06 2006 Die Einsätze der ÜbersetzungI. Im Begriff der „kulturellen Übersetzung“ liegt, der linguistischen Herkunft des Übersetzungsbegriffs entsprechend, ein unmittelbarer Verweis auf einen Zusammenhang des Ausdrucks. Wenn es nämlich zutreffend ist, dass, wie Roman Jakobson sagt, „die Bedeutung jedes sprachlichen Zeichens seine Übersetzung in ein anderes, alternatives Zeichen“ ist, ja dass ein Zeichen kraft solcher Übersetzung „in eine explizitere Bezeichnung überführt werden“1 kann, so ist im Anschluss daran zumindest dreierlei festzuhalten: 1) Jedes Zeichen (weit entfernt davon, die bloße Anzeige dessen zu sein, worauf es sich bezieht) unterhält komplexe Beziehungen der Abgrenzung, aber auch einer schwierig zu bestimmenden Solidarität mit anderen Zeichen; Beziehungen, die seine Übersetzbarkeit gewährleisten und auf diesem Wege Bedeutung generieren. 2) Darüber hinaus sind Zeichen aber auch intensive Größen, d. h. sie implizieren Grade von Ausdrücklichkeit, die zunächst im Verhältnis zwischen dem Ausgedrückten sowie dem je manifesten Ausdruck begründet zu sein scheinen; nur so lässt sich die Rede von mehr oder weniger „expliziten“2 Bezeichnungen verstehen. 3) Es ist letztlich kaum möglich, diese Explizitheit – wie Jakobson dies in den Passagen, aus denen ich zitiert habe, nahe zu legen scheint – auf Fragen der Eindeutigkeit oder der Präzisierung von (festgelegten oder produzierten) Bedeutungen abzublenden, ohne von den konkreten SprecherInnen als Instanzen des Ausdrucks und damit, mit allen theoretischen und politischen Konsequenzen, von den verschiedenen Ebenen sprachlichen Handelns sowie dessen jeweiliger Situiertheit zu abstrahieren. Wie aber stellt sich ein solcher Zusammenhang des Ausdrucks, in dem die Frage der Übersetzung zu verorten wäre, im Kontext jener Theoriebildungen dar, in denen der Begriff der „kulturellen Übersetzung“ heute in Verwendung ist? Die impliziten Grundannahmen dieser vor allem im Umfeld der Cultural Studies und Postcolonial Studies anzutreffenden Theoriebildungen könnten in etwa folgendermaßen beschrieben werden: Nur insofern sich in „einer Kultur“ oder aber in „Kultur überhaupt“ etwas ausdrückt – mithin ein Spielraum der Differenz zwischen dem Ausgedrückten sowie dem je manifesten Ausdruck eröffnet ist –, kann davon ausgegangen werden, dass „Kulturelles“ oder „Kulturen“ übersetzbar sind; es ist diese Übersetzbarkeit, auf die sich die Produktion „kultureller“ Bedeutungen gründet. „Kultur“ bezeichnet dabei in der Vorstellung „kultureller Übersetzung“, dem sprachlichen Vorbild folgend, nicht einfach den Ausgangs- und Zielgegenstand dieser Übersetzung (die „Kultur“, die oder aus der übersetzt wird, sowie die „Kultur“, in die etwas übersetzt wird), sondern zugleich auch das Medium der Übersetzung sowie deren Ausübung im Sinn einer praktischen Tätigkeit: Nur insofern Übersetzen selbst als „kulturelle“ Tätigkeit verstanden wird – und die „kulturellen“ Ausdrucksinstanzen zumal solche der Übersetzung sind –, vermag es „Kultur“ als Medium der Übersetzung dergestalt zu aktualisieren, dass jenes „Kulturelle“, das den Ausgangs- und Referenzpunkt der Übersetzung bildet, in differenter Weise wiederum als „Kulturelles“ zur Erscheinung gebracht werden kann. Nun werfen diese Annahmen aber eine doppelte Frage auf: Zum einen – und damit ist nur einer der Gründe genannt, warum ich es für unausweichlich halte, die Worte „Kultur“, „kulturell“ etc. durch die systematische Setzung von Anführungszeichen als Problemtitel zu markieren – führt eine umstandslose Anwendung des Übersetzungsbegriffs auf „Kultur“ fraglos jene Parallelführung von Sprachtheorie und Kulturtheorie weiter, die (in den knapp 250 Jahren, die vergangen sind, seit sich der Kulturbegriff in der Wissenschaftsproduktion wie auch in öffentlichen Debatten auszubreiten begonnen hat) zwar von einiger Tradition, aber deswegen nicht weniger problematisch ist; ich werde darauf im Weiteren nur in Ansätzen sowie auf eher indirektem Wege eingehen können. Zum anderen aber, und diesen Punkt werden die folgenden Überlegungen umkreisen, stellt sich die Frage, inwieweit das Problem des Ausdrucks in jenen Theorien, die von „kultureller Übersetzung“ sprechen, überhaupt eigens gedacht ist. Um meine These vorwegzunehmen: Ich denke, es lässt sich zeigen, dass zumindest in weiten Bereichen der Cultural Studies (bzw. der diesen nahe stehenden Kulturtheorien sowie der politischen Theorien, die an die Cultural Studies in ihrem politischen Einsatz anknüpfen) etwas, das wir hier vorsichtig als „Ausdrucksstruktur“ bezeichnen können, zwar stillschweigend in Anspruch genommen wird, aber eben deswegen ungedacht bleibt – bzw. voreilig in die jeweiligen begrifflichen Anordnungen eingespannt wird –, weil eine spezifische Aufnahme strukturalistischer und poststrukturalistischer Theoreme innerhalb der Cultural Studies „Struktur“ und „Ausdruck“ als unvereinbare Perspektiven präsentiert. Nichtsdestoweniger ist es, von theoretischen Problemen einmal abgesehen, gerade auch der politisch-emanzipatorische Anspruch der Cultural Studies, der ein näheres Verständnis der „Ausdrucksstruktur“ politischer Artikulationen als wünschenswert erscheinen lässt.
II. Als Beispiel für diese doppelte Geste der Inanspruchnahme des Ausdruckshaften bei gleichzeitiger Ausblendung jeglicher Diskussion, die seine Parallelführung mit „kulturellen“ Belangen in Frage zöge, kann hier zunächst Judith Butlers Intervention in die 1994 von Martha Nussbaum ausgelöste Debatte um die Frage des Kosmopolitischen3 angeführt werden. Butler lässt in ihrem Beitrag von Anfang an keine Zweifel darüber offen, dass jene Universalität, an die Nussbaums Plädoyer für das Kosmopolitische appelliert hatte, nur unter Berücksichtigung der differierenden „kulturellen“ Artikulationen des Universellen angemessen gedacht werden kann. Ich streiche die zentrale, jedoch nicht weiter diskutierte Rolle der „Artikulation“ in den folgenden Zitaten durch Hervorhebungen heraus: Der Umstand, dass es „kulturelle Bedingungen für seine Artikulation gibt“, zeige sich dann, „wenn die Bedeutung ‚des Universellen‘ sich als kulturell variabel erweist und die spezifischen Artikulationen des Universellen gegen dessen Anspruch auf einen transkulturellen Status arbeiten“4. Daher sei die Möglichkeit in Rechnung zu ziehen, dass – etwa angesichts der Formulierung bestimmter universeller Rechte – das Universelle in diesen „nur teilweise artikuliert wird und dass wir noch nicht wissen, welche Formen es annehmen kann“5. Die Auflösung der damit angezeigten Schwierigkeit vertraut Butler im Weiteren der Idee eines progressiven (indessen nicht notwendigerweise „progressistischen“) Aushandlungsprozesses an, der sich aus dem „performativen Widerspruch“6 zwischen den jeweils konventionellen Formulierungen des Universellen und jenen Artikulationen nährt, die aus einer Position des Nicht-Eingeschlossenseins in diese Formulierungen ihren Anspruch darauf anmelden, in sie eingeschlossen zu werden. Und sie nennt diesen Prozess, unter Bezugnahme auf Homi Bhabha, einen Prozess der „kulturellen Übersetzung“7. Wir begegnen in Butlers Ausführungen ganz offenkundig jener Trias von Ausgedrücktem, je manifestem Ausdruck und Ausdrucksinstanzen wieder, die ich eingangs skizziert habe. Ebenso offenkundig aber finden sich die drei Strukturelemente des Ausdruckszusammenhangs in einen thematisch-begrifflichen Kontext eingespannt, der das Problem des Ausdrucks (bzw. der „Artikulation“) auf eine Art Subtext reduziert und stattdessen eine schematische Gegenüberstellung von Universalität und („kultureller“) Partikularität in den Vordergrund stellt: Das Ausgedrückte ist das (wenn auch nur teilweise artikulierte) Universelle, die je manifesten Ausdrücke sind „kulturell“ variable Artikulationen und die Ausdrucksinstanzen jene Ausgeschlossenen, die kraft ihrer Artikulation Anspruch darauf erheben, in die bestehenden Formulierungen des Universellen Eingang zu finden. So sehr „Artikulation“ jedoch von Butler als eigentliche Triebkraft des „performativen Widerspruchs“ (und damit der politisch-sozialen Veränderung) dargestellt wird, so dunkel bleibt ihr Begriff der Artikulation selbst. Die Konsequenzen dieser Dunkelheit betreffen zunächst ganz allgemein die stillschweigend getroffene, aber keineswegs selbstverständliche Annahme, der Austrag von performativen Widersprüchen auf einer Ebene der Artikulation bedeute per se eine (emanzipatorische) Transformation bestehender politisch-sozialer Ein- und Ausschlussverhältnisse. Sie betreffen im Spezielleren beispielsweise die Frage, wie – und zwar auf der Ebene der Artikulation selbst – „emanzipatorische“ Artikulationen, die einen Rechtsanspruch auf Einschließung in die bestehenden Formulierungen anmelden, von solchen Artikulationen unterschieden werden können, die aus einer vermeintlichen oder tatsächlichen Position des Ausgeschlossenseins ihr „Recht“ gerade über den Ausschluss anderer geltend zu machen versuchen.8 In beiden Fällen stellt sich das Problem des Ausdrucks als Problem der Entsprechung dar, und zwar nicht nur in Gestalt der Frage, wie sehr Artikulationen gegebenen politisch-sozialen Ausschlussverhältnissen oder, allgemeiner (und zumal Herrschaftsausübung nicht allein über Ausschließungen erfolgt), Herrschaftsverhältnissen entsprechen, sondern auch in Gestalt der Frage, welcher Art diese Entsprechung ist. In Bezug auf die Frage nach der „kulturellen Übersetzung“: Welche Art von Entsprechung gibt es zwischen dem, was als „kulturelle Übersetzung“ bezeichnet wird, sowie der Frage politisch-sozialer Veränderung, auf die dieser Begriff eine Antwort zu geben beansprucht? Es wäre natürlich unsinnig, zu behaupten, diese Probleme seien innerhalb der den Cultural Studies nahe stehenden neueren Kulturtheorien und politischen Theorien gänzlich unbeachtet geblieben. Und nicht weniger unsinnig wäre die Behauptung, diejenigen, die sich diesen Problemen gestellt haben, hätten eine einheitliche Antwort darauf formuliert. Nicht alle indessen haben sich ihnen tatsächlich gestellt: Homi Bhabha selbst etwa, von dem Butler den Begriff der „kulturellen Übersetzung“ übernimmt, begnügt sich damit, das Problem des Ausdrucks zugunsten einer „Textualität“ vom Tisch zu wischen, auf die sich die kulturtheoretische Analyse problemlos beziehen kann und die zugleich mit dem Politischen in eins gesetzt wird: „Textualität ist nicht einfach ein zweitrangiger ideologischer Ausdruck oder ein sprachliches Symptom eines vorgegebenen politischen Subjekts“; vielmehr sei umgekehrt, so Bhabha im unmittelbar folgenden Satz, „das politische Subjekt (the political subject) – so wie in der Tat das Thema/Subjekt der Politik (the subject of politics) – […] ein diskursives Ereignis“.9 Weiter führend – und zugleich indirekt als vorauseilender Kommentar zu Bhabha lesbar – ist demgegenüber die folgende Passage aus Stuart Halls 1992 gehaltenem Vortrag „Cultural Studies and its Theoretical Legacies“: „Es wird von uns verlangt, davon auszugehen, dass Kultur immer durch ihre Textualitäten hindurch wirken wird – und, gleichzeitig, dass Textualität nie genug ist. Aber nie genug wovon? Nie genug wofür? Es ist extrem schwer, diese Frage zu beantworten, denn philosophisch gesehen war es im Bereich der Cultural Studies immer unmöglich […], irgend so etwas wie einen adäquaten theoretischen Begriff kultureller Beziehungen und ihrer Effekte zu formulieren.“10 Halls offensichtliche Beunruhigung betrifft aus der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht einfach eine „außertextuelle“ Ebene, in der das Ungenügen der Textualität einer Sättigung zuzuführen wäre, sondern präzise das Problem des Ausdrucks, das heißt die Frage nach der der Textualität selbst eingeschriebenen Ausdrucksstruktur und Ausdrücklichkeit, an der die Fragen nach dem „Wovon“ und „Wofür“ textueller Analysen entscheidbar wären. Und sie stellt einen expliziten Zusammenhang zwischen der angezeigten Schwierigkeit sowie der offen ausgesprochenen Notwendigkeit einer – innerhalb der Cultural Studies oft vermiedenen oder auf allzu allgemeine Auskünfte abgeblendeten – theoretischen Klärung des Kulturbegriffs und seiner Implikationen her. Nicht immer jedoch haben Halls Texte einer solchen Beunruhigung Ausdruck gegeben. In dem medientheoretischen Aufsatz „Encoding/Decoding“ aus dem Jahr 1980 etwa bringt Hall, die theoretisch gänzlich unaufgeklärt bleibende Kategorie der „sozialen Wirklichkeit“ ins Treffen führend, die Ebenen von „Bedeutung“ und „sozialer Wirklichkeit“ zu einer diffusen Überblendung, die es ihm erlaubt, in sämtlichen sozialen Praktiken textuelle Kodierungen zu verorten, an der Macht- und Herrschaftsverhältnisse lesbar werden: „Diese Kodes stellen die Mittel dar, vermöge deren Macht und Ideologie in bestimmten Diskursen bedeutsam werden. Sie führen die Zeichen auf die ‚Landkarten der Bedeutungen zurück, in die jede Kultur eingeordnet wird; und solchen ‚Landkarten der sozialen Wirklichkeit‘ ist die gesamte Bandbreite sozialer Bedeutungen, Praktiken und Bräuche, von Herrschaft und Interesse ‚einbeschrieben‘.“11 Von zentraler Bedeutung ist für unseren Zusammenhang indes der einflussreiche und ebenfalls zuerst 1980 veröffentlichte Aufsatz „Cultural Studies: Two Paradigms“, in dem Hall die Bedeutung der Aufnahme strukturalistischer Denkansätze innerhalb der zunächst „kulturalistisch“ (im Sinne eines Raymond Williams und Edward P. Thompson zugeschriebenen „Kulturalismus“) geprägten Cultural Studies diskutiert. Für den „Kulturalismus“ Williams’ und Thompsons gelte, so Hall: „Sie verstehen die Totalität […] auf eine besondere Weise, nämlich als konkret und historisch bestimmt, wenn auch uneinheitlich in ihren Zusammenhängen. Sie verstehen sie als ‚expressiv‘. Da sie sich ständig von der traditionelleren Analyse weg auf die Ebene der Erfahrung begeben oder die anderen Strukturen und Beziehungen davon ausgehend, wie sie ‚gelebt‘ werden, interpretieren, werden sie in ihrer Akzentsetzung mit Recht (wenn auch nicht im vollen Sinn) als ‚Kulturalisten‘ bezeichnet […].“12 Demgegenüber habe eine strukturalistisch angelegte Analyse drei wesentliche Vorteile: 1) Sie betont die Determiniertheit der Verhältnisse und eröffnet so nicht nur ein Verständnis der Art und Weise, wie bestehende Verhältnisse subjektive Praxen formen und konstituieren, sondern weist auch einen „naive[n] Humanismus mit seiner notwendigen Folgeerscheinung, einer voluntaristischen und populistischen Praxis“13, zurück. 2) Im Gegensatz zur „komplexen Simplizität“ der kulturalistischen Vorstellung einer „expressiven Totalität“, die eine abstrakte Idee menschlicher Tätigkeit als solcher zugrunde lege, erlaube es der Strukturalismus, eine strukturelle Einheit zu denken, „die eher durch die Differenzen zwischen als durch die Homologie von Praktiken konstruiert wird“14. 3) Die dritte Stärke des Strukturalismus sieht Hall schließlich „in seiner Dezentrierung von ‚Erfahrung‘ und in seinem grundlegenden Bemühen, die vernachlässigte Kategorie der ‚Ideologie‘ weiterzuentwickeln“; die authentifizierende Rolle von „Erfahrung“ nämlich hindere den Kulturalismus daran, eine angemessene Ideologiekonzeption auszuarbeiten.15 Nun liegt es mir sicherlich fern, die grundsätzliche Triftigkeit dieser insbesondere von einem Strukturalismus Althusser’scher Prägung inspirierten Einwände gegen eine nach wie vor existierende kulturalistische Tendenz innerhalb der Cultural Studies anzuzweifeln. Nichtsdestotrotz lässt sich an Halls Argumentationsgang sehr deutlich eine Verlagerung aller Konzentration auf Fragen der Determiniertheit (oder auch Überdeterminierheit) von Verhältnissen, der Ideologie oder einer alternativen Konzeption von „kultureller Totalität“ ablesen, während seine Bezugnahme auf die Kategorien der Erfahrung und des Ausdrucks rein negativ bleibt. Die Möglichkeit eines Verständnisses von Erfahrung, das nicht auf eine allgemeine Authentifizierung von menschlichen Praxen und Äußerungen zielt, dennoch aber an der unveräußerlichen Singularität von Erfahrungen festhält und beispielsweise die Determiniertheit von Verhältnissen genau daraufhin befragt, wie sie Erfahrung „blockieren“ (Negt/Kluge), scheint damit versperrt. Und Ähnliches gilt für die Frage des Ausdrucks: Mit der Zurückweisung der Vorstellung einer „expressiven Totalität“ wird die Kategorie des Ausdrucks gleich ganz über Bord geworfen – bzw. in weiten Bereichen der Cultural Studies durch den unverdächtigeren Begriff der „Artikulation“ (mit seinem berühmten Doppelsinn von „Ausdruck“ und „Verknüpfung“) ersetzt, über den ganz offensichtlich eine Ausdrucksstruktur in Anspruch genommen wird, ohne dass diese aber als solche weiter diskutiert würde. Derweilen geistert die „soziale Wirklichkeit“ als nebulose Kategorie durch die Cultural Studies und sucht diese überall dort heim, wo sie ihre politischen Einsätze ernst nehmen.
III. Um Missverständnisse zu vermeiden: In der strukturalistisch geprägten Sprachtheorie – und ich glaube nicht, dass irgendein Weg hinter sie zurückführt – stellt sich das Verhältnis von Ausdruck und Ausgedrücktem (so wie das Verhältnis von Signifikant und Signifikat) entschieden als sprachliches Problem dar. Das Ausgedrückte ist niemals einfach eine außersprachliche Wirklichkeit, der ein bestimmter sprachlicher Ausdruck zugeordnet wäre; wer von dieser Art von Zuordnung ausgeht, hätte alle Mühe, sich ein Phänomen wie Übersetzung zu erklären. Daraus wiederum ist nun aber keineswegs eine Allerweltsaussage des Typs „Alles wird zur Sprache gemacht“ abzuleiten, wie sie ohnehin in den selteneren Fällen als theoretische Behauptung, sondern zumeist als Vorwurf oder Unterstellung formuliert wird. Vielmehr stellt sich die Frage (und diese Frage ist nicht zuletzt für jeglichen theoretischen Diskurs von entscheidender, weil methodologischer Bedeutung), wie sich der Bezug zu irgendeiner „außersprachlichen“ sozialen Wirklichkeit in sprachlichen Äußerungen manifestiert. Emile Benveniste hat dieser Frage eine präzise Formulierung gegeben, als er schrieb: „Im Aussageakt (énonciation) findet sich die Sprache dazu aufgeboten, einen bestimmten Bezug zur Welt auszudrücken.“16 Wir sollten diesen Satz genau lesen, denn er spricht nicht davon, dass sich in der Sprache „die Welt“ ausdrücken ließe. Was sich ausdrücken lässt (d. h. das Ausgedrückte), ist ein Bezug zur Welt, der als ausgedrückter die Form einer sprachlichen Gegebenheit annimmt. Das eigentliche Problem der Referenz, d. h. des Bezugs, den die Sprache selbst zur Welt unterhält, verortet Benveniste nicht in der Sphäre des Ausgedrückten, sondern in jener der Ausdrucksinstanzen: „Die Präsenz des Sprechers in seinem Aussageakt bewirkt, dass jede Instanz der Rede ein Zentrum innerer Referenz konstituiert.“17 Wie ist eine solche Präsenz der SprecherIn in ihrem Aussageakt bzw. eine solche innere Referenz zu verstehen? Benveniste hebt an diesem Punkt die Rolle der in der Linguistik lange vernachlässigten deiktischen („zeigenden“) Begriffe hervor, vor allem von Personalpronomen wie „ich“ und „du“, aber auch von Wörtern wie „dies“, „hier“, „jetzt“ etc.: Die Bedeutung des Wortes „ich“ ist lexikographisch nicht bestimmbar (in Lexika wird man allenfalls eine linguistische oder metalinguistische Reflexion über dieses Wort finden können); sie ist strikt an jene singuläre Ausdrucksinstanz gebunden, die dieses Wort in einem bestimmten Augenblick ausspricht. Durch das Wort „ich“ manifestiert sich mithin eben jene „Präsenz des Sprechers in seiner Äußerung“, durch die eine „innere Referenz“ gewährleistet ist, das heißt der Bezug zwischen der sprachlichen Gegebenheit und jener „nicht-sprachlichen“ – genauer: nicht auf eine sprachliche Gegebenheit reduzierbaren, sondern vielmehr auf ein sprachliches Vermögen verweisenden – „Instanz der Rede“, die in der Äußerung nicht bloß ausgedrückt wird, sondern sich ausdrückt. „Du“, „dies“, „hier“, „dort“, „jetzt“, „morgen“ etc. weisen die Ausdrucksinstanzen zudem als dialogische und in einer Welt situierte aus, und sie eröffnen zugleich Möglichkeiten der „Koreferenz“ (Benveniste), die in jeglicher Kommunikation im Spiel sind. „Soziale Wirklichkeit“ wäre mit Benveniste daher letztlich, um eine treffende Formulierung Roland Barthes’ aufzugreifen, allemal als Wirklichkeit einer „sprechenden Gesellschaft“18 zu begreifen, anstatt sie als ungeklärte Ergänzungskategorie einer primär an „Kodes“, „Textualität“ oder „Repräsentationen“ orientierten kritischen Analyse hinzuzufügen. Und dies bedeutet keineswegs, in irgendeiner Form in naive Anrufungen von „Authentizität“ zurückzufallen, die Stuart Hall zu Recht kritisiert hat. Es bedeutet vielmehr, die komplexen Beziehungen zwischen den singulären gesellschaftlichen Erfahrungen, in denen SprecherInnen und ihre Äußerungen situiert sind, sowie den konkreten Ausdrucksformen neu zu durchdenken, ohne Letztere voreilig – und in totalisierendem Zugriff – auf ideologische Formationen oder Gegenformationen abzublenden. „Authentifizierend“ wirkt die Kategorie der Erfahrung nur dort, wo ihr stets problematischer Bezug zu der Art und Weise, wie ihr Ausdruck verliehen wird, unbeachtet bleibt; oder anders: wo das im Ausdruck Ausgedrückte mit der „inneren Referenz“ identifiziert wird, über die sich die Ausdrucksinstanzen (SprecherInnen) ein Sprechen aneignen und in diesem Sprechen manifestieren. Einer solchen Identifikation sitzen aber letztlich auch, und zwar von der Seite des Ausgedrückten her, jene Kulturtheorien und politischen Theorien auf, die an Kodierungen und Textualitäten beharrlich eine – wenn auch durch widersprüchliche oder einander widerstreitende Praxen belebte – „Grammatik der Kultur“ zu entziffern versuchen, indem die „Landkarten der Bedeutung“ und die „Landkarten der sozialen Wirklichkeit“ zu einer Überblendung gebracht werden. Demgegenüber sei hier abschließend die Möglichkeit einer diagrammatischen Perspektive skizziert. Den Begriff des „Diagramms“ entnehme ich einigen Arbeiten von Deleuze und Guattari, die den Begriff ihrerseits von Foucault aufgreifen, darüber hinaus allerdings im Zusammenhang einer Reihe von Unterscheidungen diskutieren, die auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev zurückgehen.19 Hjelmslev hatte in seinen Prolegomena zu einer Sprachtheorie20 die klassische Unterscheidung von Form und Inhalt unterlaufen sowie den auf Ferdinand de Saussure zurückgehenden strukturalistischen Begriff des Zeichens (Signifikant/Signifikat) kompliziert, indem er in systematischer wie auch in prozessualer Perspektive die Funktive von „Inhalt“ und „Ausdruck“, deren „Solidarität“ erst die Zeichenfunktion gewährleiste, weiter ausdifferenzierte, und zwar in „Inhaltsform“ und „Ausdrucksform“ (als präzisere Namen für die Funktive der Zeichenfunktion) sowie „Inhaltssubstanz“ (Zonen der „Bedeutung“) und „Ausdruckssubstanz“ (von Hjelmslev zunächst als phonetische Zonen diskutiert, worin jedoch der Verweis auf die Instanz der SprecherIn liegt). Die entscheidende Operation Hjelmslevs kann dabei in dem Umstand gesehen werden, dass er die geläufige Unterscheidung zwischen Form (Signifkant) und Inhalt (Signifikat) aufbricht, indem er das Zeichen (die Sprache, aber auch, wie Hjelmslev gegen Ende seiner Prolegomena ausführt, jedes andere semiotische System) an der Kreuzung zwischen der Unterscheidung Form/Substanz einerseits sowie der Unterscheidung Inhalt/Ausdruck andererseits ansiedelt. Es ist hier nicht der Ort, sämtliche Implikationen von Hjelmslevs theoretischer Operation zu diskutieren. Ich beschränke mich daher darauf, einige zentrale Sätze zu zitieren, in sie mündet: „Das Zeichen […] ist – so paradox das scheinen mag – ein Zeichen für eine Inhaltssubstanz und ein Zeichen für eine Ausdruckssubstanz. In diesem Sinn kann gesagt werden, dass das Zeichen ein Zeichen für etwas ist. Andererseits sehen wir keine Rechtfertigung dafür, das Zeichen ein Zeichen allein für die Inhaltssubstanz oder (woran freilich noch niemand gedacht hat) allein für die Ausdruckssubstanz zu nennen. Das Zeichen ist eine Entität mit zwei Seiten, mit einer janusköpfigen Perspektive in zwei Richtungen und mit einer Auswirkung in zwei Richtungen: ‚nach außen‘ in Richtung Ausdruckssubstanz und ‚nach innen‘ in Richtung Inhaltssubstanz.“21 Eine der zentralen Pointe von Hjelmslevs Unterscheidungen liegt also sicherlich darin, dass sie die Ausdruckssubstanz (oder in der hier vorgeschlagenen Terminologie: die Ausdrucksinstanzen) in den Horizont dessen, wofür Zeichen stehen, einrücken. Bezüglich dieser Ausdruckssubstanz gilt schon auf der Ebene einer phonetischen Analyse, dass „fast die gesamte gestreifte [d. h. willkürliche] Muskulatur“22 am Vollzug des Sprechens beteiligt ist (und lassen sich diese körperlichen Vollzüge letztlich von der Gesamtheit körperlicher Vollzüge, einer körperlichen Existenz abtrennen?). Doch es reicht nicht aus, sich mit der phonetischen Ebene zu beschäftigen: Ausdruckssubstanz kann im Falle der geschriebenen Sprache auch eine „graphische Substanz“ sein, und es gibt noch weitere solcher „Substanzen“ wie z. B. „Marineflaggenkodes“.23 Der Begriff der Ausdruckssubstanz verweist also letztlich, wenn wir diese Überlegungen zusammenfassen, auf die leibliche Existenz von SprecherInnen in einer sinnstrukturierten historisch-politischen Welt. Diese Existenz unterliegt nun gewiss den verschiedensten Arten von „Determiniertheit“, doch diese Determiniertheiten korrespondieren mit einem Vermögen, das sich in ihnen aktualisiert und das die Determiniertheiten im Ausdruck bestätigen oder sich aber ihnen widersetzen kann. Nichts daran ist „authentisch“, denn stets schreiben sich körperliche Bestimmungen in diese Aktualisierungen ein und stets schreiben sich bestehende Sinnstrukturierungen in ihnen fort. Mit Benveniste gesprochen: Der ausgedrückte „Bezug zur Welt“ fällt niemals in eins mit jenem Bezug zu Welt, der sich in der Sprache allein über eine „innere Referenz“ dokumentiert, die in irreduzibler Weise auf das Stattfinden von Sprache in einer bestimmten Situation verweist. Aus eben diesem Grund aber ist es unerlässlich, die Ausdrucksformen nicht allein auf ihre komplexen Entsprechungen zu Inhaltsformen – und diese wiederum auf ihre Entsprechungen zu Inhaltssubstanzen – hin zu untersuchen, sondern auch hinsichtlich ihrer komplexen Entsprechungen zu den jeweiligen Ausdruckssubstanzen (Ausdrucksinstanzen). Schwerlich würde man vor diesem Hintergrund auf die Idee verfallen, eine Grammatik der „Kultur“ oder „kultureller Beziehungen“ in den Ausdrucksformen unserer Zeit entziffern zu wollen, und schwerlich auch würde man die emanzipatorischen Perspektiven der Gegenwart ohne weitere Überlegung in einem Prozess der „kulturellen Übersetzung“ verorten können. Sehr viel eher hätte man eine Diagrammatik der Kulturalisierung zu untersuchen, die einerseits unmittelbar auf die Körper der SprecherInnen einwirkt (durch Grenzregime, Arbeitsregime, Sicherheitsregime, Gestaltung oder Unterdrückung von Räumen sozialen Austauschs etc.) und die Artikulationen dieser SprecherInnen andererseits beharrlich darauf festzulegen versucht, Ausdruck „ihrer Kultur“ oder jedenfalls „kultureller“ Ausdruck zu sein. Ein einziges Beispiel: Können wir allen Ernstes von so etwas wie der „Islamisierung“ von Ländern wie Pakistan im Sinne eines „kulturellen“ Phänomens sprechen, ohne beispielsweise der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die zunehmende Verbreitung von Islamschulen (madâris) in einem Verhältnis der Entsprechung zu einem öffentlichen Bildungsbudget von lediglich 1,8 % des pakistanischen BIP (und mithin dem Verfall des öffentlichen Bildungswesens) steht, während die Militär- und Sicherheitsausgaben in Zeiten der Diktatur und des internationalen „Krieges gegen den Terror“ (in dessen Logik die Islamschulen wiederum fälschlicherweise mit „Brutstätten des Terrors“ identifiziert werden) ungeahnte Höhen erreichen?24 Diese
Art von Diagrammatik gälte es, so schwierig dies heute scheint,
zu analysieren; und wenn die Einsätze der Übersetzung –
wie im Übrigen auch ihre Grenzen – darin liegen, „andere,
alternative Zeichen“ (Jakobson) zu finden, so wäre heute
zuallererst daran gelegen, die Zeichen wieder aus ihrer Kolonisierung
durch die „Kultur“ zu befreien. --- 1 Roman Jakobson, „Linguistische Aspekte der Übersetzung“, in: Ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 482 f. 2 Jakobsons Beispiel für eine gesteigerte Explizitheit ist die innersprachliche Übersetzung des englischen Wortes bachelor („Junggeselle“, aber eben auch die Bezeichnung eines akademischen Titels) durch unmarried man („unverheirateter Mann“). 3 Eine Dokumentation dieser Debatte ist erschienen in: M. Nussbaum with Respondents, For the Love of Country: Debating the Limits of Patriotism, Boston: Beacon Press 1996; Butlers Beitrag „Universality in Culture“ findet sich auf den Seiten 45–52. Vgl. für eine kritische Diskussion dieser Debatte auch Boris Buden, Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar?, Berlin: Kadmos 2005, S. 171–176. 4 Ebd., S. 45. 5 Ebd., S. 46. 6 Ebd., S. 48. 7 Ebd., S. 49 ff. 8 Dagegen ist nicht einzuwenden, solche Artikulationen unterhielten dann eben keinen Bezug zum „Universellen“. Es mag an dieser Stelle ausreichen (auch wenn das Problem keineswegs auf die politische Rechte beschränkt ist), mit Etienne Balibar daran zu erinnern, dass auch der Rassismus ein Universalismus ist. 9 Homi Bhabha, The Location of Culture, London / New York: Routledge 1994, S. 23. 10 S. Hall, „Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies“, in: Ders., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt (Ausgewählte Schriften 3), Hamburg: Argument 2000, S. 34–51, hier: S. 46. 11 S. Hall, „Kodieren/Dekodieren“, in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation (Ausgewählte Schriften 4), Hamburg: Argument 2004, S. 66–80, hier: S. 74 (Übers. modifiziert). 12 S. Hall, „Die zwei Paradigmen der Cultural Studies“, in: K. H. Hörning / R. Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 13–42, hier: S. 26. 13 Vgl. ebd., S. 32. 14 Vgl. ebd., S. 34. 15 Vgl. ebd., S. 35 f. 16 Emile Benveniste, „L’appareil formel de l’énonciation“, in: Ders., Problèmes de linguistique générale 2, Paris: Gallimard 1974, S. 79–88, hier: S. 82. 17 Ebd. 18 Vgl. Roland Barthes, „Warum ich Benveniste liebe“, in: Ders., Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), Franfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 188–193, hier: S. 191. 19 Vgl. z. B. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/M.: Suhrkamp 21995, S. 52 ff. u. S. 102 ff.; Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1997, S. 64 ff., S. 156 u. S. 194 (Anm.); sowie Félix Guattari, „Hjelmslev et l’immanence“, in: Ders., Ecrits pour l’Anti-Œdipe, Paris: Lignes & Manifestes 2004, S. 291–320. Ich danke Klaus Neundlinger für wertvolle Hinweise. 20 Vgl. Louis Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language, Madison: University of Wisconsin Press 1961, bes. S. 47–60. 21 Ebd., S. 58. 22 Ebd., S. 103; Hjelmslev greift hier auf eine Studie von E. u. K. Zwirner zurück. 23 Vgl. ebd., S. 103 f. 24 Vgl. William Dalrymple, „Voyage à l’intérieur des madrasa pakistanaises“, in: Le monde diplomatique, März 2006, S. 4 f. |
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