03 2004 Leistung ruinieren. Über die Ökonomie von Stress und Sentimentalität hinausDer
Kreativitätsstress hat zugenommen. Der Angstschweiß
der Neuen Mitte. Ein psycho-diskursives Symptom der
kapitalistischen United-Colors-G8-Überlebensgesellschaften.
Er tritt am deutlichsten in bestimmten Segmenten der
Großstadtjugend bis 45 auf. Er signalisiert eine Entwicklung
in der Vergesellschaftungsweise, eine sich zuspitzende
Gleichzeitigkeit: die Mobilisierung der Lebensformen
und den Angriff auf sie, dieses tickende Mach-was-aus-dir,
bleib nicht in der Normalität hängen, ja, noch das Trash-Versprechen
Superstar – und im selben Augenblick die Vervielfältigung
der Ausschließungs- und Verwertungsmechanismen: Superarmut,
Superabschiebung, Superkontrolle. Während Teile der
Bevölkerung, Busfahrerinnen, Kellner und Tankstellen-Angestellte,
aufgefordert werden, sich auf der Internetseite der
Polizei einzutragen, um laufend Fahndungsmeldungen der
Bullen per SMS zu bekommen, steigt in Teilen der urbanen
Jugend die Nervosität, ein deviantes Leben hinzubekommen
und trotzdem erfolgreich zu sein. So nehmen am Ende
die Werbefilme zu, in denen man Menschen in Trainingsanzügen
auf verwackelten Bildstrecken in ihren hippen ungeordneten
Alltag folgen kann. Im gleichen Rhythmus vermehren sich
die Symposien, Ausstellungen und Filmfestivals, die
Fragen des Politischen verhandeln, Kritik ausstellen,
das Leben der neuen infamen Menschen repräsentieren,
ohne über die paar Quadratmeter der Institutionen und
ihrer Repräsentationslogiken hinauszureichen. Meist
lassen sie selbst den fiesen Alltag flacher Hierarchien
und verblödeter Arbeitsteilungen in diesen Einrichtungen
intakt. Agamben hat in "Homo sacer" weiterverfolgt, was sich bei Baudelaire leise und von ferne an Überschreitungsschwachsinn ankündigte und worüber Benjamin mit den Mitgliedern der Acéphale-Gruppe stritt, zu der Bataille, Leiris, Klossowski, Caillois gehörten, die sich mit der dunklen Aura des geheimen Zusammenschlusses umgaben: die Vorstellung individueller Souveränität, mit der ein extremes Leben geheiligt ist, das sich dem Exzess von sexuellen, von Todes- und Gewalterfahrungen aussetzt. Benjamin drängte die Acéphale-Gruppe – Klossowski hatte schließlich seinen "Kunstwerk"-Aufsatz übersetzt –, die deutsche Erfahrung ernst zu nehmen, den Todeskitsch der Nazis, und vorsichtig mit der Vorstellung einer heiligen Souveränität des Exzesses zu sein: "Ihr arbeitet für den Faschismus". Agamben spricht von einer interessanten Verwechslung: Die Acéphale-Gruppe, und vor allem Bataille, hätten die Verbindung zwischen Souveränität und einem Leben, das einem überschreitenden Extrem ausgesetzt sei, sichtbar gemacht. Irrtümlicherweise hätten sie als radikal-individuell begriffen und ästhetisiert, was den Kern europäischer Bio-Macht ausmache: Jene Mechanismen, mit denen aus mobilisierten Lebensformen ein nacktes Leben ausgeschnitten werde: kranke, irre, kriminelle, fremde Körper – internierbares Material. Seit 1968 ist die geschlossene Spießerumgebung aufgesprengt, die Baudelaire noch die Kulisse einer kommenden Angestellten-Welt bot. Der militante Aufbruch von 1966/67 hat die Lebensformen vermehrt, Abweichungen durchgesetzt. Das damit verbundene universale Projekt Sozialismus ist aus verschiedenen Gründen ausgefallen. Das so entstandene, nennen wir es mit einem Monstersubstantiv, postfordistische Regime eines imperialen biopolitischen Kapitalismus mobilisiert viele historisch bekannte Verwertungs- und Disziplinierungsmechanismen gleichzeitig. Und jetzt? Vielleicht fürs erste mehr Liebe zum Melodramatischen entwickeln. Weil es von der Unfähigkeit handelt, in die Katastrophe einzugreifen. Das wäre doch auch einmal eine Leidenschaft, mit der sich die Linke beschäftigen könnte. Ich wende mich also an die Linke: Wie reproduziert sich die Macht in den Praktiken der Befreiung? Spannendes Thema. Das Melodram arbeitet mit dem großen Gefühl des ES-IST-ZU-SPÄT, die Wendung war möglich, aber nun ist die Gelegenheit vorbei, Musik, großes melancholisches Gefühl des Verlusts, der weder Konsequenzen zeitigt noch betrauert wird, sondern verinnerlicht. Immer wieder die Slow-motion-Abfahrt: "If only you could have recognized what was always yours." Obwohl die Wendung möglich gewesen wäre, nahm das Unglück, die gesellschaftliche Trennung, der Unfall, der Tod, die Niederträchtigkeit ihren Lauf. Und gleichzeitig verspricht das Melodram den plötzlichen Umschwung, das Glück, dass mit einem Schlag eine andere Zeit eintreten könnte, ein anderes Schicksal. In diesem Sinne ist das Melodram messianisch. Genauso wie es kapitalistisch ist, indem es das große Versprechen verdealt: Du kannst es schaffen, aber nein, doch nicht. Und dann fließen die Tränen zum Abspann des Melodrams, um sich mit gesellschaftlicher Passivität, mit Leiden, mit Handlungsunfähigkeit zu versöhnen. Sie fließen aber auch aus dem leidenschaftlichen Gefühl, die Verbindung zwischen Alltagsleben und Macht zu spüren. Das ist die Geburt der weinenden Revolutionärin. Hier beginnt Fassbinders Erinnerungsvermögen, der großes Gefühl, Enttäuschung, Verrat und Sozialkritik verschränken wollte. Ein bisschen manisch und repetitiv. Zugegeben. Beginn des Screenings. Tränen. Schluss (Anfang). [aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004] |
Katja DiefenbachlanguagesDeutsch English Françaistransversalprecariat |