedonischen Urwald]: „el mundo que queremos es uno donde quepan muchos mundos“ (http://www.ezln.org/documentos/1996/19960101.es.htm). [9] Daniel Heller-Roazen, „La langue, l’écho, l’oubli“, Interview in Le Monde, 27. April 2007, S. 12; vgl. dazu Daniel Heller-Roazen, Echolalien. Über das Vergessen von Sprache, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. [10] Obwohl die trennscharfe Unterscheidung zwischen Monotheismus und Polytheismus sehr problematisch ist, wie jede Indologin weiß, können wir diese in anderen Zusammenhängen äußerst wichtige Überlegung dennoch für den Moment beiseite lassen. [11] Clarisse Herrenschmidt, „Livre“, Interview in Libération, 31. Mai 2007; vgl. dazu auch dies., Les Trois Ecritures: Langue, Nombre, Code, Paris: Gallimard 2007. [12] Ich betone, dass die zwei von mir in diesem Satz verwendeten Bedeutungen von „positiv“ sich offensichtlich voneinander unterscheiden. [13] Über das von C. Herrenschmidt behauptete Fehlen von über Geldbeschriftungen erfolgenden Zahlenstandardisierungen in Indien und China kann ich nichts sagen, da ich nichts darüber weiß: Aber wenn die InderInnen die Schrift nicht dazu verwendeten, um die Veden zu memorieren, und wenn sie diese auch nicht zur Beschriftung von Münzen verwendeten, welche die Zahlen materialisierten (während sie zugleich „arabische“ Ziffern erfanden) – wozu wurde sie dann eigentlich verwendet? Sie verwendeten sie offenkundig für kommerzielle und alltägliche Zwecke, für Nachrichten; handelte es sich nur um Aufzählungen von Handelswaren? Sie verwendeten auch Münzen. Ich versuche, den Sinn all dessen zu erfassen; es handelt sich um Dinge, die ich nicht genau weiß und mit denen ich mich weiter beschäftigen sollte. [14] Etienne Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, übers. v. Thomas Laugstien, Hamburg: Hamburger Edition 2006; vgl. dazu das letzte Kapitel, „Die Universalismen“, S. 281 ff.; vgl. außerdem ders., „Sub specie universitas“, in: Topoi. An International Review of Philosophy, 25, September 2006, Niederlande: Springer Verlag, S. 3–16, sowie ders., „Universalismus. Diskussion mit Alain Badiou“, übers. v. Therese Kaufmann, transversal, 06/2007, „universalismus“, http://translate.eipcp.net/transversal/0607/balibar/de. [15] … „explication commune à ce qui nous arrive“ (C. Herrenschmidt). [16] Vania Baldi, Appartenenze sconosciute. Politiche della traduzione culturale, Rom: ER 2007. [17] Yann Moulier-Boutang, Capitalisme cognitif, Paris: Editions Amsterdam 2007. [18] André Chevrillon, Trois études sur la littérature anglaise, Paris: Plon 1921. [19] Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton, Oxford: Princeton University Press 2006. [20] Sandro Mezzadra, Diritto di fuga, Verona: Ombre corte 2002; erweiterte Ausgabe 2007. [21] Vgl. hierzu meinen Text „Grenzen übersetzen. Schranken des Nationalismus, Transnationalismus und Translationismus“ (a. a. O.). * Im Original Deutsch; Anm. d. Übers. |
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