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10 2005

Einige Fragmente über Maschinen

Gerald Raunig

Der folgende Text ist eine Vorarbeit zu einem Buch zur Theorie der Maschine, das im Frühjahr 2008 in der Reihe "Es kommt darauf an" bei Turia+Kant erscheinen wird. Zuerst veröffentlicht wurde er in: grundrisse 17, 41-49.

 

"In der Geschichte der Philosophie hält man das Problem der Maschine allgemein für einen zweitrangigen Bestandteil einer allgemeineren Frage, jener der techne, der Techniken. Ich möchte hier eine Umkehrung der Sichtweisen vorschlagen, in der das Problem der Technik zur Teilmenge einer viel umfassenderen maschinischen Problematik wird. Diese ‚Maschine’ ist auf das Außen und auf ihre maschinische Umwelt geöffnet und unterhält alle Arten von Beziehungen zu sozialen Komponenten und individuellen Subjektivitäten. Es geht also darum, das Konzept der technologischen Maschine zu dem der maschinischen Gefüge zu erweitern ..."[1]

Félix Guattari beschreibt hier in wenigen Worten die Extensivierung eines der zentralsten und zugleich am häufigsten unverstandenen Begriffe seiner heterogenen Theorieproduktion. Die Maschine ist wie viele Begrifflichkeiten in der Guattari’schen Begriffsschmiede mit voller Absicht weit vom Alltagsgebrauch entfernt worden. Diese Praxis der Begriffsverbiegung und Begriffserfindung führt in der theoretischen Rezeption sowohl zum weithin verbreiteten, polemischen Hippie-Vorwurf an Guattari (und seinen Kollegen Gilles Deleuze)[2], als auch bei gutwilligerer Auslegung zu interessierter Ratlosigkeit in Bezug auf den Maschinenbegriff.[3] Dabei ist die Umdeutung des Maschinenbegriffs gar nicht derart neu und radikal, um sie allein auf die Fahnen der französischen Poststrukturalisten zu heften. Schon zur Zeit der endgültigen Ausbreitung der industriellen Revolution über Europa findet sich bei Karl Marx in den 1857/58 entworfenen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie mit dem „Fragment über Maschinen“[4] eine deutliche Bewegung in jene Richtung, die Guattari zu einem verallgemeinerten Maschinendenken brachte.

Marx entwickelt in diesem Abschnitt der Grundrisse seine Überlegungen zur Verwandlung des Arbeitsmittels vom einfachen Werkzeug (das Guattari Proto-Maschine nennen wird) in eine dem capital fixe entsprechende Form, also in technische Maschinen und „Maschinerie“. Neben dem zentralen Begriff der Maschine, dem Marx im Kapital später wesentlich breiteren Raum widmen sollte, wird hier am Rand auch ein zweiter Begriff verhandelt, der für eine weitere postmarxistische Theorieströmung von größerem Belang ist. Das von Marx als Nebenbegriff eingeführte Konzept des General Intellect war expliziter Ausgangspunkt der italienischen (Post-)OperaistInnen u.a. für ihre Überlegungen zur Massenintellektualität und immateriellen Arbeit.[5] Die gegenseitigen Bezugnahmen zwischen französischem Poststrukturalismus und italienischem Postoperaismus sind zwar im allgemeinen ebenso mannigfaltig, wie sich beide Strömungen auf Marx beziehen und sich zugleich von ihm abgrenzen, der konkrete Bezug zwischen den zwei Aspekten des kleinen Marx-Fragments (Maschine–General Intellect) geht jedoch auf beiden Seiten verloren.[6]

 
Maschinen bei Marx

Im allgemeinen ist die Maschine bei Marx lapidar „Mittel zur Produktion von Mehrwert“[7], also keineswegs dazu vorgesehen, die Mühen der ArbeiterInnen zu verringern, sondern vielmehr dazu, ihre Ausbeutung zu optimieren. Marx beschreibt diese Funktion der „Maschinerie“ im 13. Kapitel des Kapitals an den drei Aspekten der Ausweitung der als Arbeitskraft einsetzbaren Menschen (vor allem Frauen- und Kinderarbeit), der Verlängerung des Arbeitstags und der Intensivierung der Arbeit. Die Maschine erscheint aber auch als immer neuer Effekt immer neuer Streiks und Proteste der ArbeiterInnen, denen das Kapital nicht nur direkte Repression, sondern vor allem neue Maschinen entgegenstellt.[8]

Im „Fragment über Maschinen“ geht es Marx vor allem um die negativen Aspekte einer historischen Entwicklung, an deren Ende die Maschine im Gegensatz zum Werkzeug keineswegs als Arbeitsmittel der einzelnen ArbeiterIn zu verstehen ist: Sie schließt vielmehr das Wissen und Geschick von ArbeiterInnen und WissenschafterInnen als objektiviertes in sich ein und steht den zerstreuten ArbeiterInnen als beherrschende Macht gegenüber.

Nach Marx ist gerade die Teilung der Arbeit die Vorbedingung für das Entstehen von Maschinen. Erst nach der Verwandlung der Arbeit in eine noch immer menschliche, aber zunehmend mechanische, mechanisierte war die Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese mechanischen Verrichtungen der ArbeiterInnen in einem weiteren Schritt von der Maschine übernommen wurden: „In den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen, durchläuft das Arbeitsmittel aber verschiedne Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie (System der Maschinerie; das automatische ist nur die vollendetste adäquateste Form derselben und verwandelt die Maschinerie erst in ein System), in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so daß die Arbeiter selbst nur als bewußte Glieder desselben bestimmt sind.“[9]

Diese Marx-Stelle weist aus, dass die Maschine selbst als rein technische nicht nur als Automat, als Apparat, als Struktur, im letzten Stadium der Entwicklung des Arbeitsmittels die ArbeiterInnen strukturalisiert und einkerbt, sondern dass sie zugleich von mechanischen und intellektuellen Organen durchzogen ist, durch die sie sukzessive weiterentwickelt und erneuert wird.

Zum einen formuliert Marx hier also die Entfremdung der ArbeiterInnen von ihren Arbeitsmitteln, ihre (Fremd-)Bestimmtheit durch die Maschinen, die Beherrschung der lebendigen Arbeit durch die vergegenständlichte, und führt die Figur des umgekehrten Verhältnisses von Mensch und Maschine ein: „Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt [nämlich die Maschine vor Störungen zu bewahren], ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt. Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschinerie zwingt durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschine als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst.“[10] Die Umkehrung des Verhältnisses von ArbeiterInnen und Arbeitsmitteln hin zur Herrschaft der Maschine über den Menschen wird hier nicht nur über die Hierarchie im Arbeitsprozess definiert, sondern auch als Umkehrung der Bestimmung über Wissen verstanden. Durch den Prozess der Objektivierung der Wissensformen in der Maschine verlieren die ProduzentInnen dieses Wissens die ungeteilte Kompetenz und die Macht über den Arbeitsprozess, die Arbeit selbst erscheint als aufgeteilte, zerstreute, an vielen Punkten des mechanischen Systems in einzelnen lebendigen Arbeitern. „Das Wissen erscheint in der Maschinerie als fremdes außer ihm [dem Arbeiter]; und die lebendige Arbeit subsumiert unter die selbständig wirkende vergegenständlichte.“[11]

Schon beim Marx des Maschinenfragments ist die gewaltige, selbsttätige Maschine allerdings mehr als ein technischer Mechanismus. Die Maschine erscheint hier nicht nur auf ihre technischen Aspekte beschränkt, sondern als mechanisch-intellektuelles-soziales Gefüge: Technik und Wissen (als Maschine) wirken zwar einseitig auf die ArbeiterInnen, die Maschine aber ist nicht nur eine Verkettung von Technik und Wissen, von mechanischen und intellektuellen Organen, sondern darüberhinaus auch von sozialen Organen, insofern sie die Koordination der zerstreuten ArbeiterInnen betreibt.

In der Maschine zeigt sich damit schließlich auch die Kollektivität des menschlichen Intellekts. Maschinen sind „von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.“[12] Auf die Bedeutung des General Intellect komme ich noch weiter unten zurück, an dieser Stelle soll der Aspekt betont werden, dass Produktivkraft nicht nur neuen technischen Maschinen entspricht, ja auch nicht bloß der Verkettung aus „mechanischen und intellektuellen Organen“, sondern auch und vor allem dem Verhältnis der ProduzentInnen zueinander und zum Produktionsprozess. Nicht nur das Innere der technischen Maschine ist dabei von mechanischen und intellektuellen Linien durchzogen, auch nach außen hin zeigen sich soziale Verknüpfungen und Verhältnisse, die zu Komponenten der Maschine werden. Im Maschinenfragment finden sich also bereits nicht nur die Thesen, dass Wissen und Geschick als „allgemeine Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns“[13] im capital fixe akkumuliert und absorbiert sind und dass der Prozess der Verwissenschaftlichung der Produktion eine Tendenz des Kapitals ist, sondern auch der Hinweis zur Umkehrung dieser Tendenz: Die Verkettung von Wissen und Technik erschöpft sich nicht im fixen Kapital, sondern verweist auch über die technische Maschine und das in ihr objektivierte Wissen hinaus auf soziale Kooperation und Kommunikation.

 
Wenn das Theater Maschine wird …[14]

Im Moskauer Ersten Arbeiter-Theater entwickeln – aufbauend auf frühen Versuchen der Masseninszenierung, der Biomechanik und der konstruktivistischen Bühnenmechanisierung durch Vsevolod Meyerhold – Sergej Eisenstein und Sergej Tretjakov zwischen 1921 und 1924 das “exzentrische Theater” und die “Montage der Attraktionen”, aus der später getrennte Versionen von produktionskünstlerischen Strategien in Film, Theorie und operativer Literatur hervorgehen. Die Einbeziehung von Elementen des Zirkus, der Revue, des Films bedeutete auch in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre noch einen Angriff auf die reine Praxis des bürgerlichen Theaters, vollzogen vor allem durch das Mittel der “At­traktion”: Im “Theater der Attraktionen” geht es um aggressive und körperliche Momente des Theaters, deren Wirkung den Mechanismus von Illusion und Einfühlung stören soll. Die Montage der Attraktionen bedeutet dabei nicht eine effekthascherische Akkumulation von Tricks und Kunststücken, sondern die Weiterentwicklung von Zirkus- und Varieté-Elementen für ein materialistisches, “naturwissenschaftliches” Theater. Aus dem Zirkus übernimmt das Proletkult-Theater die Artistik, aber auch die Fragmentierung durch seine Nummernstruktur, die Aneinanderreihung “von nicht durch ein Sujet miteinander verbundenen Einzelattraktionen”[15]: Aus diesem scheinbaren Mangel der Unverbundenheit wird bei Eisenstein und Tretjakov eine Waffe gegen die Einfühlung. Gegen die Totalität des Sujets montieren und molekularisieren sie das Stück als Stückwerk einzelner Attraktionen. Eisenstein schreibt: “Eine Attraktion im formalen Sinne bestimme ich als selbständiges und primäres Konstruktionselement einer Aufführung – als die molekulare (d.h. konstitutive) Einheit der Wirksamkeit des Theaters und des Theaters überhaupt.”[16] Die Attraktion ist insofern mehr als eine Zirkusnummer, sie ist eine Situation, die als molekulare Singularität die Konflikte enthält. Eisenstein und Tretjakov wollen eine Kollision mit dem Publikum herstellen.

Das Theater der Attraktionen verbirgt diesen Angriff auf das Publikum als “Hauptmaterial des Theaters”[17] nicht. Gegen das Theater der Illusionen, das das Publikum pseudo-partizipatorisch zum Miterleben einlädt, will es einen Prozess der zerstückelten Erregung etablieren. Der Aspekt der Montage bestimmt dabei nicht nur die Makrostruktur des Stückwerks, sondern betrifft auch die Komposition der einzelnen Attraktion. “Die Schauspieler, die Dinge, die Töne sind nichts anderes als Elemente, aus denen sich eine Attraktion aufbaut”[18]: ein Gefüge von SpielerInnen, die nicht darstellen, sondern arbeiten – und von Dingen: konstruktiven Gerüsten und Gegenständen, mit denen die SpielerInnen arbeiten, anstelle von Dekoration und Requisiten.[19] “Die illusorische Theaterhandlung wird als eine innerlich zusammenhängende Erscheinung betrachtet; hier aber haben wir die bewusste Einstellung auf Unabgeschlossenheit und auf eine große Aktivität des Zuschauers, der sich in den verschiedenartigsten Erscheinungen, die vor ihm ablaufen, orientieren können muss.”[20]

Tretjakov deutet in seinem Begriff vom Theater als Maschine an, in welche Richtung das Verhältnis der Menschmaschinen, der technischen Maschinen und der sozialen Maschinen gehen sollte: “Die Arbeit am szenischen Material, die Umwandlung der Bühne in eine Maschine, die die Arbeit des Schauspielers möglichst breit und vielgestaltig zu entfalten hilft, findet dann ihre soziale Rechtfertigung, wenn diese Maschine nicht nur ihre Kolben bewegt und einer bestimmten Arbeitsbelastung standhält, sondern auch eine bestimmte nützliche Arbeit auszuführen und den laufenden Aufgaben unserer Revolutionszeit zu dienen beginnt.”[21] Über den ästhetisierenden Einsatz von technischen Maschinen und Konstruktionen als Dekoration hinaus wird versucht, die Bühnenmaschinerie des Theaters als Modell der Technisierung transparent zu machen und fließende Übergänge zwischen technischen Maschinen und den konstruktiven Gerüsten und Bühnenaufbauten zu erzeugen. Über Meyerholds Biomechanik hinaus, die die exakte Selbstbeherrschung des menschlichen Körpers als Maschine trainierte, aber leicht zur getanzten Plastik verkam, werden die SpielerInnen Elemente der Attraktion. Und schließlich wird auch über tayloristische Vorstellungen von der wissenschaftlichen Verwaltung der Arbeit und der simplen Umkehrung des Mensch-Maschine-Verhältnisses eine Verkettung der technischen Maschinen (der Dinge), der Körper der SpielerInnen und der sozialen Organisation aller Betei­ligten, auch des Publikums, erarbeitet. Diese Überlegungen zum Ineinandergreifen von technischen und sozialen Gefügen im Theater der Attraktionen bleiben nur oberflächlich einem “Theater des wissenschaftlichen Zeitalters” verpflichtet, der Versuch, derart komplexe Maschinen, wie sie Eisenstein und Tretjakov entwerfen, auch zu “berechnen”, geht über ein Verhältnis der Äußerlichkeit von technischen Maschinen und sozialen Kollektiven sowie über rein mathematisch-technische Überlegungen weit hinaus.

Eisenstein beschreibt die Attraktion als ausschließlich auf etwas Relativem basierend, auf der Reaktion der ZuschauerInnen. An die Stelle der Darstellung einer aufgrund des Sujets vorgegebenen Situation und deren Entwicklung und Auflösung durch Kollisionen, die logisch mit dieser Situation verbunden, dem Psychologismus des Sujets untergeordnet sind, tritt die freie Montage autonomer Attraktionen, die auf einen bestimmten Endeffekt hin montiert werden und damit eine Arbeit am Publikum ausführen. Eisenstein und Tretjakov wollen die Ordnung der Emotionen ändern, sie anders organisieren. Das Publikum soll Teil jener Maschine werden, die sie das Theater der Attraktionen nannten. Sie wollen durch “experimentelle Überprüfung” und “mathematische Berechnung” “bestimmte emotionelle Erschütterungen” beim Publikum erzeugen[22].

Die Betonung liegt hier auf bestimmte emo­tio­nelle Erschütterungen: Im Gegensatz zum totalen Emotions­ma­na­ge­ment im bürgerlichen Theater bedeutet das eine utilitär bestimmte und genau abgezirkelte Erregung durch exakt montierte Impulse. Dieser Versuch “exakter Berechnung” von Emotionen ist der Versuch, gegen die bürgerliche Strategie der ästhetischen Fiktion die zitierte Realität der Zeichen, die Körperarbeit der SpielerInnen und die Körper des Publikums in ihrer Wechselwirkung zu steuern und zu überprüfen. Dabei ist genau zwischen den Mitteln des alten und des neuen Theatermodells zu unterscheiden. Im bürgerlichen Theater­jargon würde zwar die Theateraufführung nicht explizit als “Prozess der Bearbeitung des Publikums mit den Mitteln der Theaterwirkung”[23] definiert, implizit jedoch läuft auch die Absicht der “ästhetischen Erziehung” auf Ähnliches hinaus. Das Theater der Attraktionen jedoch will sein Publikum berechnen. Das bedeutet auch, dass die Attraktionen je nach Publikum berechnet werden, also jede Aufführung neuer Überlegungen bedarf, ja, dass die Aufführung ihren Zweck im Publikum, ihr Material in dessen Lebenszusammenhang findet. Wie weit die Berechnungsexperimente Eisensteins und Tretjakovs gingen, ist nicht bekannt; es wurden Umfragen unter den ZuschauerInnen veranstaltet, deren Reaktionen genau beobachtet und die Erkenntnisse säuberlich ausgewertet. Dass ihre Berechnungen mit einer be­achtlichen Ziel-Folgen-Differenz kalkulieren mussten/wollten, jedenfalls mit einer weit größeren Unkontrollierbarkeit als die Aufführungspraxen des 19. Jahrhunderts, lag nicht nur an den neuen für das Theater gewonnenen Publikumsschichten, sondern auch am experimentellen Format der Attraktion.

Die Aufführungen von Tretjakovs Hörst du, Moskau?! müssen in diesem Zusammenhang Ende 1923 einen Höhepunkt bezeichnet haben, an dem es zu teilweise tumultuarischen Situationen im Theater kam.[24] Als extrem schnell geschriebenes, organisiertes und produziertes Mobilisierungs- und Agita­tions­stück für eine mögliche deutsche Revolution im Gefolge des Ham­bur­ger Aufstands Ende Oktober 1923 wurde es am 6. Jahrestag der Ok­tober­re­volution, am 7. November 1923, uraufgeführt. Oberflächlich besehen scheiterte das Stück von Eisenstein und Tretjakov, vor allem weil die Revo­lution bekanntlich ausblieb. Al­lein im konkreten Aufführungszusammenhang der sozialistischen Gesell­schaft in Moskau sollte diese Revolutionsdarstellung allerdings eine andere Wirkung zeitigen als in einer revolutionären Situation. Die steigernd montierten Attraktionen wurden von Tretjakov und Eisenstein derart akzentuiert eingesetzt, dass sich im Publikum mehr und mehr Erregung ausgebreitet haben muss: Sich häufende Zwischenrufe, zur Waffe greifende Zuschauer und Raufereien mit Komparsen, die sich in gespielte Kämpfe einmischten, dürften ein eindrucksvolles Chaos erzeugt haben. Und nicht nur im Theater sollen die aufgebrachten ZuschauerInnen heftig reagiert haben, sondern auch danach noch auf den Straßen Moskaus: “[...] anschließend zogen sie, wild gegen die Schaufensterauslagen fuchtelnd und Lieder singend, durch die Straßen.”[25]

Es wird wohl offen bleiben müssen, wie weit das Theater der Attraktionen mit der oben beschriebenen Spontaneität auch jenseits des Theaterraums “rechnen” wollte. Die Berechnung des Publikums mag durchaus so weit gegangen sein, auch Chaos und Tumult einplanen, berechnen und evaluieren zu wollen. Eisenstein und Tretjakov verschoben die Theatermaschine jedenfalls gerade mit ihren Forderungen nach exakter sozialer Aufgabenstellung und Wissenschaftlichkeit auf ein derart schwankendes Terrain, das so bald keine andere künstlerische Praxis erreichen sollte.

 
Die Neu-Erfindung des Maschinenbegriffs

Im „Appendix“ zum Anti-Ödipus entwickeln Gilles Deleuze und Félix Guattari nicht nur eine „Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen“[26], sondern schreiben in Auseinandersetzung mit Marx’ Überlegungen zur Maschinerie[27] ihren eigenen Maschinenbegriff. Dabei geht es um eine Erweiterung oder Erneuerung des Begriffs, keineswegs um die Metaphorisierung der Maschine. Deleuze und Guattari etablieren keinen „übertragenen Sinn“ der Maschine, sondern versuchen in kritischer Distanz sowohl zur Alltagsbedeutung als auch zur marxistischen Forschung den Begriff neu zu erfinden: „Nicht vom metaphorischen Gebrauch des Wortes Maschine gehen wir aus, sondern von einer (unklaren) Hypothese über ihre Entstehung: der Art und Weise, wie beliebige Elemente durch Rekursion und Kommunikation dazu gebracht werden, Maschine zu sein.“[28]

Marx’ Maschinentheorie wird hier fürs erste unter der Chiffre „jenes klassische Schema“ eingeführt und erst im dritten und letzten Teil des Appendix explizit benannt.[29] Während Marx im dreizehnten Kapitel des Kapitals einigermaßen ausgedehnt der Frage nachging, „wodurch das Arbeitsmittel aus einem Werkzeug in eine Maschine verwandelt wird oder wodurch sich die Maschine vom Handwerksinstrument unterscheidet“[30], greifen Deleuze/Guattari gerade die lineare Konzeption der ersten Frage als in vieler Hinsicht unzulänglich an. Sie hinterfragen damit weniger die immanente Logik der bei Marx beschriebenen Verwandlung der Maschine, als vielmehr den dieser Logik zu Grunde gelegten Rahmen, der von Marx vorausgesetzt wird, eine allen gesellschaftlichen Formen gemeinsame Dimension von Mensch und Natur. Die lineare Entwicklung vom Werkzeug (als Verlängerung des Menschen zu dessen Entlastung) hin zu einer Umwälzung, in deren Verlauf die Maschine sich schließlich gleichsam vom Menschen unabhängig macht, determiniert die Maschine zugleich als punktuellen Aspekt in einer mechanischen Reihe. Ein solches Schema, „humanistischen Geistes und abstrakt“, isoliert vor allem die Produktivkräfte von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Anwendung.

Jenseits dieses evolutiven Schemas gedacht ist die Maschine nicht mehr nur Funktion in einer vom Werkzeug aus gedachten Reihe, die an einem bestimmten Punkt auftritt. Ähnlich wie der techne-Begriff der Antike schon beides meinte: materielles Objekt und Praxis, ist auch die Maschine nicht allein Arbeitsmittel, in dem gesellschaftliches Wissen absorbiert und verschlossen wird, sie öffnet sich in je verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verschiedenen Verkettungen, Konnexionen, Koppelungen: „Nicht Mensch noch Natur sind mehr vorhanden, sondern einzig Prozesse, die das eine im anderen erzeugen und die Maschinen aneinanderkoppeln.“[31]

Statt Werkzeug und Maschine in eine Reihe zu setzen, geht es – die Fragerichtung von Deleuze/Guattari entspricht der zweiten Frage von Marx nach der Unterscheidung von Maschine und Werkzeug – um eine grundsätzlichere Differenzierung. Diese Unterscheidung könnte durchaus auch in der Form einer anderen Genealogie als der bei Marx ausgeführt werden, etwa einer auf vorneuzeitliches Verständnis der „machina“ zurückgreifenden, in dem die Trennung von Organischem und Mechanischem noch keine Relevanz hatte. Im Anti-Ödipus wird diese Differenz jedoch begrifflich/theoretisch abgehandelt: die Maschine ist Kommunikationsfaktor, das Werkzeug – zumindest in seiner nicht-maschinischen Form – im Gegensatz dazu kommunikationslose Verlängerung oder Prothese. Umgekehrt ist das konkrete Werkzeug in seinem Gebrauch des Austausches/der Konnexion mit dem Menschen immer schon mehr Maschine als die isoliert gedachte technische Maschine: „Mit etwas anderem zu einem Stück zu werden, bedeutet etwas grundsätzlich anderes als sich zu verlängern, sich projizieren oder ersetzen zu lassen.“[32]

Diese Abgrenzung der Maschine von etwas, das den Menschen einfach verlängert oder ersetzt, beschreibt nicht nur die Verweigerung von Deleuze und Guattari, die gängige Figur der Herrschaft der Maschine über den Menschen zu affirmieren. Sie setzt auch eine Differenz zu allzu einfacher und fröhlicher Feier einer bestimmten Form von Maschine, wie sie vom Futurismus bis zu Cyberfans in immer neuen Kombinationen der „Mensch-Maschine“ gerade das Soziale auszublenden droht.[33] Das Narrativ von der Anpassung des Menschen an die Maschine, der Ersetzung des Menschen durch die Maschine verfehlt nach Deleuze/Guattari das Maschinische, sowohl in seiner kritischen, marxistischen Ausformung, als auch in seiner euphorischen Tendenz. „Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen und Ersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren.[34] Die „anderen Dinge“ mögen Tiere, Werkzeuge, andere Menschen, Aussagen, Zeichen oder Wünsche sein, sie werden Maschine jedoch nur in einem Prozess des Austausches, nicht im Paradigma der Ersetzung.

Man nehme jene Fabel aus dem Dritten Polizisten von Flann O’Brien, in der der irische Autor genaue Rechnungen aufstellt, zu welchem Zeitpunkt aufgrund des Fließens der Moleküle die Menschen auf Fahrrädern zu welchem Prozentsatz zu Fahrrädern geworden sind, und umgekehrt Fahrräder zu Menschen – mit all den Problemen, die sich daraus ergeben, dass nämlich Menschen umfallen, wenn sie sich nicht an Wände anlehnen oder dass Fahrräder menschliche Züge annehmen. Für eine Untersuchung über die Maschine geht es hier aber gerade nicht um die sich verändernden Quantitäten der Identitäten beiderseits (20% Fahrrad, 80% Mensch oder – schon bedenklicher – 60% Fahrrad, 40% Mensch), sondern um den Austausch und das Fließen der maschinischen Singularitäten und um deren Verkettung mit anderen, gesellschaftlichen Maschinen: „Dagegen meinen wir, dass die Maschine in einem unmittelbaren Bezug zu einem gesellschaftlichen Körper und keineswegs zu einem humanbiologischen Organismus begriffen werden muss. Dies zugestanden, geht es nicht mehr an, die Maschine als neues Segment zu beurteilen, das, jener Entwicklung entsprechend, die ihren Anfangspunkt im abstrakten Menschen setzt, auf das Werkzeug folgt. Denn Mensch und Werkzeug sind schon Maschinenteile auf dem vollen Körper der jeweiligen Gesellschaft. Die Maschine ist zunächst eine gesellschaftliche, konstituiert durch die maschinenerzeugende Instanz eines vollen Körpers sowie durch die Menschen und Werkzeuge, die, insofern sie auf diesem Körper verteilt sind, maschinisiert werden.“[35] Deleuze und Guattari verschieben also die Perspektive von der Frage, in welcher Form die Maschine auf einfachere Werkzeuge folgt, Menschen und Werkzeuge maschinisiert werden, auf jene, welche gesellschaftliche Maschine das Auftreten spezifischer technischer, affektiver, kognitiver, semiotischer Maschinen und deren Verkettungen möglich und zugleich notwendig machen.

Hauptmerkmal der Maschine ist das Strömen ihrer Komponenten: Jede Verlängerung oder Ersetzung wäre eine Kommunikationslosigkeit, und die Qualität der Maschine ist genau umgekehrt jene der Kommunikation, des Austausches, der Offenheit. Im Gegensatz zur Struktur, zum Staatsapparat, die zur Schließung tendieren, entspricht das Maschinische einer tendenziell permanenten Öffnung. Guattari hat vom 1969 geschriebenen Text „Maschine und Struktur“ bis zum 1992 veröffentlichten Text „Machinic heterogenesis“ immer wieder auf die unterschiedliche Qualität von Maschine und Struktur, Maschine und Staatsapparat[36] hingewiesen: „Die Maschine hat etwas mehr als die Struktur.“[37] Sie beschränkt sich nicht auf die Verwaltung und Einkerbung von gegeneinander abgeschlossenen Entitäten, sondern öffnet sich anderen Maschinen und bewegt mit ihnen maschinische Gefüge. Sie besteht aus Maschinen und durchdringt mehrere Strukturen gleichzeitig. Sie hängt ab von äußeren Elementen, um überhaupt existieren zu können. Sie impliziert eine Komplementarität nicht nur mit dem Menschen, der sie fabriziert, funktionieren lässt oder zerstört, sondern ist für sich in einem Verhältnis der Alterität mit anderen virtuellen oder aktuellen Maschinen.[38]

Neben dieser theoretischen Annäherung an einen zugleich indifferenten und ambivalenten Maschinenbegriff im Anti-Ödipus und einigen Guattari-Texten älteren und neueren Datums gilt es allerdings, den historischen Kontext einer normativen Wendung zum Maschinischen nicht auszuklammern. Guattari hat schon in den späten 1960ern begonnen, seinen Maschinenbegriff zu entwickeln, und zwar vor dem politischen Hintergrund linker Organisierungsversuche. Diese Unternehmen waren vorerst gegen die harte Segmentarität der realsozialistischen und eurokommunistischen Staatslinken gerichtet, wurden anhand der Erfahrungen diverser subkultureller und mikropolitischer Praxen weiter untersucht, im Fall Guattaris vor allem anhand der antipsychiatrischen Praxis, und mündeten schließlich auch nach 1968 in angestrengte Bemühungen, gegen Strukturalisierung und Schließung der 68er in Kadern, Splitterparteien und Zirkeln aufzutreten und anzudenken.

Das Problem, das Guattari schon in seinem knapp nach der Erfahrung von 1968 geschriebenen ersten Maschinen-Text verhandelt, ist das Problem einer andauernd revolutionären Organisation: „das der Einrichtung einer institutionellen Maschine, die sich durch eine besondere Axiomatik und eine besondere Praxis auszeichnet; gemeint ist die Garantie, dass sie sich nicht in den verschiedenen Sozialstrukturen verschließt, insbesondere nicht in der Staatsstruktur, die scheinbar den Grundstein der herrschenden Produktionsverhältnisse bildet, obwohl sie den Produktionsmitteln nicht mehr entspricht.“[39] Sowohl die „herrschenden Produktionsverhältnisse“ als auch die aktuellen Formen von Widerstand haben maschinische Form angenommen, und Strukturalisierung und Schließung als Geste des (Selbst-)Schutzes gehen an diesem Faktum vorbei. Maschinische Institutionen können nicht die Formen des Staatsapparats reproduzieren, jene, die das Paradigma der Repräsentation vorsieht, sie müssen neue Formen von „instituierenden Praxen“ erfinden: „Das revolutionäre Vorhaben als ‚Maschinentätigkeit’ einer institutionellen Subversion müsste solche subjektiven Möglichkeiten aufdecken und sie in jeder Phase des Kampfes im voraus gegen ihre ‚Strukturalisierung’ absichern. Aber ein solches permanentes Erfassen der auf die Strukturen wirkenden Maschineneffekte könnte sich nicht mit einer ‚theoretischen Praxis’ zufriedengeben. Es verlangt die Entwicklung einer spezifischen analytischen Praxis, die jede Stufe der Kampforganisation unmittelbar betrifft.“[40]

 
General Intellect und die Maschine des EuroMayday

Vieles von dem, was Guattari in seinen Überlegungen über die Maschine vor dem Hintergrund der Erfahrung um den Mai 1968 formuliert hat, aktualisiert sich in den letzten Jahren – vielleicht stärker als während der 1960er und 1970er Jahre noch – in den nicht-repräsentationistischen Bewegungsformen, die gegen Migrations- und Grenzregimes, ökonomische Globalisierung und Prekarisierung von Arbeit und Leben aktiv wurden.[41] Letzteres ist vor allem die Thematik der EuroMayday-Bewegung[42], die ausgehend von Milano in den letzten Jahren vor allem die Wiederaneignung des 1. Mai betrieben hat.

In dieser Hinsicht durchaus ähnlich den durch Tretjakovs und Eisensteins Theaterstück „Hörst du, Moskau?“ revolutionär animierten TheaterbesucherInnen ziehen heute auch die EuroMayday-AktivistInnen, ab und zu sogar „wild gegen die Schaufensterauslagen fuchtelnd und Lieder singend, durch die Straßen“. Und zwar durch die Straßen von inzwischen an die zwanzig europäischen Städten, u.a. in London, Kopenhagen, Maribor, Barcelona, Hamburg und Wien.[43] Die Schaufensterauslagen gehen dabei manchmal in Brüche, öfters aber werden sie bemalt, besprayt und mit einer Schicht von neuen Zeichen überzogen.[44] Die EuroMayday-Parades erneuern nicht nur die revolutionären Traditionen des 1. Mai, sondern setzen auch ihre Körper, Bilder, Zeichen und Aussagen gegen die Privatisierung der urbanen Öffentlichkeiten. Derartige Wiederaneignung der Stadt spielt sich durchwegs ohne Bühnen und Podien ab, im Bemühen, dem Paradigma der Repräsentation das Paradigma des Ereignisses entgegenzusetzen.

Aber die Maschine des EuroMayday hat zwei Zeitlichkeiten. Nicht nur die des Ereignisses, sondern auch die lange Zeit der instituierenden Praxis, in der der Zusammenhang der Maschine als Bewegung gegen die Strukturalisierung und der Maschine als „gesellschaftlicher Produktivkraft“ deutlich wird. Die Organisierung für den 1. Mai ist nicht die einzige Dimension der Mayday-AktivistInnen: Über das Jahr finden  – wenn auch beschränkt durch die Wunsch- und Zeitressourcen der Beteiligten – Mikro-Aktionen und diskursive Veranstaltungen statt, regelmäßige Kommunikation auf Mailinglists und Treffen in verschiedenen Städten Europas zum transnationalen Austausch. In diesem Kontext entsteht nicht nur in Europa ein immer dichteres Netz der Problematisierung der Prekarisierung von Arbeit und Leben.

Diese Formierung einer institutierenden Praxis ist allerdings erst im Ansatz zu erkennen, die Bewegung hat, so auch der postoperaistische Philosoph Paolo Virno, „diejenigen Formen des Kampfes, die dazu geeignet sind, die Lage der prekären, befristeten und atypischen Arbeit in subversives politisches Vermögen zu verwandeln, noch nicht ausreichend gebündelt.“[45] Eine derartige Bündelung setzt nun weniger an den alten Formen der Organisierung durch „Staatsapparate“ an, als an der Verkettung maschinischer Bewegungs- und postfordistischer Arbeits- und Lebensformen. In seinen Texten zu dieser Thematik, vor allem in der Grammatik der Multitude, schließt Virno direkt am Maschinenfragment an und am dort en passant von Marx eingeführten Begriff des General Intellect. Sollte in der Epoche der Industrialisierung das gesellschaftliche Wissen auch je völlig in den technischen Maschinen absorbiert gewesen sein, so wäre das im postfordistischen Zusammenhang völlig undenkbar: „Dieser Aspekt ist natürlich von großer Bedeutung, dennoch erschöpft sich die Problematik darin nicht. Man müsste demnach jene Seite des General Intellect in Betracht ziehen, die sich nicht im System der Maschinen verkörpert (oder besser: die nicht Metallgestalt annimmt), sondern diesen zur Wesenseigenschaft der lebendigen Arbeit macht.“[46] Wie postoperaistische Theorie im Anschluss an Guattari formuliert, ist es gerade aufgrund der Logik der ökonomischen Entwicklung selbst notwendig, dass die Maschine nicht als bloße Struktur verstanden wird, die die ArbeiterInnen einkerbt und das gesellschaftliche Wissen in sich verschließt. Über die Marx’sche Vorstellung des im capital fixe absorbierten Wissens hinausgehend setzt Virno daher seine These von der zugleich prä- und transindividuellen sozialen Qualität des Intellekts: „Die lebendige Arbeit im Postfordismus hat als Rohstoff und Produktionsmittel das über die Sprache zum Ausdruck gebrachte Denken, die Lern- und Kommunizierfähigkeit, die Einbildungskraft, also die das menschliche Bewusstsein auszeichnenden Vermögen. Die lebendige Arbeit verkörpert demnach den General Intellect (das ‚gesellschaftliche Hirn’), den Marx als ‚Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums’ bezeichnet hat. Der General Intellect geht heute nicht mehr im fixen Kapital auf, er stellt also nicht mehr nur das im System der Maschinen enthaltene Wissen dar, sondern die sprachliche Kooperation einer Multitude an lebendigen Subjekten.“[47]

Die Aufnahme des Marx’schen Begriffs verweist darauf, dass „Intellekt“ hier nicht als exklusive Kompetenz eines Individuums verstanden werden soll, sondern als gemeinsames Band und immer in Entwicklung begriffene Grundlage der Individuierung, als soziale Qualität des Intellekts. Hier kommt also zur präindividuellen menschlichen „Natur“, die im Sprechen, Denken, Kommunizieren liegt, der transindividuelle Aspekt des General Intellect hinzu: Es ist nicht nur die Gesamtheit aller von der menschlichen Spezies angehäuften Kenntnisse,  nicht nur die Gemeinsamkeit des vorgängig gemeinsamen Vermögens, es ist auch das Zwischen der kognitiven ArbeiterInnen, die kommunikative Interaktion, Abstraktion und Selbstreflexion lebendiger Subjekte, die Kooperation, das koordinierte Handeln der lebendigen Arbeit.

Schließlich lässt sich mit Virno auch ein Zusammenhang zwischen diesem neuen Verständnis des General Intellect als kollektiven Denk- und Sprachvermögens und einem Maschinenbegriff im Sinn von Guattari herstellen. Wissen als kollektive Intellektualität ist komplementär zur maschinischen Qualität von Produktion und Bewegung. General Intellect, oder der „öffentliche Intellekt“, wie Virno den Begriff weiter entwickelt, ist der andere Name für die bei Guattari begonnene Ausweitung des Maschinenbegriffs über die technische Maschine hinaus und jenseits von ihr: „Innerhalb der zeitgenössischen Arbeitsprozesse existieren Begriffskonstellationen, die selbst als produktive ‚Maschinen’ funktionieren, ohne einen mechanischen Körper oder eine kleine elektronische Seele nötig zu haben.“[48]

 
Für Tips und kritische Beratung danke ich Martin Birkner, Isabell Lorey, Birgit Mennel und Stefan Nowotny.

 

Literatur

Richard Barbrook, „The Holy Fools“, in: Mute 11, London 1998, 57-65

Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus, Frankfurt/Main 1977

Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1997

“Ein Experiment der Theaterarbeit”, in: Peter Gorsen, Eberhard Knödler-Bunte, Proletkult 2. Zur Praxis und Theorie einer proletarischen Kulturrevolution in Sowjetrussland 1917–1925, Stuttgart 1975, 111-116

Sergej Eisenstein,  “Die Montage der Attraktionen”, in: Peter Gorsen, Eberhard Knödler-Bunte, Proletkult 2. Zur Praxis und Theorie einer proletarischen Kulturrevolution in Sowjetrussland 1917–1925, Stuttgart 1975, 117-121

Félix Guattari, “Maschine und Struktur”, in: ders., Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt/Main 1976, 127-138

Félix Guattari, „Über Maschinen”, in: Henning Schmidgen (Hg.), Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Félix Guattari, Berlin 1995, 115-132

Félix Guattari, “Machinic heterogenesis”, in: ders., Chaosmosis. An Ethico-Aesthetic Paradigm, Bloomington/Indianapolis 1995, 33-57

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[1] Guattari, „Über Maschinen”, 118

[2] Vgl. etwa Barbrook, „The Holy Fools“, Marchart, „Der durchkreuzte Ort der Partei”, 204 oder Mouffe, Exodus und Stellungskrieg

[3] vgl. Reitter, „Gerald Raunig: Kunst und Revolution”, 61f.

[4] MEW 42, 590-609

[5] Vgl. für eine kurze Skizze der verschiedenen Bezugnahmen operaistischer und postoperaistischer Generationen auf das Maschinenfragment: Virno, „Wenn die Nacht am tiefsten ... Anmerkungen zum General Intellect”

[6] In Toni Negris frühem Buch „Marx oltre Marx” etwa, das 1978 aus seinem Pariser Seminar über die Grundrisse entstanden ist, fehlt jede Diskussion über die Maschine (vgl. die deutsche Fassung des Kapitels über das „Maschinenfragment” in Negri, „Die Theorie des Lohns und ihre Entwicklung”). Auszunehmen wäre hier allenfalls Maurizio Lazzarato, der in seinen Arbeiten über immaterielle Arbeit einerseits und Videophilosophie andererseits wenigstens beide Aspekte weitergedacht hat.

[7] MEW 23, 391

[8] Vgl. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 176: „In England sind die Strikes regelmäßig Veranlassung zur Erfindung und Anwendung neuer Maschinen gewesen. Die Maschinen waren, man darf es behaupten, die Waffe, welche die Kapitalisten anwendeten, um die Revolte der Geschick erfordernden Arbeit niederzuschlagen. Die self-acting mule, die größte Erfindung der modernen Industrie, schlug die rebellischen Spinner aus dem Felde.”; Marx, Das Kapital, MEW 23, 459: „Die Maschinerie [...] wird das machtvollste Kriegsmittel zur Niederschlagung der periodischen Arbeiteraufstände, strikes usw. wider die Autokratie des Kapitals.”

[9] Marx, Grundrisse, MEW 42, 592

[10] ebd., 593

[11] ebd., 595

[12] ebd., 602

[13] ebd., 594

[14] Dieses Fragment ist eine gekürzte Version des Abschnitts „Theatermaschinen gegen die Darstellung. Eisenstein und Tretjakov im Gaswerk” aus Raunig, „Kunst und Revolution”, 134-147

[15] “Ein Experiment der Theaterarbeit”, 113

[16] Eisenstein, “Die Montage der Attraktionen”, 118

[17] ebd.

[18] “Ein Experiment der Theaterarbeit”, 112

[19] Die Verkettung von Ereignissen und von SpielerInnen, Dingen, Tönen und ZuschauerInnen, wie sie hier beschrieben ist, nähert sich erstaunlich weit dem Maschinenbegriff Guattaris an. Im Anti-Ödi­pus sprechen Deleuze und Guattari zwar davon, dass im russischen Futuris­mus und Konstruktivismus trotz kollektiver Aneignung bestimmter Produktionsverhältnisse diese “der Maschine äußerlich” blieben, doch die Praxis des Theaters der Attraktionen scheint das zu widerlegen.

[20] “Ein Experiment der Theaterarbeit”, 116

[21] Tretjakov, “Theater der Attraktionen”, 68

[22] vgl. Eisenstein, “Die Montage der Attraktionen”, 118

[23] “Ein Experiment der Theaterarbeit”, 112

[24] vgl. “Hörst du, Moskau?!”, 128 f.

[25] Tretjakov, “Notizen eines Dramatikers”, 99

[26] Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 497-521

[27] Im Anti-Ödipus scheinen sich Deleuze und Guattari durchwegs auf das Kapital zu beziehen, Guattari bezieht sich etwa in „Capital as the Integral of Power Formations” (205) auch auf das Maschinenfragment.

[28] Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 498

[29] ebd., 499 sowie 515ff.

[30] MEW 23, 391

[31] Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 8

[32] ebd., 499

[33] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Guattari und Deleuze den Maschinenbegriff durchgehend indifferent bis ambivalent verwenden. Dabei tauchen auch regelmäßig die Schattenseiten der Maschinisierung auf, wie in den Überlegungen zu faschistischen und postfaschistischen Gestalten der Kriegsmaschine in Tausend Plateaus (vor allem 582) oder in Guattaris Begriff der „maschinischen Versklavung“ im „weltweit integrierten Kapitalismus“, wie Guattari das heute unter Globalisierung geframte Phänomen schon in den 1980ern genannt hat. „Maschinische Versklavung“ (Guattari, „Capital as the Integral of Power Formations“, 219-222) meint hier nicht wie bei Marx das untergeordnete Verhältnis des Menschen zur das gesellschaftliche Wissen objektivierenden technischen Maschine, sondern vielmehr eine allgemeinere Form kollektiver Verwaltung von Wissen und die Notwendigkeit der permanenten Partizipation. Zu den traditionellen Systemen der direkten Unterdrückung fügt – hier ist Guattari nahe an den nach Foucault entwickelten Theorien neoliberaler Gouvernementalität – gerade die maschinische Qualität des postfordistischen Kapitalismus eine Palette von Kontrollmechanismen hinzu, die der Komplizität der Individuen bedarf. 

[34] Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 498

[35] ebd., 516

[36] Der diesbezügliche Begriff des Staatsapparats geht weit über herkömmliche Staatsbegriffe hinaus, als Gegenstück zu Maschinen sind Staatsapparate durch Strukturen, gekerbte Räume und harte Segmentarität gekennzeichnet.

[37] Guattari, „Über Maschinen” 121

[38] vgl. Guattari, “Machinic heterogenesis”, 37

[39] Guattari, “Maschine und Struktur”, 137f.

[40] ebd., 138

[41] Nicht unter diese Kategorie fällt die Social-Fora-Bewegung, die gegen die in ihren Satzungen festgeschriebene Zurückweisung von Repräsentation in Form und Inhalt hinter diesen Anspruch zurückfällt.

[42] Zu den Inhalten der Bewegung (vor allem zur Prekarisierung von Arbeit und Leben) vgl. die Texte des eipcp-Webjournals unter dem Titel precariat http://www.republicart.net/disc/precariat/index.htm, zu Begriffsfragen vor allem Mitropoulos, „Precari-Us?“

[43] Vgl. www.euromayday.org und auf dieser Site auch diverse Links zu lokalen EuroMayday-Sites

[44] zu diesen Aspekten der Wiederaneignung der Stadt im Rahmen der EuroMayday-Parades vgl. Raunig, „La inseguridad vencerá. Antiprekaritärer Aktivismus und Mayday Parades“

[45] Virno, „Eine performative Bewegung“, 6

[46] Virno, Grammatik der Multitude, 88

[47] Virno, „Die Engel und der General Intellect“, 174

[48] Virno, „Wenn die Nacht am tiefsten ... Anmerkungen zum General Intellect”, 154

Gerald Raunig

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