07 2004 Fuzzy Production Logics. Erfahrung und Reflexion im Labor der UnsicherheitSeit den 1970er Jahren
erfreut sich ein Topos bezüglich der ökonomischen und
politischen Situation Italiens besonderer Beliebtheit:
Es handle sich um ein Laboratorium, um ein Experimentierfeld
unterschiedlichster Kräfte, Interessen, Strömungen.
Die besondere Vielfalt der Protestformen und die Ausdifferenzierung
der außerparlamentarischen Öffentlichkeit von den späten
1960er Jahren an bis zum Wendepunkt von 1977 scheinen
dabei besonders angetan, romantische Vorstellungen bezüglich
der Stärke einer "Gegenmacht", einer konstituierenden
Bewegung, die sich nicht von repräsentativen Strukturen
vereinnahmen lässt, zu entfachen. Der Einbruch in der
Produktivität, den die italienische Volkswirtschaft
in den letzten Jahren zu verzeichnen hat, wird unter
anderem darauf zurückgeführt, dass die Nachfrage nach
Arbeitskräften zum allergrößten Teil von kleinen und
kleinsten Unternehmen kommt, die keine Möglichkeit haben,
in teure Technologien bzw. Forschung und Entwicklung
zu investieren. Man könnte dies als ein Indiz dafür
nehmen, dass der größte Anteil an der Produktivitätssteigerung,
die es durch die Entwicklungen vor allem im Bereich
der Informationstechnologie gegeben hat, in den letzten
Jahren recht einseitig an private Unternehmen gegangen
ist. Außerhalb der geregelten Arbeit, die über das Modell
der Lohnnebenkosten die Hauptlast bei der Sozialisierung
der Risiken zu tragen hat, findet demnach ein kollektives
Experiment statt, das weniger der "Steigerung der
Effizienz" dient, als vielmehr der Disziplinierung
jener Kräfte, auf die die Produktion angewiesen ist.
Innerhalb dieses "Labors" findet man all die
Arbeitsformen und -verhältnisse, die man mittlerweile
mit dem Begriff Prekarität verbindet: Befristete Verträge,
kein Recht auf Mitbestimmung im Betrieb, keine oder
kaum Pensionsvorsorge, keine Arbeitslosen- und nur rudimentäre
Krankenversicherung.[8]
Eine Prekäre
fragt sich also: Was darf ich wollen? Wie soll ich handeln? Dahinter steckt natürlich mehr als der Versuch, die situationistische Internationale ihrer Vollendung zuzuführen. Tatsächlich bedient sich der Produktionsprozess ständig sozialer, kollektiver, öffentlicher Errungenschaften, Güter, Formen, um aus diesen einen Wert zu schöpfen. Was letztlich also zur Debatte steht, ist der Begriff der Produktion selbst. Nicht nur die Verweigerung von Rechten, die mit der Eingliederung in den Produktionsprozess verbunden sind, gilt es zu beklagen, sondern auch das Fehlen von Zeiträumen einer auf Erfahrung gründenden Öffentlichkeit. Insofern bleibt die Forderung nach einem Grundeinkommen in der Schwebe[10], zwischen der Möglichkeit, Freiräume jenseits des Zwangs zur Beschäftigung und der Drangsalierung der repressiven Institutionen des Sozialstaates zu schaffen, eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Produktionsordnung anzudenken, und der Gefahr, aufs Neue zum Instrument des Ausschlusses von Gruppen, die sich jenseits der durch die der Produktion zugrunde liegende Gesellschaftsordnung definierten Normalität ansiedeln, zu werden. [1] Die Kommunistische Partei trieb über gesetzliche Initiativen und die sukzessive Integration der Gewerkschaften in das institutionelle Gefüge das Repräsentativwerden der vorwiegend männlichen Arbeiterbewegung voran. Neben einem moralischen Diskurs, der sich gegen die Korrumpiertheit der Institutionen wandte (berühmt wurde vor allem der Slogan mani pulite des Wahlkampfes von 1974) versuchte die KPI unter ihrem charismatischen Generalsekretär Enrico Berlinguer eine Stabilisierung der Löhne zu erreichen. Die molare Lösung in Bezug auf die Lohnpolitik hieß scala mobile und garantierte die Angleichung der Nominallöhne an die Inflationsrate. [2] Vgl.: S. Bologna / A. Fumagalli: Il lavoro autonomo di seconda generazione. Scenari del posfordismo in Italia. Milano: Feltrinelli 1997. Die Thematik der Selbständigkeit wird von der parlamentarischen Linken, die nach wie vor auf das "normale" Lohnarbeitsverhältnis setzt, weitgehend ignoriert. [3] Konkret handelte es sich um die Ausweitung des Artikels 18 des erwähnten Gesetzes, der Kündigungen "ohne triftigen Grund" für Unternehmen über 15 Beschäftigte verbietet. Ein Großteil der Unternehmen in Italien ist wesentlich kleiner und kann in diesem Sinn von den Arbeitsgerichten nicht belangt werden. [4] Inchiesta autoferrotranvieri: "Su la testa". In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 166-171. [5] Amoroso, Pulejo Trasciani: "Dossier Alitalia." In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 148-165. [6] Cristina Morini: "Di culla in computer." In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 101-108. [7] Vgl. zum Beispiel: M. Piore/C. Sabel: Das Ende der Massenproduktion. Frankfurt a. M.: Fischer 1985, C. Marazzi: Der Stammplatz der Socken, Zürich: Seismo 1996, und ders.: Fetisch Geld, Zürich: Rotpunkt Verlag, 1999, bzw. Lorenzo Cillario: L’economia degli spettri, Roma: Manifestolibri 1996. [8] Schätzungen gehen davon aus, dass im Raum Mailand mittlerweile fast 70 % der jungen Leute, die ins Berufsleben einsteigen, über kein unbefristetes Arbeitsverhältnis verfügen. [9] J. M. Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin: Duncker & Humblot 1936. [10] Andrea Fumagalli: "Misure contro la precarietà esistenziale e distribuzione sociale del reddito". In: Posse. Politica Filosofia Moltidudini. Nuovi animali politici. Giugno 2004.Roma: Manifestolibri, S. 28-43. |
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