06 2006 Positionalität übersetzenÜber postkoloniale Verschränkungen und transversales VerstehenÜbersetzt von Hito Steyerl Während meiner gegenwärtigen Forschungen über lateinamerikanische Migrantinnen, die als Hausarbeiterinnen in Berlin und Hamburg leben, habe ich ein interessantes Paradox in unseren Unterhaltungen bemerkt. Da ich selbst spanisch spreche, dachte ich, dass wir keine Übersetzung brauchen würden. Aber meine vorschnelle Annahme bröckelte schon im Moment unserer Begegnung. Ich erinnere mich daran, wie ich Carla in Berlin traf. Sie war eine Migrantin aus Otavalo, einer Tourismus- und Handelsstadt im Norden Ecuador. Beim Versuch, ihr mein Interesse an der neuen Migration nach Deutchland zu erklären, begann ich das Gespräch damit, dass ich ihr meinem eigenen Hintergrund erzählte. Ich erzählte ihr, dass meine Eltern 1962 Andalusien nach Deutschland gezogen waren und ich in Deutschland aufwuchs, wo meine Kindheit durch Erfahrungen Rassismus gegen so genannte GastarbeiterInnen getrübt wurde. Diese Erfahrung ist im fordistischen Europa der 60er und 70er Jahre situiert, und in einiger Entfernung vom Europa des 21. Jahrhunderts, in dem Spanien gerade zu einem der führenden europäischen Länder in der Verabschiedung neuer Gesetze gegen Migration geworden ist.1 Als sie meine Geschichte hörte, antwortete Carla: "Disculpe, también pasa eso en tu mismo país, si somos de diferente cultura pasa lo mismo, porque a mi me ha pasado. Yo soy de otra cultura y yo hablaba otro idioma. Mi mamá hablaba otro idioma y yo hablaba el idioma de ella. Entré a la escuela hablando el idioma de mi mamá, entonces en la escuela aprendí a los seis años a hablar español, yo no sabía hablar español, pero no pasa como te digo por diferente pais sino que pasa a veces en el mismo país." “Entschuldige, das geschieht auch in deinem eigenen Land, wenn wir aus verschiedenen Kulturen sind, weil dies auch mir passiert ist. Ich bin aus einer anderen Kultur und ich sprach früher eine andere Sprache. Meine Mutter sprach eine andere Sprache und ich sprach früher ihre Sprache. Ich fing an, in die Schule zu gehen, als ich noch die Sprache meiner Mutter sprach und lernte dann in der Schule Spanisch, als ich sechs war, ich konnte kein Spanisch. Es passiert nicht nur, wenn jemand aus einem anderen Land ist, es passiert auch in demselben Land.” Carla fing an, über den Rassismus zu sprechen, den sie in ihrer Kindheit als “Indigena” erlebt hatte. Ihre Kindheit wurde durch die Erfahrung einer erzwungenen Assimilation an spanische Regeln geprägt. Da ihre Muttersprache, Quechua, in ihrer Schule verboten war, konnte sie sie nur zu Hause sprechen. Sie betonte die Inkompatibilität unserer verschiedenen Positionalitäten. Carla konzentrierte sich auf subtile Weise auf die Unterschiede zwischen meiner Geschichte und der ihren, die in postkolonialer Verschränkungen und Trennungen situiert sind. Die von mir angenommene gemeinsame Identität als Spanischsprechende wurde durch unsere soziale Position, die uns durch koloniale Vermächtnisse, den fordistischen Kapitalismus und neue Achsen des Empire auferlegt wurde, in Frage gestellt. Neue Linien Wechselbeziehungen und Strategien globaler Kapitalakkumulation verändern diese historische und politische Verschränkung. Tiefe Trennlinien sozialer Ungleichheiten strukturieren miteinander in Beziehung stehende Räume, in denen Gemeinsamkeiten ausgedrückt und Unterschiede erlebt werden. In den Mikroräumen des Alltags sind wir in diese historische, politische, soziale und kulturelle Komplexität eingebettet. Wenn wir mit der spanischen Sprache als Gemeinsamkeit beginnen, impliziert das eine Reduktion der Unterschiede, die unsere Positionalitäten konstituieren. Die Artikulation verschiedener Partikularitäten, die wiederum soziale Partikularitäten reflektieren, scheint wie ein Ausgangspunkt in einem Sprechakt, der einige Vermittlung benötigt, um eine Verständigung herzustellen. Die Vermittlung oder der Versuch, sich verständlich zu machen, wenn man sich diese Positionalitäten vergegenwärtigt, erfordert im Falle zweier Spanischsprechender nicht eine linguistische oder wörtliche Übersetzung, sondern eine, die den kulturellen Kontext der Sprache jeder Person anerkennt. In diesem Kontext taucht die Frage der “kulturellen Übersetzung” auf. Wie spüren wir der (Un-)Übersetzbarkeit sozialer Positionalitäten in Begegnungen nach, die auf einer angenommenen gemeinsamen Identität beruhen, ausgedrückt etwa durch eine gemeinsame Sprache oder ein gemeinsames Geschlecht? Wie lesen wir die Unterbrechung oder die Lücke, die eine soziale Trennung innerhalb einer globalen Verschränkung artikuliert? Wie können wir Momente der différance als radikale differenzielle Bewegung auflösen? Könnte der Begriff “kulturelle Übersetzung” als ein Werkzeug verwendet werden, um den ambivalenten Charakter dieser Begegnungen, die sich innerhalb der Spannung Identität und Differenz ereignen, zu skizzieren? Indem ich diesen Fragen nachgehe, untersuche ich das Konzept der “kulturellen Übersetzung” als einen Prozess, in dem ambivalente soziale und kulturelle Positionen verhandelt werden. Insofern kann durch Übersetzung Verständnis erlangt werden, während sie gleichzeitig auf die Potentialität der Nicht-Übersetzbarkeit verweist. Der Frage Rada Iveković folgend ist meine Frage hier: “Muss die Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit zweier Begriffe unausweichlich als diametral entgegengesetzt verstanden werden? Gibt es keine Mitte oder keinen queeren Weg, um sich dieser Dichotomie anzunähern?”2 Um meine Fragen auf ein konkretes Feld zu beschränken, werde ich mich auf die ethnographische Forschung konzentrieren. Ich werde zunächst mit Birgit Scharlaus Analyse der Diskurse “Übersetzung” in der Arbeit Linguisten und Ethnographen des spanischen Kolonialismus beginnen.3 Durch den Fokus auf poststrukturalistische und postkoloniale Annäherungen an Übersetzung werde ich mein Interesse an Übersetzung als Werkzeug zur Schaffung Räumen für “transversales Verstehen” entwickeln. Im letzen Teil werde ich Projekte militanter Untersuchungen vorstellen, die den Umgang mit verschiedenen sozialen Machtpositionen innerhalb der Feldforschung illustrieren können. Eine solche Perspektive könnte uns ein Denken der Übersetzung durch Irritationen und Irrationalität anbieten und so auch dem Versuch widerstehen, die “andere Stimme” unserer eigenen Syntax oder unserem eigenen Drehbuch einzuverleiben. Dieser Zugang könnte die Wiederholung der klassischen Subjekt-Objekt-Beziehung in der Feldforschung verhindern. Die Frage der Verteilung der Mittel und Bedingungen der Wissensproduktion sollte im Zentrum einer Methodologie stehen, die “kulturelle Übersetzung” als Methode der Dekonstruktion ethnographischer Arbeit versteht. Dies ist ein Ansatz, der auf das erste Werk über Übersetzung im spanischen kolonialen Kontext zurückgeführt werden kann, wie wir im Folgenden sehen werden.
Die postkoloniale Theorie hat die Rolle der Übersetzung als ein Moment der hegemonialen Einverleibung der “anderen Stimme” in den kolonialen Prozess betont. Sie hat auch das Widerstandspotenzial im Prozess der Übersetzung als solcher aufgezeigt (Bhabha, Spivak, Nirinjana). Übersetzung wurde als Werkzeug der Repräsentation verstanden, das zu einem Verständnis der “Neuen Welt” in den Begriffen der kolonialen Macht beitrug. Es ist dieser Prozess der Übersetzung, den Tejaswini Nirinjana4 im Kontext des britischen Empire in Indien nachzeichnet, wo sie einen Transfer westlicher Epistemologie durch den Übersetzungsprozess beobachtet. Im Endeffekt wird Übersetzung zu einem Epistem der westlichen Tradition, zu einem Konzept, das auf der Idee einer objektiven Abbildung der Wirklichkeit beruht. Diese Wahrnehmung verschleiert ihre eigene diskursive Einbettung. Übersetzung beschreibt so nicht nur eine linguistische Funktion, sondern ein kulturelles und politisches Werkzeug, das im Kampf um Hegemonie eingesetzt wird. Die Verschiebung in der Idee der Übersetzung einem bloßen linguistischen Werkzeug zu einem Machtinstrument wird auch in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit “Übersetzung” reflektiert. Birgit Scharlau differenziert in ihrer Forschung über den spanischen Kolonialismus in Lateinamerika zwischen verschiedenen diskursiven Zugängen zu Übersetzung. Übersetzung als sprachliches Instrument taucht in linguistischen und ethnographischen Texten der 1930er und 40er Jahre auf. Als Beispiel erwähnt Scharlau Robert Ricards Studie über die Verwandlung spiritueller und religiöser Rituale in der indigenen Bevölkerung Mexikos im 16. Jahrhundert.5 In dieser Studie betont Ricard die Rolle der katholischen Kirche, “la iglesia novohispana”, im Prozess der Hispanisierung durch die Übersetzung der Bibel und religiöser Schriften in indigene Sprachen. Mit einem Fokus auf die Rolle der Missionare zeigt er, wie diese sich in der Reproduktion einer “authentischen Kopie” der religiösen Nomenklatura in indigenen Sprachen engagierten. Sie studierten diese Sprachen aufgrund ihrer begrenzten Kenntnis Nahuatl und Quechua und stellten einfache Wörterbücher und Grammatiken her. Diesem Prozess der Standardisierung ging der Versuch der spanischen Krone voraus, Kastilisch als Nationalsprache zu standardisieren. Während in den Kolonien das Kastilische wurde, um die koloniale Herrschaft herzustellen, spiegelt sich auf der spanischen Halbinsel selbst der Prozess der Standardisierung des Kastilischen als Nationalsprache im ersten Wörterbuch des Kastilischen Lebrixa aus dem Jahr 1492 wieder. Dieses Wörterbuch begleitete die imperialen Ambitionen der spanischen Krone, eine spanische Nation herzustellen, die durch eine Religion, den Katholizismus6, durch eine nationale Identität, die spanische, und eine Sprache, die kastilische, regiert wurde. Die EthnographInnen der 1940er und 50er Jahre verschoben ihren Blick den spanischen KolonisatorInnen als ÜbersetzerInnen auf die amerindische Bevölkerung und die Rolle einigen ihrer Angehörigen als ÜbersetzerInnen. In diesem Kontext erwähnt Scharlau die Arbeiten Kubler7, Rowe8 and Gibson9, die sich mit dem Einfluss des Spanischen auf die indigene Bevölkerung beschäftigten. Sie behandelten die Verwandlung, die das Spanische unter der spanischen Herrschaft erfuhr, und untersuchten die Rolle VermittlerInnen beim Transfer der administrativen und rechtlichen Belange der Kolonialmacht auf die Gemeinschaften. Scharlau hebt Vicente Guillermo Arnauds Studie über die Rolle ÜbersetzerInnen im Prozess der Entdeckung, Eroberung und Kolonisation in Rio de la Plata hervor. Arnaud erforschte die Rolle der “interpretes de negros” und “interpretes de idiomas extranjeros” in Rio de la Plata im 17. und 18. sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit der ÜbersetzerInnen bestand darin, zwischen der versklavten Bevölkerung, den spanischen Kolonisatoren und den englischen Händlern zu vermitteln. Arnauds Arbeit erhellte im Vergleich zu vorherigen Studien die Rolle der Übersetzung im sich wechselseitig auswirkenden Aufeinandertreffen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und konzentrierte sich auf die VermittlerInnen als ÜbersetzerInnen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. In den 1960er und 70er Jahren nimmt Scharlau eine Verschiebung in der Übersetzungsforschung wahr. Übersetzung verschwand als Referenz, um den Kolonisationsprozess rein linguistisch oder in Bezug auf kulturelle Begegnungen zu beschreiben. Es war eher der indigene Widerstand, der die Aufmerksamkeit der WissenschafterInnen, die sich mit Sprache, Politik und Macht beschäftigten, auf sich zog. Die Rolle des/r ÜbersetzerIn als VermittlerIn zwischen ihrer oder seiner Gemeinschaft und den KolonisatorInnen wird mit diesem Ansatz kritisch in Frage gestellt. Darin wird Übersetzung als Kommunikationsmittel angezweifelt und in Begriffen der Aneignung der Sprache der Subalternen unter kolonialer Herrschaft diskutiert. Diese Wahrnehmung lehnt es ab, sich auf den dialogischen Charakter der Kolonisation zu konzentrieren und betont den Versuch der indigenen Bevölkerung, ihre Sprachen und ihre Kultur zu erhalten. Diese antikoloniale Wendung in der Analyse der Beziehung zwischen KolonisatorInnen und Kolonisierten in den 1960er und 70er Jahren verschob sich in den 80er Jahren in Richtung eines cultural turn. Die Analyse des Gebrauchs Übersetzung als kulturelles Phänomen innerhalb der generellen Strategie der Kolonisierung erlangte in der Ethnographie essenzielle Bedeutung.10 Im Zusammenhang dieses cultural turn taucht die Figur des/r ÜbersetzerIn als eine der Achsen des Akkulturationsprozesses wieder auf.11 Der Akkulturationsdiskurs erscheint in den Debatten um Synkretismus und konzentriert unsere Aufmerksamkeit speziell auf die Rolle historischer und politischer Figuren als kultureller ÜbersetzerInnen in der ethnographischen Forschung, bei Reisen und politischen Verhandlungen, mit Schwerpunkt auf der kulturellen Interaktion. Ein solcher Ansatz führte Ideen rund um kulturelle Differenz und Konflikt ein. Indem sie der Aufgabe der Übersetzung die Fähigkeit zuwies, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen, unterschlug dieser Ansatz den Kontext der Übersetzung, was bedeutete, dass Übersetzung als universaler, neutraler und dekontextualisierter Akt der Kommunikation verstanden wurde. In der zweiten Hälfte der 1980er und in den 90er Jahren wurde diese Perspektive einer kritischen Untersuchung unterzogen. Diese ließ Fragen der Äquivalenz und der Übersetzungstreue beiseite und konzentrierte sich auf den Prozess der Übersetzung als solcher. Die Beschäftigung mit dem Begriff der “Übersetzung” als eines analytischen Werkzeugs der Kulturtheorie enthüllt im Werk postkolonialen TheoretikerInnen wie Gayatri Chakravorty Spivak, Homi Bhabha and Tejaswini Niranjana eine epistemologische Dimension. In der Zwischenzeit sahen feministische und lateinamerikanische Ethnographinnen wie Ruth Behar12 und Mary Louise Pratt13 den Akt der Übersetzung als einen Aspekt der kritischen Untersuchung ethnographischer Arbeit an. Vor allem Pratt verbindet den Begriff der Übersetzung mit Fernando Ortiz’ Konzept der Transkulturation. Der Begriff Transkulturation wurde in den 40er Jahren vom kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz geprägt und betont die Wechselseitigkeit des kulturellen Austauschs, sogar angesichts radikaler Ungleichgewichte bezüglich der Machtverhältnisse. Zieht man die epistemologischen Implikationen der Übersetzung als eines Prozesses in Betracht, der mit dem Verhältnis zwischen Macht und Wissensproduktion verbunden ist, so werfen die poststrukturalistische Wendung und die postkoloniale Wendung in der Übersetzungstheorie relevante Fragen über Repräsentation und Alterität auf. Diesen Linien folgend werde ich jetzt versuchen, Übersetzung als ein Werkzeug “transversalen Verstehens” zu verwenden.
Wie wir die Welt wahrnehmen und interpretieren ist keine unschuldige Praxis, sondern sie hängt eher sozialen Verhandlungen und hegemonialen Strategien der Repräsentation ab. Eine solche Wahrnehmung bezieht sich auf Repräsentation als diskursive Formation, die in die Logik der Produktion Wahrheit eingebettet ist. Für Michel Foucault entwickelt sich diese Logik innerhalb der westlichen Wissensproduktion auf der Basis der Errichtung Dichotomien. Diese Dynamik hat Judith Butler in Bezug auf die diskursive Produktion Gender auf der Grundlage einer heterosexuellen Matrix analysiert. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Akt der Übersetzung nicht nur in die Übermittlung wörtlicher Bedeutung, sondern in ein ganzes philosophisches System der Wissensproduktion verwickelt ist. Er ist tief in die Epistemologie verstrickt und daher auch in die Formulierung einer “universalen Wahrheit”. Gender in diese verschiedenen linguistischen oder kulturellen Kontexte zu übersetzen, wird daher die Anerkennung einer ganzen “Weltanschauung” beinhalten. Geschlecht, das diskursiv, institutionell und auf der Ebene der Praxen als universale Wahrheit verstanden wird, da es Männlichkeit oder Weiblichkeit bedeuten soll, stellt ein “globales Gemeinsames” (global common) dar; ein “globales Gemeinsames”, das keine lokalen Partikularitäten oder Wissensnetzwerke zu inkorporieren scheint. Die Übersetzung Geschlecht scheint keines näheren Augenscheins zu bedürfen, da sie auf der universalen Wahrheit der Existenz “zwei Geschlechtern” beruht. Wenn wir das Beispiel Gender nehmen, wird die Übersetzung dieser Kategorie einer heterosexuellen Matrix der Zuweisung folgen, die auch in Gesellschaften, in denen dieses Klassifikationsmodell möglicherweise nicht existiert, binäre Geschlechtsmodelle einführt, aber auch andere Artikulationen, die jenseits der Dichotomie Mann/Frau liegen, unterschlägt. Die Übersetzung Gender zu „queeren“ wird ein transversales Verständnis Geschlecht erfordern, das über die Dichotomie Mann und Frau hinausgeht. Wenn wir uns dies vor Augen halten, können wir zusammenfassen, dass der Übersetzungsprozess Hand in Hand mit dem Akt des Lesens und Verstehens geht. Lesen ist nicht nur eine Aufgabe, die auf den geschriebenen Text beschränkt ist, wie PoststrukturalistInnen wie Roland Barthes vorgeschlagen haben. Für Gayatri C. Spivak ist es eine Voraussetzung, um Gesellschaft zu verstehen: “Jeder liest das Leben und die Welt wie ein Buch. Sogar die so genannten Analphabeten. Aber insbesondere die ‘Anführer’ unserer Gesellschaft (…): Politiker, Geschäftsleute, diejenigen, die Pläne machen. Ohne dass die Welt wie ein Buch gelesen wird, gibt es keine Vorhersage, keine Planung, keine Steuern, keine Gesetze, keine Wohlfahrt, keinen Krieg. Aber diese Anführer lesen die Welt in Begriffen der Rationalität und des Durchschnitts, so als sei sie ein Schulbuch. Die Welt schreibt sich jedoch mit der vielschichtigen, nicht fixierbaren Komplexität und Offenheit eines literarischen Werks. Wenn wir durch unser Studium der Literatur selbst lernen und anderen Leuten beibringen können, die Welt in der richtigen, ‘riskanten’ Weise zu lesen und gemäß dieser Lektion zu handeln, wären wir literarischen Leute nicht auf ewig solche hilflosen Opfer.”14 Die Fähigkeit, die Gesellschaft als Text zu lesen, setzt die Übertragung einem Codesystem ins andere voraus. Diese Übertragung impliziert nicht notwendig zwei verschiedene Sprachen, sondern arbeitet eher mit der Vorstellung Idiomen als verschiedenen Codesystemen. Übersetzung, wie wir schon im Falle des spanischen Kolonialismus sahen, ist das Werkzeug, das diese Übertragung ermöglicht. Das ist der Fall, weil Übersetzung nicht nur ein Medium ist, um Kommunikation zu ermöglichen, sondern auch, um den originalen Text vor dem Hintergrund unseres Wissenshorizonts zu spiegeln. Dieser Vorgang des Lesens nimmt auf der Basis Gadamers hermeneutischem Verständnis einen Moment der Identifikation an, in dem der originale Text in den Bedeutungskontext eingeschrieben wird, über den der Übersetzer verfügt. Übersetzen hängt mit der Produktion kohärenter Bedeutung zusammen. Das erzeugt das Risiko, das Original einfach auf eine Kopie seiner selbst zurückzuführen und die Momente der Unübersetzbarkeit im Übersetzungsprozess und die verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexte, in denen die Übersetzung verhandelt wird, auf einen rein funktionalen linguistischen Prozess zu reduzieren. Gegen diese Übersetzungspraxis wendet sich Walter Benjamin in “Die Aufgabe des Übersetzers”.15 Eine Übersetzung, die vom Zweck geleitet wird, Bedeutung zu übermitteln, ist für Benjamin eine fehlgeschlagene Übersetzung. Die Übersetzung als Prozess der Einverleibung der Stimme der Differenz in die der Gleichheit zerstört das Potenzial dafür, die andere Stimme in ihrer Veränderung zu verstehen, in der Art und Weise, wie sie in eine Bewegung der Differenz eingeschrieben ist. Eine gute Übersetzung könnte, ähnlich wie in einem heuristischen Projekt, durch die Unmöglichkeit, ein Spiegelbild des Originals zu erschaffen, erkannt werden. Benjamin schreibt: „Wird dort gezeigt, dass es in der Erkenntnis keine Objektivität und sogar nicht einmal den Anspruch darauf geben könnte, (…) so ist hier erweisbar, dass keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde.“16 Benjamins Ausspruch wurde einigen poststrukturalistischen Lektüren der Übersetzung als Ausgangspunkt genommen, um die Theorie der Reproduktion des Originals in Frage zu stellen, die Wittgenstein in seiner „Abbildtheorie“17 formuliert worden war. Diese Theorie nimmt die identische Reflexion der Realität in der Sprache an, die sich in der Übersetzung durch das Ziel artikuliert, eine wörtliche Übersetzung des Originals zu produzieren. Benjamin folgend, greift Derrida dessen Argument auf und entwickelt es weiter, indem er Übersetzung als Fluss und als transitorische Bewegung diskutiert. In der Bewegung zwischen den zwei Polen der Übersetzung wird eine Überdeterminierung, ein Supplement, produziert. Ein Supplement, das durch die Dynamik der zwei Pole und durch die Streuung in der Übertragung vom einen zum anderen entsteht. Es ist diese Bewegung der “différance”, die über Identität und Differenz hinausgeht und ein undefiniertes Mehr erzeugt, ein Supplement, das auf eine Dekonstruktion der Annahmen verweist, auf denen die Übersetzung kulturell beruht. Dieses Supplement, das nicht in eine wiedererkennbare oder identische Sprache eingeschrieben ist, kann nicht durch die Schaffung eines dritten Begriffs verständlich gemacht werden: „(...); das Supplement ist weder ein Plus noch ein Minus, weder ein Außen noch ein Innen als dessen Gegenstück, weder Akzidens noch Essenz.“18 Die Übersetzung verlässt hier den Raum eines kulturell dichotomisierten Modells Kultur und Kontakt. Sie verweist eher auf Transgression. Ein solches Verständnis treibt uns dazu an, Übersetzung in methodologischen Begriffen zu definieren und uns auf Fragen der Methode zu konzentrieren, darauf, wie man das Ungesagte oder die Irritationen in einem kulturellen oder sozialen Text lesen kann. Daher ist dieses Projekt der Übersetzung in die korrelative und Differenz produzierende Begegnung verschiedener Idiome als Zwischenträger verwickelt, verschiedener Arten, die Welt zu sprechen oder zu verstehen. Daher impliziert die Frage der Übersetzung, um Lücken, Irritationen und Irrationalitäten herum und durch sie hindurch zu arbeiten, da die Aufgabe des/r ÜbersetzerIn dort beginnt, wo die Grenzen der Verständlichkeit offenbar werden, wie Spivak vorschlägt. Für Spivak ist Übersetzung ein Weg, um näher an die Grenzen unserer eigenen Identität zu gelangen. Dies beschreibt den überzeugenden Charakter der Übersetzung in folgender Weise: ”Einer der Wege, die Begrenzungen der eigenen Identität zu umgehen, während man erklärende Prosa produziert, ist es, am Eigentum jemand anderem zu arbeiten, weil man mit einer Sprache arbeitet, die vielen anderen gehört. Dies ist letztendlich eine der Verführungen der Übersetzung. Es ist eine einfache Nachahmung der Verantwortung gegenüber der Spur des Anderen im Selbst.“19 Im Endeffekt ist eine “wahre Übersetzung” für Benjamin und Spivak eine, die nicht den originalen Text oder die originale Stimme kopiert. Eher, wie Benjamin uns mitteilt: „Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wirklichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.“20 Indem sie sich auf Benjamin bezieht, sieht Spivak den Prozess der Übersetzung in Begriffen der rhetorischen “Wörtlichkeit”, die den Kontext der Übersetzung, “die Arkade”, dem der Syntax vorzieht, die, wie Benjamin bemerkt, die Mauer repräsentiert, die Barriere, die die Fluidität blockiert, die der Aufgabe der Übersetzung innewohnt. Für Benjamin und Spivak ist eine Übersetzung, die die Spuren des Anderen in einem Selbst einfängt, indem sie “die Begrenzungen” des Kontexts, in dem diese Äußerungen stattfinden, “umgeht”, in einen kreativen Prozess des Verstehens der sinnlichen und intimen Seite der Sprache involviert. Eine gute Übersetzung wird dann eine Übersetzung sein, die sich durch die Spannungen Differenz und Identität hindurcharbeitet und die, wie Benjamin vorschlug, die Individualität und die Originalität der Präsenz der anderen Stimme respektiert. Der/die ÜbersetzerIn muss ein/e gründliche/r LeserIn sein, und die intime Beziehung zwischen ihm/ihr und dem Text durcharbeiten. Das Ziel ist es, die Liebe zwischen dem Original und seinem Schatten zu ermöglichen, eine Liebe, die eine Auflösung zwischen dem Wissenskontext des/r ÜbersetzerIn und dem Text oder der anderen Stimme ermöglicht. Die Aufgabe der Übersetzung wird daher durch die Ambivalenz überwältigt, die durch den intimen Moment der Öffnung des Rhetorischen ermöglicht wird. Der/die ÜbersetzerIn wird sich nicht darauf konzentrieren, was gesagt wurde, sondern darauf, wie und wo es gesagt wurde. Die Übersetzung wird sich mit den affektiven, kognitiven und kontextbezogenen Ebenen der Artikulation einlassen. Sich auf die Ebene der Rhetorik zu konzentrieren schließt die Arbeit mit und durch das Schweigen zwischen den Worten ein, um wahrzunehmen, wie verschiedene Logiken zusammenarbeiten oder sich gegenseitig in Frage stellen. Schließlich ist diese Aufgabe des Übersetzens nicht in das Ergebnis der Übersetzung selbst involviert, sondern in den Kommunikationsprozess. Sprache wird dann nicht nur so wahrgenommen, als sei sie bloß aus Zeichen zusammengesetzt, sondern auch aus Lücken und Schweigen, die die Dissemination mobilisieren.21 Eine solche Dissemination kann nicht in die dominante Logik des Texts konvertiert werden, da diese rhetorische Bewegung sie untergräbt.22 Da sie die Identitätsbeziehung zwischen Rhetorik und Logik in Frage stellt, dekonstruiert diese Bewegung die Kontingenz der epistemologischen Ordnung und erweist die Möglichkeit der Beliebigkeit, der Nichtäquivalenz und der Zufälligkeit.23 In der Spannung zwischen Logik und Rhetorik wird ein Zugang zu Übersetzung geschaffen, in dem der Kontext der verschiedenen Ebenen des Textes enthüllt werden kann. Indem er berücksichtigt, dass es Momente der Nicht-Kommunikation und ein Verstehen jenseits des Begehrens, uns in der anderen Stimme wiederzuerkennen, gibt, schafft dieser Zugang zur Übersetzung eine Verbindung zu Fragen der postkolonialen feministischen Methodologie und Epistemologie. Dies lässt uns mit der Frage zurück, wie diese Heteroglossie in der ethnographischen Arbeit mit Blick auf die Mittel und Begriffe der Wissensproduktion ausformuliert werden könnte.
Der Ansatz der “kulturellen Übersetzung” als Methode, Räume des transversalen Verstehens freizusetzen, führt uns zu den Debatten um feministische und transversale Methodologie in den 1980er und 90er Jahren. In der feministischen Epistemologie wurde die Subjekt-Objekt Beziehung in der Feldforschung einer kritischen Befragung unterzogen.24 Feministische Wissenschaftskritik diskutierte insbesondere die asymmetrische Beziehung zwischen ForscherIn und TeilnehmerIn und machte sich Gedanken über partizipatorische Methodologie. Feministische Epistemologie erforschte die Situiertheit der Wissensproduktion, indem die Position der Objektivität in Frage gestellt wurde. Die postkoloniale Epistemologie hat die diskursive Konstruktion des/r Anderen als „InformantIn“ in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Konstitution eines hegemonialen Selbst befragt, das sich durch akademisches Wissen dazu ermächtigt, die zum Schweigen gebrachte, marginalisierte oder subalterne Stimme zu vertreten.25 Fragen der Authentizität und der Autorität wurden einer kritischen Prüfung unterzogen, und situierten die Wissensproduktion innerhalb eines postkolonial und gendertheoretisch produktiven Rahmens. Dieser Tradition eines umkämpften Wissens und dessen Verbindung zu partizipatorischer Aktionsforschung in den 1970er und 80er Jahren (Mies) folgend, haben Projekte der militanten Untersuchung diese Paradigmen in den Kontext sozialer Proteste und Mobilisierung übertragen. Dies erinnert uns auch an die Gruppen der “concientización” und “capacitación feminista” in Lateinamerika, die politisches Bewusstsein über soziale Ungleichheiten hervorriefen und Werkzeuge einer kollektiven Organisation bereitstellten, mit denen sich neue Formen der Wissensproduktion durch Foren der Debatte und Kommunikation entwickelten. Diese neuen Methoden sind durch postmoderne Debatten über die Produktion Wissen beeinflusst, neuen Methoden, Austausch, Abhängigkeiten und wechselseitige Beziehungen jenseits binärer Schemata zu erklären. Indem sie auf ein Projekt abzielen, das in partizipatorische militante Untersuchung involviert ist, stellen sie Verbindungen zu neuen Begriffen her, um das Soziale als Mobilität zu erklären, als Wissensproduktion, Körper, affektives Netzwerk und als Differenz. Insbesondere Precarias a la deriva haben eine Methode eingeführt, mit der sie in ihrer militanten Untersuchung über weibliche Prekarität ein Kontinuum zwischen der Forschungstätigkeit und der Intervention herstellen. Indem sie militante Studien ohne ForscherIn und Erforschte betreiben, lösen sie die asymmetrische Beziehung zwischen ForscherIn und Erforschten auf.26 Diese Methodologie wird der Methode der dérive begleitet, dem Spaziergang durch die Stadt mit dem Ziel, Räume der Kommunikation und der Intervention zu erschaffen. Andere politische Gruppen, wie etwa das argentinische Kollektiv Situaciones, engagierten sich in Recherchen im Stadtraum und militanter Untersuchung und verweigerten sich der Integrierung in die dominanten Fabriken der Wissensproduktion, die Universitäten, indem sie gleichzeitig Methoden wie lebensnahe Geschichten, narrative Interviews und Tagebücher verwendeten, um den zurückgelegten Weg Begegnungen, Ausgangspunkten, Treffen und Auflösung innerhalb ihres Alltags sowie die Räume, die sie bewohnen, zu umschreiben. Sie setzten sich in ein Verhältnis mit diesen Denkströmungen und entwickelten Begriffe gemeinsamer Intelligenz, kollektive Subjektivität und Interventionsstrategien ebenso wie autonome Netzwerke der Wissensproduktion27 Obwohl diese politischen Projekte sich außerhalb der akademischen Wissensproduktion verorten, verweisen sie auf akademische Debatten. Es geht hier um einen Prozess der Übersetzung zwischen akademischem und militantem Wissen und umgekehrt steht hier auf dem Spiel. Zur selben Zeit verlangen die Momente der Verhandlung verschiedener sozialer Positionalitäten, Stimmen und Lokalitäten danach, diese Positionalitäten gemäß den Linien des transversalen Verstehens zu übersetzen, die ich skizziert habe. Dieser Zugang könnte das Ausbuchstabieren der “différance” erleichtern, ohne jedoch diese Bewegung unter dem Schirm einer einzigen Identität oder eines “gemeinsamen Globalen”, das Geschlecht sein könnte, zu vereinheitlichen. Er impliziert, nicht der Idee eines gemeinsamen Namens wie Frau Abstand zu nehmen, aber einen Raum zu schaffen, in dem verschiedene Linien der Erfahrung Weiblichkeit debattiert, verhandelt und umkämpft werden können, und verschiedene Verkörperungen dieser Erfahrungen umfassen. Dies könnte in Bezug gesetzt werden zu einem Produktionssystem, in dem Gender produziert und verwendet wird, aber diese Beziehung impliziert nicht eine wörtliche Übersetzung des Signifikanten, der auf der Ebene der empirischen Verkörperung verwendet wird. Diese Artikulationen Geschlecht könnten dann als vielgestaltig wahrgenommen werden und nicht identisch mit dem zugewiesenen binären System Mann und Frau. Während diese Artikulationen innerhalb der Spannungen dieses epistemologischen Rahmens stattfinden, werden sie vom methodologischen Niveau der Erfahrungen und gebrochenen Geschichten überholt.
Indem ich diese Ideen vom Standpunkt einer Person aus übernehme, die in der Fabrik der Wissensproduktion sitzt, nähere ich mich der Idee der kulturellen Übersetzung als einer Methode, die Momente der Unübersetzbarkeit der Existenz innerhalb des normativen Rahmens der Übersetzbarkeit zu lesen. Es ist eine Strategie, um die Beziehung zwischen ForscherInnen und TeilnehmerInnen, aber auch die zwischen der institutionalisierten und der subalternen Wissensproduktion zu verändern. Das Projekt der Übersetzung ist ein ambivalentes Projekt, denn sogar wenn es die Möglichkeit der Übertragung verspricht, basiert es fundamental auf ihrer Unmöglichkeit. Dies ist ein Kontext, der durch die Aporie geprägt wird, die die geopolitische Situiertheit unserer Positionalitäten gleichzeitig verbindet und auseinandertreibt – Positionalitäten, die durch die globale Logik kapitalistischer Produktion und Akkumulation verknüpft werden und auch durch die Vermächtnisse des Kolonialismus und die sozialen, politischen und kulturellen Einflüsse sexuellen, geschlechtlichen und migrationspolitischen Kontrollregimes. Im Zusammentreffen dieser verschiedenen sozialen Linien findet die Praxis der Übersetzung als einer Form der Verhandlung Positionalitäten statt. Wenn wir, wie Rada Iveković vorschlägt, “Übersetzung” als eine “Bedingung an sich – nicht die eines Ortes, sondern einer ursprünglichen Bewegung” verstehen28, dann sind wir permanent in Übersetzung als Kommunikationsprozess involviert. Übersetzung als Bewegung schließt eine ständige Verwandlung Bedeutung ein. Auf diese Weise befinden wir uns in permanenter Übersetzung. Und so impliziert, wie das obige Beispiel meiner Unterhaltung mit Carla zeigt, der Akt der Übersetzung nicht unbedingt die Übersetzung einer Sprache in die andere. Sondern sie umreißt den Prozess der (Nicht-)Kommunikation, in dem beide um Bedeutung und Autorität kämpfen. In meinem Versuch, die Autorität des Schreibens unter den Bedingungen der akademischen Wissensproduktion zu verändern, beziehe ich mich auf feministische Ethnographinnen wie Ruth Behar. In ihrem Buch “Translated Woman. Crossing the Borders with Esperanza’s Story” e Behar die Geschichte der indigenen Mexikanerin Esperanza. Esperanza willigte ein, an Behars Forschung teilzunehmen, weil sie ihr eigenes Projekt der Überquerung der Grenze zwischen den USA und Mexiko vor Augen hatte. Beide Frauen trugen auf dieser Reise gegenseitig zu ihren Projekten bei. Behar als Ethnographin wurde zur Übersetzerin im dreifachen Sinne, als linguistische Übersetzerin der Geschichte, als epistemologische Übersetzerin der Lebensgeschichte einer Person, die im Westen marginalisiert und zum Schweigen gebracht wurde, und als Übersetzerin, die an der universalen ethischen “Frage, ob Feminismus über Grenzen hinweg werden kann”, interessiert war.29 Diese verschiedenen Positionalitäten der Forscherin in ihrer Forschung umreißen, obwohl sie klar formuliert werden, einen ethnographischen Ansatz, der die materiellen Bedingungen der Wissensproduktion reflektiert, aber die Aporie in dieser Begegnung nicht auflösen kann. Denn wie Behar bemerkt, “beinhaltet jede ethnographische Repräsentation (...) unweigerlich eine Selbstrepräsentation. Auf subtilere Weise ‘schließt der Akt der Repäsentation fast immer Gewalt gegenüber dem Subjekt der Repräsentation ein’, indem er notwendig einen bestimmten Grad der Reduktion, Dekontextualisierung und Miniaturisierung voraussetzt.30 Obwohl Esperanzas Geschichte in diesem Buch durch ihre Aufzeichnung als Zeugenaussage eine zentrale Stelle einnimmt, wird dadurch das hierarchische System, in dem diese Zeugenaussage veröffentlicht wird, nicht aufgelöst. Im zweiten Teil des Buchs stehen Ruth Behars theoretische Überlegungen im Fokus, nicht ihre Lebensgeschichte. Dies produziert den Effekt Theorie versus Erfahrung, dessen erster Teil mit der westlichen Akademikerin in Zusammenhang steht und der andere mit der mexikanischen campesina. Daher drängen sich Fragen danach auf, welcher Prozess der Übersetzung in dieser Repräsentation stattgefunden hat und ob dieser eine Aporie reflektiert, die mit der ungleichen Entwicklung Kapitalakkumulation sowie der Verdinglichung Wissen im Westen und anderen Teilen der Welt verknüpft ist – im Falle Behars der ländlichen mexikanischen Grenzregion und der Vereinigten Staaten.
Behar
konfrontiert diese Situation, indem sie erklärt, dass das
Problem der ethnographischen Repräsentation in sich paradox ist.
Diese ist nämlich, und sie bezieht sich auf Edward Said, “ein
Prozess, durch den jeder uns mit seiner je eigenen Unfähigkeit
konfrontiert ist, die Erfahrung anderen zu verstehen, selbst wenn
wir die absolute Notwendigkeit sehen, mit der Bemühung darum
fortzufahren.”31
Nichtsdestotrotz sollten wir versuchen, einen Raum zu erschaffen, in
dem der Prozess der Repräsentation an seine Grenzen verlagert
werden kann. Es ist diese dekonstruktive Bewegung, die den Raum für
Methoden des Denkens und der Repräsentation jenseits der Logik
Identität und Differenz eröffnen könnte: eine
Repräsentation in Übersetzung. --- 1 Encarnación Gutiérrez Rodríguez, „Das postkoloniale Europa dekonstruieren. Zu Prekarisierung, Migration und Arbeit in der EU“. In: Widerspruch, Heft 48. 2 Rada Iveković, “On Permanent Translation (We are in Translation)”, in Transeuropéennes 22, 2002, S. 121. 3 Scharlau, Birgit: Repensar la Colonia, las relaciones interculturales y la traducción, in: Iberoamericana 12, 2004, S. 97-110. 4 Tejaswini Niranjana, Siting Translation. History, Post-structuralism, and the Colonial Context. Berkeley / Los Angeles / Oxford: University of California Press, 1992. 5 Robert Ricard, La Conquête Spirituelle du Mexique. Essai sur l’Apostolat et les Méthodes Missionaires des Ordres Mendiants en Nouvelle Espagne, de 1523–1572, México, D.F.: Fondo de Cultura Económica, 1933. 6 Ein Prozess, der durch die Umsetzung der Heiligen Inquisition, die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der muslimischen, jüdischen und ungläubigen Gemeinschaften, wenn sie nicht zum Katholizismus konvertierten, sowie den Genozid an der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas durchgeführt wurde. 7 George Kubler, "The Quechua in the Colonial World", in: Handbook of South-American Indians, Washington: U.S.G.P.O., vol. 2, 1946, S. 331–341. 8 John Rowe, "The Incas under Spanish Colonial Institutions", in: Hispanic American Historical Review, 37, 1957, S. 155–199. 9 Charles Gibson, „The Aztec Aristocracy in Colonial Mexico”, in: Comparative Studies in Society and History, 2, 1959/60 S. 169–196) 10 William B. Taylor, "Between Global Process and Local Knowledge: An Inquiry into Early Latin American Social History", in: Olivier Zunz (Hg.), Reliving the Past: The Worlds of Social History. Chapel Hill/London: The University of North-Carolina Press, 1985, S. 113–190. 11 Birgit Scharlau, "Repensar la Colonia, las relaciones interculturales y la traducción", in: Iberoamericana 12, 2004, S. 97–110, S. 102. 12 Ruth Behar, Translated Woman. Crossing the Border with Esperanza’s Story. Beacon Press: Boston, 1993. 13 Mary Louise Pratt, "The Traffic in Meaning: Translation, Contagion, Infiltration", in: Profession, 2002. 14 Gayatri Chakravorty Spivak, "Reading the World: Literary Studies in the Eighties", in: In Other Worlds. Essay in Cultural Politics. Routledge: London/New York, 1988. 15 Walter Benjamin, "Die Aufgabe des Übersetzers", in: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hg. Tillmann Rexroth, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972. 16 Ibid., S. 12 17 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 12. Frankfurt am Main, 1995 [Original1922]. 18 Jaques Derrida, Positions, Paris, Éditions de Minuit, 1972, S. 54 f. 19 Gayatri Ch. Spivak, , "The Politics of Translation", in: Barrett, Michèle/Phillips, Anne (Hg.), Destabilizing Theory. Contemporary Feminist Debates, Stanford, 1992, S. 177–200, S. 177. 20 Walter Benjamin, "Die Aufgabe des Übersetzers", op. cit., S. 18. 21 Jacques Derrida, "Die différance", in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart, 1991, S. 76–113. 22 Gayatri Ch. Spivak, "The Politics of Translation", op. cit., S. 178. 23 Ibid., S. 184 f. 24 Vgl. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought, New York, 1990; Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt am Main, 1993. 25 Vgl. Gayatri Ch. Spivak, "Reading the World: Literary Studies in the Eighties", op. cit. 26 Precarias a la Deriva, A la Deriva por los circuitos de la precariedad femenina. Traficantes de Sueños: Madrid; http://www.sindominio.net/karakola/precarias.htm (Mai 2006). 27 Marta Malo, (Hg.), Nociones comunes. Experiencias y ensayos entre investigación y militancia. Madrid: Traficantes de sueños; www.nodo50.org/ts/editorial/librospdf/nociones_comunes.pdf (Mai 2006) bzw. dt. Teilübersetzung unter http://transform.eipcp.net/transversal/0406/malo/de (Mai 2006). 28 Rada Iveković, "On Permanent Translation (We are in Translation)", in: Transeuropéennes 22, 2002, S. 121–145. 29 Ruth Behar, Translated Woman. Crossing the Border with Esperanza’s Story, op. cit., S. 276. 30 Ibid., S. 271. 31 Said zitiert in: ibid., S. 355. |
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