03 2008 Die Bedeutung der Regionen überdenkenÜbersetzung und KatastropheÜbersetzt von Birgit Mennel und Tom Waibel Die Globalisierung hat eine beträchtliche Veränderung der Bedeutung geokultureller Regionen in der Welt mit sich gebracht. Abseits der dadurch möglicherweise hervorgerufenen Aufgeregtheit oder Besorgnis bietet dies zweifellos eine Gelegenheit, die Bedeutung der Regionen ebenso zu überdenken wie die Rolle, die humanistische Erkenntnis in deren Konstruktion spielt. Die beispiellose Welle globaler Deterritorialisierung, ausgelöst durch die kolonialen Zusammenstöße seit dem 15. Jahrhundert, begründete das moderne Konzept der Regionen auf Basis der Katastrophe. Die Aufteilung dieses neu gebildeten einheitlichen Erdballs in geokulturelle Makroregionen oder „Zivilisationen“, die vormoderne Imperien spiegelten, sollte als eine Antwort (in Form von Reterritorialisierung) auf die Katastrophe kolonialer Deterritorialisierung betrachtet werden. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese räumlichen Regionen während der gesamten Periode der kolonialen Moderne in einer im Wesentlichen hierarchischen Manier als eine zeitliche Organisation begriffen wurden, in der eine Region allen anderen „voraus“ war. Die gegenwärtige Bewegung von Nationalstaaten zu Zivilisationen einerseits sowie von geokulturellen Makroregionen zu postmodernen, netzwerkartigen Organisationsformen andererseits lenkt erneut die Aufmerksamkeit darauf, wie globale Regionen und die sie begleitenden raumzeitlichen Hierarchien reorganisiert werden. Es ist entscheidend festzustellen, dass es sich bei den Hierarchien von zentralem Belang, in sehr groben Begriffen gesprochen, um zwei verschiedene Ordnungen handelt: die des Sozialen und die des Kognitiven. Beide haben ihre entsprechenden Besonderheiten, doch sind wir immer noch weit davon entfernt zu verstehen, in welcher Weise das Verhältnis zwischen diesen beiden Ordnungen tatsächlich bestimmt, wie wir sie unabhängig voneinander begreifen. Soweit es insbesondere um die kulturelle Konzeption der Regionen, vorwiegend der Nation sowie der Zivilisation, geht, sind wir fortwährend in einem Oszillieren zwischen dem Kognitiven und dem Sozialen gefangen. An sich sollten sie als Ergänzung zu Michel Foucaults Beschreibung des „Menschen“ in Die Ordnung der Dinge[1], als amphibologische Kombination transzendentaler und empirischer Anteile verstanden werden. Mit anderen Worten: Die geokulturellen Regionen bilden eine Art – auf unentscheidbare Weise soziales und kognitives – „Habitat“, das mit der „empirisch-transzendentalen Dublette“ korrespondiert, die der moderne Mensch ist. Gerade weil geokulturelle Regionen nicht nur die Trennung zwischen dem Sozialen und dem Kognitiven überbrücken, spielt insbesondere Übersetzung eine wichtige institutionelle Rolle. Keine Institution verkörpert diese Rolle besser als die moderne Universität. „Die Universität der Kultur“, die Bill Readings als eines der zwei großen Modelle der modernen Universität beschreibt (das andere ist das technisch-wissenschaftliche Modell), muss in der Tat als Übersetzungsinstitution betrachtet werden. Es handelt sich um eine nationale Übersetzungsinstitution, die mit der Aufgabe betraut ist, alle Erkenntnis in oder aus nationalisierten Idiomen zu „übersetzen“, während sie zugleich die innere (das heißt nationalisierte) Arbeitsteilung auf Basis sozialer Klassen allgemein legitimiert. Ihr erklärtes Ziel ist, über den tatsächlichen Übersetzungsinhalt hinaus, die Institutionalisierung und Regulierung der Vernunft, die das paradigmatische Quasi-Objekt moderner Räumlichkeit bildet – jene komplexen Modelle von „Denken + Welt“, die wir als geokulturelle Regionen kennen. Die Vernunft, die über die Verteilung der Heterogenität zwischen Denken und Welt regiert – die heißbegehrte „magische Kugel“ der modernen Gesellschaftstheorie im Allgemeinen – wird landläufig unter dem Namen „Rationalität“ angerufen. Es ist kein Zufall, dass das herrschende Bild von Rationalität in der Moderne ein Quasi-Objekt darstellt, das sowohl die Hierarchie der Erkenntnis als auch jene der sozialen Organisation in einer einzigen geokulturellen Einheit zusammenstellt, die notorisch „der Westen“ genannt wird. Wie Diskussionen in internationalen Treffen und Foren wiederholt zeigen, ist es unmöglich, die in primitiver Manier auf den „Westen“ hinauslaufende Ratio zwischen Denken und Welt zu berücksichtigen, ohne dem Problem des Ressentiments zu begegnen. Die verschiedenen postkolonialen, postmodernen und feministischen Kritiken der „westlichen Rationalität“ haben das spezielle Verdienst, uns darauf hinzuweisen, dass das Ressentiment das unterdrückte Andere dieser besonderen Form von Rationalität ist. In Organized Networks[2], einer kurzen, aber nachdrücklichen Arbeit über die von netzwerkartigen sozialen Organisationsformen bewirkten Transformationen, veranschaulicht Ned Rossiter, wie die neuen Formen (des)organisierter Netzwerke nicht nur die geokulturellen Regionen der Hochmoderne verlagern, sondern tatsächlich ganz neuartige Formen der Ratio zwischen dem Sozialen und dem Kognitiven zutage fördern. Bezeichnenderweise gehen diese neuen, netzwerkartigen Formen der Ratio mit einer tiefgreifenden Aneignung der konventionellen, auf ethnolinguistischen Modellen basierenden geokulturellen Regionen einher. Dennoch fungieren diese Regionen nicht wirklich als „Grund“. Ihre Referenzfunktion verlagerte sich von einem räumlichen auf ein soziales Register, das die bewegliche Dynamik von Mehrheits-/Minderheitsverhältnissen überall auf der Welt betrifft. Offensichtlich impliziert die Verschiebung der modernen geokulturellen Regionen durch das postmoderne Netzwerk nicht, dass wir einen Ausweg aus dem Dilemma der Quasi-Objekte gefunden haben! Das ganze Problem der Regionen als zusammengesetzte oder amphibologische Modelle transzendentaler und empirischer, kognitiver und sozialer Ebenen wird im Gegenteil durch die wesentlich epidemische Natur der postmodernen Sozialität und Erkenntnis nur weiter vervielfältigt. Eine der Herausforderungen, vor die uns diese Verschiebung stellt, besteht darin, dass sie sich ereignet, ohne der Kritik des kolonialen und anthropologischen Vermächtnisses geokultureller Regionen genügend Zeit zu lassen, bilateral in Umlauf gebracht zu werden – auf eine Weise also, die die koloniale Aufteilung der Welt in „den Westen und den Rest“ überschreiten würde – und dergestalt ein völlig neues, auf alternativen Vergleichsbegriffen und alternativen Übersetzungsmodellen basierendes Verständnis von „Regionen“ zu produzieren. In der Tat gewinnt eine solche bilaterale Kritik heute, angesichts des neuen, „pro-aktiven“ Interventionismus und der Zunahme von auf Ressentiment beruhenden geokulturellen Politiken im Sinne einer „Rückkehr zum Westen und Rückkehr zum Nicht-Westen“, in dem Maß an Bedeutung, wie sie immer seltener wird. Die neue Rationalität, befördert durch die Ablösung von geokulturellen Regionen durch netzwerkartige Regionen, birgt einen wichtigen Widerspruch in sich, der den Übergang zu alternativen Vergangenheiten ebenso blockiert wie eine neue Zukunft. Äußerst kommunikationsfähig, verbreitet sie sich wie eine Seuche; doch gerade diese Kommunikationsgeschwindigkeit bürdet normative Schranken von „Intelligibilität“ auf, und zwar in Übereinstimmung mit vorgegebenen Codes. Die von der „Übersetzung“ – als Modus einer sozialen Praxis, wie Naoki Sakai[3] vorschlägt, und nicht als Modus einer „epistemologischen Wiedergabe“ – angebotene Möglichkeit bietet die Chance, in Begriffen dynamischer, generativer Verhältnisse zu denken, anstatt in normativen Identitätsblöcken. Das heißt, dass das Verhältnis in einem zeitlichen Sinn vorrangig wird: Die Identitäten (zumindest soweit wir normalerweise über sie sprechen) bilden sich erst nach dem relationalen Zusammentreffen heraus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es würde wenig Sinn machen, den Westen als eine besondere Identität oder als ein Amalgam bestimmender Kennzeichen zu besprechen bzw. zu kritisieren, da seine Herausbildung selbst (als Übersetzungsmodus, aber sicherlich nicht als der einzig mögliche!) sowohl festlegt, was wir wissen, als auch wer es weiß. Die Varianten der Kritik, die von einer Identität des Westens ausgehen und darüber das „westliche Verhältnis“ ignorieren, lassen sich leicht von der intrinsisch-hierarchischen Struktur des „Westens und der Anderen“ vereinnahmen (was immer auch die Umkehrungen und Permutationen sein mögen). Die Übersetzung in ihrer epistemologischen Version ist also nicht nur ein Mittel zur Absonderung des wesentlich Hybriden, sondern auch ein Mittel, um zu gewährleisten, dass diese Absonderung nicht von beiden Seiten der Trennung her verstanden werden kann, es sei denn auf differenzielle Weise, strukturell entworfen, um Ressentiment hervorzubringen. Das Ressentiment ist nicht so sehr ein psychologischer Zustand, als vielmehr eine Ökonomie des Ertrags (bzw. der Erträge), die die Herausbildung der subjektiven Identität über die Struktur projektiver Erträge betrifft. Innerhalb dieser Ökonomie begründet die Übersetzung (in ihrer epistemologischen Version) eine Form der „epistemologischen Wiedergabe“. Indem die AnwenderInnen in geschlossene Räume von essenziell biopolitischer Art gelockt werden, bildet diese Wiedergabe die Basis einer Ordnung, die das Soziale in grundlegender Weise an das Kognitive koppelt, da die Möglichkeit einer Kommunikation, die die Kreisläufe dieser Absonderung nicht durchläuft, unterbunden wird: erstens, weil Übersetzung wohl einen integralen Bestandteil der Nationalsprache jeder Nation bildet, aber dennoch immerfort als zweitrangiger bzw. außergewöhnlicher Sprachgebrauch dargestellt wird; zweitens, weil die Notwendigkeit der „eigentlichen Übersetzung“ zwischen Sprachen als Anzeichen dafür gilt, dass die innerhalb einer einzelnen Sprache existierende Heterogenität einer völlig anderen Ordnung angehört; drittens, weil die Pluralität von Nationalsprachen den Umstand verschleiert, dass diese einer kollektiven Ordnung zugehören; viertens, weil die Sprache selbst, in der modernen Schule, unmittelbar zum „ideologischen Staatsapparat (ISA)“ im Sinne Althussers wird; fünftens, weil Sprache als ISA auf der Grundlage von Ressentiment geformte Subjekte hervorbringt (da beinahe jede/jeder in der Schule die Erfahrung gemacht haben dürfte, für falsche Grammatik, Anwendung oder Aussprache korrigiert worden zu sein); sechstens, weil es keinen gemeinsamen Maßstab für verschiedene Viktimisierungserfahrungen gibt und die Übersetzung als epistemologische Wiedergabe die faktische Unmöglichkeit voraussetzt, anders zu werden, als man angeblich ist. In diesem Sinn waltet Übersetzung also über jene soziale und kognitive Institution regionaler Rationalitäten, die als „Kulturen“ bekannt sind. Wir brauchen eine neue Art von soziokognitiver Bewegung oder Übersetzungspraxis, die diese Ratio bzw. dieses Verhältnis zur Gänze adressiert und eine alternative Rationalität produziert, die es erlaubt, dass neue soziale und kognitive Verhältnisse sich in Formen ereignen, die die Bedeutung der „Regionen“ völlig neu definieren. Der Umstand, dass eine solche massive Reorganisation gegenwärtig stattfindet, wird heute überall offenbar. Die Frage bleibt, ob diese Reorganisation von destruktiven Kräften der Selbstimmunisierung/Übergefährdung geleitet wird, die sich um geokulturelle Regionen zu einer Einheit zusammenfügen – ein Weg, der in die Katastrophe führt –, oder ob wir diese Veränderungen gemeinsam zugunsten einer neuen Erfindung nutzen können. Vier grundlegende Charakteristika der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse sind für die Belange der Übersetzungstheorie sowie ihren Bezug auf unser Regionenverständnis von besonderem Interesse: 1. die Neugestaltung geografischer Maßstäbe; 2. das damit einhergehende Auftauchen desorganisierter Netzwerke; 3. die zentrale Rolle technologiegestützter Kommunikationsformen von nicht zwangsläufig konventionell textlicher oder gar mündlicher Natur, die Temporalitäten unterbrechen und die Rolle von „ÜbersetzerInnen“ in neue Verhältnisse von Produktion und Konsumption sowie in neue Lebensformen verlagern; und 4. die technologiegestützte Dominanz des globalen Englisch sowie die damit einhergehende Prekarität anderer Sprachen. Michael Cronin, Autor der vermutlich meistgelesenen Arbeit über das Verhältnis von Globalisierung und Übersetzung, berichtet ausführlich über die unterschiedlichen Weisen, wie Übersetzung als Form einer sozialen Praxis durch ein neues System immaterieller Arbeit in Beschlag genommen wird. In diesem System werden Affekte und Erkenntnis im Rahmen der Erzeugung neuer Güter aufgewertet, die geeignet scheinen, Texte als Hauptanliegen eines zukünftigen übersetzerischen Austauschs zu ersetzen. Am Ende dieser gut dokumentierten Darstellung plädiert Cronin eloquent für die „linguistische Differenz“. Indem er an zwei Fronten gegen die Extremfälle der Homogenisierung und Parzellierung argumentiert, tritt er für „minoritäre“ Sprachen wie etwa das Irische ein, die sich gegenüber dem Angriff des globalen Englisch und der davon diktierten Technologien der Beschleunigung, Erweiterung und Kommodifizierung strukturell schadlos halten. Die Figur dieses sich Schadloshaltens ist letztendlich biopolitisch und katastrophisch. Im letzten Kapitel von Translation und Globalization[4] bringt Cronin eine ökologische Metapher in Anschlag – die „Zerbrechlichkeit des linguistischen Ökosystems“ –, um die Zwangslage zu beschreiben, in der sich Minderheitensprachen heute befinden. Cronin ist nicht der Einzige, der diese Metapher verwendet; vielmehr schöpft er seine Inspiration aus dem aufstrebenden transdisziplinären Studienfeld, das unter dem Namen „Biokulturelle Diversität“ bekannt ist (es handelt sich um den Titel eines oft zitierten Konferenzbandes, herausgegeben von Luisa Maffi, Faktultätsmitglied der University of California, Berkeley, eine der wichtigsten UnterstützerInnen des Konzepts), und aus dem damit korrespondierenden Begriff „Gefährdete Sprachen“. Der UNESCO zufolge ist beinahe die Hälfte der etwa 6000 noch bestehenden Sprachen der Welt „gefährdet“. 96 Prozent der Sprachen der Welt werden von nur vier Prozent der Weltbevölkerung gesprochen, und von diesen Sprachen haben neunzig Prozent keine Internetpräsenz. Demzufolge ist der Status der meisten Sprachen heute extrem prekär (es handelt sich dabei überwiegend um indigene Sprachen, die den Politiken eines einzelnen Staates unterworfen sind) – vielleicht mit Ausnahme der 225 Sprachen, die offizielle Anerkennung durch die verschiedenen Mitgliedsstaaten[5] der UNESCO genießen. Cronin legt uns nahe, die Entsprechung zu jenem immanenten Widerspruch zu erkennen, der ans Innerste der „Entwicklung“ moderner Gesellschaften rührt: Obwohl diese Gesellschaften nach dem Vorbild eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisparadigmas konstruiert wurden, bewirken sie dennoch die immense Zerstörung des natürlichen Umfelds, das sie verstehen wollen. Ebenso wie die Technowissenschaft, zufällig oder nicht, unwissentlich die Auslöschung der Biodiversität mit sich bringt, beschleunigt die Globalisierung das gut dokumentierte Verschwinden von – in ethnischen Begriffen verstandener – linguistischer Differenz, und zwar im globalen Ausmaß von etwa einer im Verschwinden begriffenen Sprache alle zwei Wochen. Kraft dieser ökologischen Metapher, die das gesamte letzte Kapitel seiner wegweisenden Arbeit durchzieht, fordert Cronin die Verteidigung der linguistischen Differenz gegen die verheerenden Auswirkungen des neuen „Kolonialismus“ – die Homogenisierung aller sozialen Beziehungen in die linguistisch durch global dominante Sprachen repräsentierte Warenform unter der Schirmherrschaft neoliberaler Globalisierung. Klone, gefährdete Arten, Bio(-kulturelle)-Diversität … – dies sind nicht nur der biologischen Welt entlehnte Metaphern, die jetzt auf Sprachen und Kulturen bezogen werden, sondern auch machtvolle Organisationsschemata, die die Verknüpfung von Objekten und Diskursen verschiedener – politischer, juridischer, biologischer und linguistischer – Disziplinen ebenso ermöglichen wie transdisziplinäre Modellierungen. Seit in der Deklaration von Belem verlautbart wurde, dass „zwischen der kulturellen und der biologischen Diversität eine unauflösliche Verbindung besteht“[6], kommt es auch zusehends zu einem verstärkten Einsatz sozialer und kognitiver Kräfte zur Erfassung augenblicklicher katastrophischer Trends auf „biokultureller“ Ebene, die parallel zu den öko-bio-logischen Szenarien des globalen Kollaps verlaufen. Der zunehmende Einsatz einer öko-bio-logischen Matrix zur Beschreibung der Transformation von linguistischer Differenz drängt uns dazu, das Verhältnis zwischen Übersetzung und einem weiteren charakteristischen Aspekt der Globalisierung zu befragen, der üblicherweise nicht mit Übersetzung in Verbindung gebracht wird: den der drohenden totalen Katastrophe. In einem Zeitalter, in dem die Aussicht auf ein Unglück[7], ein nicht vertretbares Risiko[8] und eine Katastrophe[9] irreversibel, gewaltig und global drohend vor uns auftaucht, scheint Sprache (und in der Folge auch Übersetzung) noch ein weiteres Katastrophenszenario darzubieten, das mit der drohenden Gefahr ebenso in Verbindung steht wie mit der sich tatsächlich ereignenden Zerstörung des biologischen Lebens auf diesem Planeten. Wir sind in ein Zeitalter eingetreten, in dem eine großflächige öko-bio-logische Katastrophe, von Viren und UV-Strahlen ausgelöste, bis hin zur Katastrophe des Klimawandels und der Artenvernichtung, das tagtägliche Leben bestimmt und die postmoderne Gesellschaft in eine unerbittliche Suche nach völliger Immunisierung vor Zerstörung zwingt. Soweit Übersetzung, wie Cronin vorschlägt, eine brauchbare prophylaktische Methode zum Schutz prekärer Sprachen vor dem Verschwinden wäre, gehört sie sicherlich zur Kategorie einer voraussichtlichen Katastrophe. Eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen der Zeitlichkeit der Katastrophe und jener der Übersetzung ist nicht zu leugnen. Das heutige internationale Übersetzungsregime gründet selbst auf einer unilateralen Politik proaktiver Zeitlichkeit, die die normativen Identitäten, die in der Gegenwart aus Verteidigungsgründen begehrt werden, auf die Vergangenheit projiziert. Aber das Aufkommen von Echtzeit-Informationstechnologien sowie die zusehends weiter verbreitete Anwendung von maschinengestützter Übersetzung führen ein Element der Simultanität ein, das die Kausalbeziehung des katastrophischen Ereignisses erschüttert und sogar ins Gegenteil verkehrt. Angesichts solcher Chronopolitiken stellt sich die Frage nach anderen existierenden Möglichkeiten abseits einer defensiven Bewahrung. Seit dem Aufkommen von globaler Deterritorialisierung im großen Stil wurden Sprache und Kultur als eine Art Immunreaktionssystem zur Induktion einer post-katastrophischen Reterritorialisierung miteinander verknüpft. Der Preis einer solchen, durch den Nationalstaat verkörperten Reterritorialisierung war die fortschreitende Eliminierung von sprachlicher Variation durch das Instrument der standardisierten Nationalsprache. Aber in welchem Maße kann die bisherige Antwort auf die Katastrophe – die erzwungene Reterritorialisierung – überhaupt Wirksamkeit entfalten, wenn die Beziehung zwischen Katastrophe und Regionalität im Zeitalter der Globalisierung eine neue Krise durchläuft? Lässt sich das durch „biokulturelle Diversität“ dargebotene transdisziplinäre und transnationale Modell im Dienst einer linguistisch-kulturellen oder sogar biokulturellen Erfindung überhaupt zur Anwendung bringen, oder hat die „Ontologie des Unglücks“[10] im Kern moderner Technowissenschaft das Wesen dieser Erfindung bereits bis zur Disqualifizierung seiner Möglichkeiten kompromittiert? Welcherlei versteckte Beziehung besteht zwischen der Suche nach defensivem Schutz und den nun in Gang befindlichen Zerstörungsprozessen? Diese Fragen haben zweifellos einen Bezug zu einer politischen Dimension, da sie nach kollektiver Handlung, dem traditionellen Bereich moderner Politik, verlangen. Aber es gibt noch immer viele Zugänge, bei denen wir nicht wissen, wie sich diese Fragen und Verhältnisse in ein politisches Register „übersetzen“ lassen. Wir sind uns heute zunehmend dessen bewusst, dass die Prävention dem Machtapparat als Vorwand für äußerst gewalttätige invasive Interventionen dienen kann. Und wie es das Wort „biokulturell“ nahelegt, handelt es sich dabei nicht nur um politische Fragen kultureller Art, wenngleich die Hauptachse des „biokulturellen“ Ansatzes Gefallen daran zu finden scheint, Leben als etwas zu Bewahrendes und nicht als etwas zu Schaffendes zu betrachten. Diese entfremdete Gegenüberstellung wäre machtlos, in Ermangelung der Fähigkeit, über jenen anderen Teil des sozialen Körpers zu sprechen, der auf eine Neugestaltung des Planeten zielt. Mit dem Anbruch des Zeitalters genetischen Engineerings, in dem maßgeschneiderte Mikroben als mögliches Kommunikationsmittel[11] ins Auge gefasst werden, ist die Herausforderung, über Übersetzung in immanent entfremdeten Kategorien nachzudenken, selbst ein Teil der Katastrophe, die wir zu verhindern suchen. Gerade im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Bewahren und Schöpfen erweist sich Foucaults Konzept der Biopolitik als besonders nützlich. Seine Idee von Biopolitik betont die Notwendigkeit, die Macht über das Leben und die Macht des Lebens zusammen und gleichzeitig zu denken: Macht und Widerstand sind für Foucault untrennbar miteinander verbunden. Widerstand darf nicht nur als reaktive, das heißt als dialektische Machtform, als das „Andere“ der Macht, betrachtet werden, sondern muss vielmehr als generativ begriffen werden, als Produzent von Subjekten, Praxen und bezeichnenderweise von Sprachen. Die Kategorie des Biopolitischen entpuppt sich als ein konstitutives Moment und nicht nur als eine Reihe von Zwängen, die „Menschen“ mit der Geburt des klassischen Liberalismus in „Arbeit“ verwandeln. Die Vorstellung einer immanenten, materiellen, den Biopolitiken zugrundeliegenden Ontologie steht in engem Zusammenhang mit einer Wende der Biomacht hin zu Politiken, deren Terrain das Leben und die Wiederaneignung des Lebens ist. Die Betonung liegt nunmehr auf der Produktion als Schöpfung anstatt als Reproduktion, und dies aufgrund der Behauptung, dass der einzige Weg, um eine Asymmetrie zwischen Macht und Widerstand zu etablieren, über die Schöpfung verläuft. Andernfalls würde Widerstand auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Gegenkraft, die die Macht möglicherweise festigt (und wieder einsetzt). Macht agiert über regulierende Formen; Biomacht agiert über Lebensformen. Die Biopolitik dagegen bringt Innovation im doppelten Sinn des Ausdrucks ins Leben. Ist die in den Politiken biokultureller Diversität angezeigte Gegenüberstellung zwischen Bewahrung und Innovation eine typische Anordnung von Biomacht, dann müssen wir uns fragen, ob eine biopolitische Alternative existiert. Da die Biopolitiken von Übersetzung und Katastrophe genau im Punkt einer postmodernen, epidemischen Sozialität und einer immunologischen Antwort zusammenlaufen, werde ich als Schlussfolgerung eine Arbeitshypothese vorschlagen: Die Biopolitiken der Übersetzung können durch die Metaphern „Virus“ und „Bakterie“ gewinnbringend verstanden werden. Die Übersetzung in Form der von Sakai kritisierten „epistemologischen Wiedergabe“ ist ein spezifisch modernes Regime geokultureller Differenz, das dem jüngst von zahlreichen TheoretikerInnen moderner Demokratie (Alain Brossat, Jacques Derrida, Roberto Esposito) identifizierten immunologischen Modell der Gemeinschaft annähernd folgt. Dieses immunologische Übersetzungsregime ruft uns das, was Bruno Latour „bakterielle Kultur“ nennt, in Erinnerung: ein Name für jenes Regime der Moderne, das hybride Objekte zwar verursacht, sie aber dennoch hinter streng differenzierten Repräsentationssystemen verbirgt. „Übersetzung“ war eine der Hauptformen zur Maskierung einer solch essenziellen Hybridität. Thomas Lamarre bringt ein ausschlaggebendes geopolitisches Element ein, das in Latours Verständnis der Moderne fehlt, indem er die Entwicklung der „bakteriellen Kultur“ direkt im Kolonialismus situiert. Dieses Vorgehen macht deutlich, dass „Kultur“ nicht nur eine Beziehung zwischen Innen und Außen ist, sondern auch eine implizite Verbindung zwischen zwei völlig verschiedenen Formen der Arbeitsteilung beschreibt (die Marx’sche Trennung zwischen manueller und intellektueller Arbeit einerseits und die Foucault’sche Trennung zwischen verschiedenen Disziplinen andererseits). Im kolonialen Regime wurden beide Formen der Arbeitsteilung auf jeweils unterschiedliche Weise mit einer Biopolitik der anthropologischen Differenz verknüpft. Wir sind nun daran interessiert, die bakterielle Logik der kolonialen Moderne insbesondere im Hinblick darauf zu untersuchen, wie „der Westen“ die verallgemeinerte Form einer paradigmatischen immunologischen Region annahm, die angeblich ein „Gegengift“ für die Probleme aller anderen Regionen bieten sollte. Dergestalt wollen wir den Unterschied zur neuen Netzwerklogik betonen – also zur Logik des Virus bzw. zur viralen Logik. Erstens wird der Begriff „Virus“ innerhalb eines besonderen Feldes oder einer bestimmten Disziplin wirksam, und zwar zur Bezeichnung und Klassifizierung einer Reihe von unterschiedlichen Mikroorganismen bzw. im Fall der Informatik einer Anzahl von sich selbst replizierenden Programmen. Zweitens wirkt „Virus“ als ein viel generischeres Konzept, das die von Forschungsdisziplinen auferlegten Zwänge zwar umfasst, sich aber auch abseits davon ausbreitet. Es ist genau dieser generische Wert, den der Begriff Virus befördert, und nicht seine spezifische Bedeutung als feldbezügliches besonderes Wort, der seine kulturelle Bedeutung und diskursive Funktionsweise ausmacht. Zweifellos beinhaltet diese Form des Generischen, ebenso wie das Virus, ein fruchtbares Potenzial zur Neuerfindung der „Regionen“. Im Übergang von bakteriellen Kulturen und Zivilisationen zu viralen Netzwerkgesellschaften, den wir heute durchleben, scheint es wahrscheinlich, dass der Übersetzung weiterhin eine wichtige Rolle zukommen wird. Im bakteriellen Regime war Übersetzung ein Mittel zur Keimung von Kulturen. Sich in dieser Gussform haltend, betonen die Translationswissenschaften insbesondere Fragen eines transplantierten Einflusses. Im viralen Regime wird Übersetzung zunehmend als Mittel zur Mutation betrachtet. In diesem Modus betonen die Übersetzungswissenschaften – die gerade erst im Entstehen begriffen sind – die genetische Erfindung. Die Frage, ob wir der bakteriellen Logik kultureller oder zivilisatorischer Regionen gegenüber der viralen Logik postmoderner Netzwerke nostalgisch den Vorzug geben, scheint zwecklos. Die biopolitische Lösung findet sich vielmehr in der Anerkennung der jedem Modell innewohnenden Möglichkeiten sowie in der Trennung dieser beiden Modelle – besonders deshalb, weil sie wahrscheinlich simultan koexistieren und einander nicht in streng zeitlicher Abfolge ablösen. Die beklagenswerte Zerstörung der biokulturellen Diversität, die uns heute vor Augen steht, ist ein integraler Bestandteil der mehr oder minder gewalttätigen Geschichte linguistischer Transformation, die unter der Schirmherrschaft des Nationalstaats in Gang gebracht wurde. Die virale Netzwerklogik beschleunigt diesen Prozess nicht nur, sondern verändert und verzerrt zugleich auch den Maßstab. Anstelle eines vollständigen Plans dafür, welchen Beitrag eine neuerliche Theoretisierung der Übersetzung zur Neuerfindung von „Regionen“ abseits der müden Kategorien von kulturellem „Zusammenprall“ und/oder „Dialog“ zu leisten vermag, können wir diese vorläufige Schlussfolgerung anbieten: Übersetzung ist, wie jeder andere linguistische Austausch auch, sowohl eine Praxis viraler Sozialität wie ein Prozess bakterieller Kultur (bzw. ein Prozess der Bildung* entsprechend Antoine Bermans Erklärung der deutschen Romantik). An sich ist die Vorstellung durchaus möglich, dass die generative Macht der Übersetzung, ihre generische Macht der Mutation, selbst zur Grundlage einer neuartigen Kultur wird. In diesem Sinn bietet sich uns die Übersetzung selbst als Figur des heutigen Gemeinschaftlichen dar. Obwohl wir in keinerlei Weise vorhersagen können, welcherlei Region oder Regionen mit diesem Übersetzungsmodell korrespondieren werden, können wir uns dennoch sicher sein, dass ihre Herausbildung zumindest nicht in Übereinstimmung mit dem destruktiven immunologischen Modell erfolgen wird, das die Region als „Gegengift“ für die biopolitischen Probleme der Katastrophe betrachtet. Thierry Bardini, „Hypervirus: A Clinical Report“, in: 1000 Days of Theory, www.ctheory.net/articles.aspx?id=504 (abgerufen am 12. 4. 2008). Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine neue Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Antoine Berman, The Experience of the Foreign, übers. v. S. Heyvaert, New York: SUNY 1992. Luc Boltanski, Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, übers. v. Michael Tillmann Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2006. Alain Brossat, La démocratie immunitaire, Paris: La Dispute 2003. Timothy Campbell (Hg.) „Bios, Immunity, Life: The Thought of Roberto Esposito“, Sonderausgabe, Diacritics, Vol. 36, Nr. 2, Sommer 2006. Michael Cronin, Translation and Globalization, London, New York: Routledge 2003. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Jean-Pierre Dupuy, Pour un catastrophisme éclair, Paris: Seuil 2004. Roberto Esposito, Bíos: Biopolitica e filosofia, Turin: Einaudi 2004. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Thomas Lamarre, „Bacterial Cultures and Linguistic Colonies: Mori Rintarô’s Experiments with History, Science, and Language“, in: Positions, Vol. 6, Nr. 3, 1998, S. 597–633. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Frédéric Neyrat, Qui Vive? Biopolitique des catastrophes (unveröffentlichtes Manuskript, voraussichtlicher Erscheinungstermin 2008). Jussi Parikka, „Contagion and Repetition: On the Viral Logic of Network Culture“, in: Ephemera Vol. 7, Nr. 2, S. 287–308; vgl.: www.ephemeraweb.org/journal/7-2/7-2index.htm (abgerufen am 12. 4. 2008). Jason Read, The Micro-Politics of Capital: Marx and the Prehistory of the Present, New York: SUNY 2003. Bill Readings, The University in Ruins, Cambridge: Harvard 1997. Ned Rossiter, Organized Networks: Media Theory, Creative Labour, New Institutions, Rotterdam: NAi 2007. Naoki Sakai, Translation and Subjectivity, Minneapolis: Minnesota 1996. Paul Virilio, The Original Accident, übers. v. Julie Rose, New York: Polity 2006. [1] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, übers. v. U. Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. [2] Ned Rossiter, Organized Networks: Media Theory, Creative Labour, New Institutions, Rotterdam: NAi 2007. [3] Naoki Sakai, Translation and Subjectivity, Minneapolis: Minnesota 1996. [4] Michael Cronin, Translation and Globalization, London, New York: Routledge 2003. [5] Cultural Diversity: Common Heritage, Plural Identities, Paris: UNESCO 2002, S. 35; vgl. hierzu außerdem die Website der UNESCO, die sich „gefährdeten Sprachen“ widmet: http://portal.unesco.org/culture/en/ev.php-URL_ID=8270&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (abgerufen am 12. 4. 2008). [6] Die „Deklaration von Belem“ ist eine als Gründungsakt der Internationalen Gesellschaft für Ethnobiologie im Jahr 1988 verkündete Deklaration: http://ise.arts.ubc.ca/_common/docs/DeclarationofBelem.pdf (abgerufen am 12. 4. 2008). [7] Paolo Virilio, The Original Accident, übers. v. J. Rose, New York: Polity 2006. [8] Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1986. [9] Jean-Pierre Dupuy, Pour un catastrophisme éclair, Paris: Seuil 2004. [10] Paolo Virilio, The Original Accident, a.a.O. [11] „Scientists take new step toward man-made life“, in: The New York Times, 24.01.2008. * Im Original deutsch [Anm. d. Übers.] |
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