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03 2004

Krisenalltag im Empire

Beat Weber

Nach Wellen der Euphorie und der Kritik in den "Roaring Nineties" rutscht der Diskurs über die Neue Selbständigkeit in der aktuellen Wirtschaftskrise zunehmend in Depression ab.
Die 90er waren eine zwiespältige Zeit für KünstlerInnen: Während die Verdienstchancen im traditionellen Kunstmarkt eher flau waren, gab es in der Wirtschaftswelt einen massiven Kreativitäts-Hype. Dieser Boom brachte einerseits Chance auf Einkommen in den ausufernden Design- und Netzbereichen. Andererseits wurde ein Lebensmodell, das bislang KünstlerInnen von der Welt der Angestellten unterschied, zum Leitbild für die Arbeitswelt der New Economy: formale Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, ungeregelte Arbeit und Einkommen, Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, Vordringen kreativer Komponenten in der Tätigkeit, Projektorientierung.
Der Anstieg der – in Bezug auf das im Fordismus als typisch geltende Angestellten-Normalarbeitsverhältnis – als "atypisch" bezeichneten Arbeitsverhältnisse war zwar nichts vollkommen Neues. Doch dass flexibilisiertes Arbeiten nun nicht mehr nur Frauen und MigrantInnen in untergeordneten Diensten, sondern zunehmend auch Vertreter der männlichen, inländischen, gebildeten Schichten traf, machte das Phänomen zu einem Thema, dem hohe publizistische Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Ihre augenfälligste Dynamik entwickelte die neue Selbständigkeit in Segmenten der Kreativität und Kommunikation, wo die Teilnahme an Diskursen über die eigene Identität und Rolle im weiteren Sinn zum Job gehört. Dies mag die Tatsache erklären, dass sich um die neue Arbeitswelt der New Economy eine beachtliche Literatur gruppierte.
Die Literatur zum Phänomen der "neuen Selbständigen" ließe sich in vier Gruppen einteilen, die alle ihre Höhepunkte in verschiedenen Diskursphasen kannten: Beginnend mit den euphorischen IdeologInnen, wurden diese schnell mit KritikerInnen konfrontiert. Auf diese folgten jene, die dem Phänomen eine kritische Wendung gaben. Den vorläufigen Abschluss bildet eine die aktuelle Krise begleitende Depressionsliteratur. Doch beginnen wir der Reihe nach.

 

Euphorische Ideologie

In Deutschland hat die "Kommission für Zukunftsfragen" der Freistaaten Bayern und Sachsen, deren Mitglied u.a. der Soziologe Ulrich Beck war, 1997 eine viel diskutierte Vision zur Lösung des Arbeitslosigkeitsproblems in Deutschland verkündet: Das Leitbild des Arbeitnehmers sei aus dem Bewusstsein zu verabschieden. Vielmehr sei das Leitbild der Zukunft "der Mensch als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge". Mit euphorischer Begleitrhetorik wird das autarke, selbstverantwortliche Individuum beschworen, das als Ergebnis des radikalen Rückzugs des Staates aus der Gestaltung sozialer und regulatorischer Rahmenbedingungen des privaten Wirtschaftens entstehen soll. Mit der in dem Arbeitsmarkt-Reformplan der Hartz-Kommission vorgeschlagenen "Ich AG" hat es diese Vision in Deutschland zuletzt rasant nahe an die reale Umsetzung geschafft.
Im Kernland der New Economy jenseits des Atlantiks tönte es in den 90er Jahren ähnlich: Den Höhepunkt bildet Daniel Pinks "Free Agent nation: How America's new independent workers are transforming the way we live" (2001). Pink malt die Vision einer Nation der FreiberuflerInnen, bei denen die Flucht aus der Knechtschaft der großen Unternehmen mit Selbstverwirklichung, Freiheit und Maximierung des Einkommens verbunden ist.

 

Kritik

Es bedarf keiner großen Anstrengung, um dieses Bild zu kritisieren. Die kritischen Analysen des FreelancerInnen-Daseins stellen den optimistischen Visionen empirische Evidenz entgegen, um sie als Ideologie zu entlarven. Ein Blick auf die sozialen Verhältnisse lässt von den Verheißungen der euphorischen Literatur meist wenig übrig. Die zentralen Studien für Österreich kommen aus einem gewerkschaftsnahen Umfeld:  Eva Angerler/Claudia Kral-Bast: "Typische Atypische" (1998), Fiftitu%: "(A)typisch Frau – zwischen allen Stühlen" (2002), Gerhard Gstöttner-Hofer et al.: "Was ist morgen noch normal" (1997), "Kurswechsel" 2/2000: "Leitbild Unternehmer", Emmerich Talos: "Atypische Beschäftigung" (1999).
Die Ergebnisse: FreelancerInnen haben ihren Status meist nicht selbst gewählt, sie sind oft von wenigen großen AuftraggeberInnen abhängig, die wirtschaftliche Lage ist eher prekär als selbstbestimmt, die Vielfalt der Tätigkeiten (von eigentlichem Arbeitsinhalt über Buchhaltung zu manuellen Diensten) führt zu Dauerüberforderung, das Arbeiten zu Hause zu Entgrenzung der Arbeitsstunden, das Verschwimmen von Arbeit und Freizeit zu Kolonisierung der letzten Freiräume mit Arbeit und Verwertungsdenken. Die angebliche neue Freiheit ist weitgehend ein Ergebnis der Flexibilisierungsstrategien der UnternehmerInnenschaft, denen die Individuen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind.
Neben diesen Analysen der tatsächlichen ökonomischen Lage entsteht auch eine Literatur, die sich kritisch mit den gesellschaftspolitischen Konsequenzen der neuen Verhältnisse auseinandersetzt. In diesen Studien werden in Hinblick auf Gesellschaftlichkeit negative Konsequenzen des Dauerdrucks prophezeit, der durch die permanente Unsicherheit und den Zwang, sich beständig nach Verwertungsmöglichkeiten umzusehen, verursacht wird.
Richard Sennett schreibt in "Der flexible Mensch" (1998) eine Geschichte des Verfalls: Das Ende der dauerhaften Anstellung unterminiert Werte wie Vertrauen und Gemeinschaftsgeist. Arbeit als Identitätsstifterin fällt aus, deshalb verlagert sich das Zusammengehörigkeitsgefühl auf lokale und/oder nationale Gemeinschaften, Nationalismus ist somit die zunehmende Reaktion auf die ökonomische Unsicherheit, so Sennett.
Auch Sergio Bologna führt den zunehmenden Lokalpatriotismus der Lega Nord auf die Renaissance des KleinunternehmerInnentums zurück, die in Norditalien die von Arbeitskämpfen heimgesuchten Fabriken der 70er Jahre abgelöst hat. Nachdem die neuen Selbständigen formal keinen Chef mehr haben, gegen den sie sich wehren können, wird der Sozial- und Steuerstaat zum Hauptfeind, so Bologna (Zusammenfassung in "Kurswechsel" 2/2000).
Brian Holmes schließt daran aus einer anderen Richtung an, indem er Deleuzes "Kontrollgesellschaft"-These den Analysen des "autoritären Charakters" von Adorno / Horkheimer gegenüberstellt und daraus eine Analyse des "flexiblen Charakters" macht, der im Postfordismus den für den Fordismus typischen autoritären Charakter abgelöst habe (Artikel gepostet auf der *nettime*-Mailinglist am 5. 1. 2002). Dieser ist nun im Gegensatz zur autoritären Persönlichkeit nicht von seinen Wünschen, sondern von der politischen Gesellschaft entfremdet, eine neue Form der sozialen Kontrolle. Auch Paolo Virno hat dessen Anfälligkeit für Zynismus unter politischen Gesichtspunkten analysiert.
In *Der neue Geist des Kapitalismus* (2003) untersuchen Luc Boltanski und Eve Chiapello massenhaft Managementliteratur der 90er Jahre. Darin finden sie auffallend viele Anklänge an die Freiheitsversprechen der 60er Jahre. Die Forderungen nach Autonomie, Kreativität und Selbstbestimmung, die die "künstlerische" Kritik der 68er gegenüber dem ökonomischen Establishment in Anschlag gebracht hatte, finden sie dort affirmiert, allerdings pro-kapitalistisch gewendet, in neue Anforderungen von Seiten der Unternehmen an ihre MitarbeiterInnen und AuftragnehmerInnen transformiert. Dadurch werden neue Potenziale und Persönlichkeitsaspekte erschlossen und im Dienste der ökonomischen Verwertung mobilisiert, die dem Kapital bislang verschlossen geblieben waren (weil dem Bereich Freizeit zugeordnet). Ausbeutung finde heute nicht mehr durch Anstellung, sondern durch Dominanz von Netzwerken statt. Die Forderung nach mehr Autonomie sei vereinnahmt, nun fehle eine "soziale" Kritik, die in diesem Umfeld Verteilungsprobleme thematisiere, so Boltanski und Chiapello.

 

Kritische Wendungen

Doch was folgt daraus? Während viele KritikerInnen die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse vor dem Hintergrund einer postulierten Verantwortung von Staat und Kapital für die ökonomische Sicherheit der arbeitenden Menschen kritisieren, betont etwa Nikolas Rose (in *Kurswechsel* 2/2000), dass das "unternehmerische Selbst" eine weitgehend unhintergehbare zeitgenössische Vorstellung sei, hinter die es kein Zurück mehr gebe, und den Ausgangspunkt aller politischer Richtungsvorstellungen bilden müsse. Auf Basis dieser Diagnose gab es analytische Versuche, den neuen Verhältnissen eine kritische Wendung zu geben.
Einen verhaltenen Versuch in diese Richtung unternimmt Richard Florida, der aus dem "Aufstieg der kreativen Klasse" mit ihren Freiheitsbedürfnissen ein Plädoyer für gesellschaftspolitischen Liberalismus in der Stadtpolitik macht (*The rise of the creative class*, 2002). Das "kreative Ethos" bedürfe eines Umfelds von Toleranz, kultureller Vielfalt und Ereignisfülle. Eine permissive Gesellschaftspolitik und ein gewisses Ausmaß an sozialer Sicherheit sei somit vonnöten, um die Ansiedlung und das Gedeihen jener "kreativen Klasse" zu fördern, die zunehmend die Hauptquelle wirtschaftlicher Prosperität darstellt, so Florida.
Werden die Bedürfnisse der kreativen FreelancerInnen bei Florida zum Argument für Sozialliberalismus, lautet der Einsatz bei anderen AutorInnen gar Kommunismus. Maurizio Lazzarato sieht in der "immateriellen Arbeit" die Hauptquelle von Mehrwert in einer Zeit, in der die Produktion von Bedeutung (über Werbung, Design und Kommunikation) die Produktion von materiellen Gütern zunehmend dominiere (*Umherschweifende Produzenten*, 1998). Die mit dieser Produktionsarbeit befassten immateriellen ArbeiterInnen, deren Arbeitsinhalt die Modellierung von gesellschaftlichen Meinungen, Stimmungen, Lebenshaltungen sei, seien dadurch unmittelbar politisch tätig. Das Ökonomische und das Politische verschwimmen. Kreativität wird zur Masseneigenschaft, und damit auch die Besonderheiten und Probleme, das Kreative in eine Ware zu verwandeln. Die in der New Economy verstärkt auftauchenden Probleme, einen Preis für kreative Produkte zu finden und durchzusetzen, werden epidemisch, transformieren die gesellschaftlichen Verhältnisse und verlangen zumindest nach einem allgemeinen Grundeinkommen.
Diesen Gedanken nimmt Antonio Negri in seinen Arbeiten mit Michael Hardt auf. Die immaterielle Arbeit mit ihren immanenten Eigenschaften – Autonomie, Kreativität und Selbstorganisation in Gruppen – sei im Grunde eine Verwirklichung kommunistischer Vergesellschaftungsformen, der das kapitalistische Kommando nur noch äußerlich sei. Zwar habe der Kapitalismus alle Lebensbereiche durchdrungen, aber nur um den Preis, dass er auch die widerständigen, kreativen Fähigkeiten der "Multitude" ins Herz seiner Funktionsweise aufgenommen habe und dadurch dieser die Gelegenheit gegeben habe, sich seiner zu entledigen.
Die kapitalistischen Versprechen der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung durch neue Arbeitsformen werden hier nicht nur ernst genommen, sondern radikalisiert und gegen die Verhältnisse selbst gewendet.
Im Jahr 2000, als die New Economy ihren Höhepunkt erreichte, und die kapitalistische Globalisierung im Rahmen von Demonstrationen und Protesten gegen Treffen ihrer Eliten von wachsender Massenkritik begleitet wurde, stellte Hardt / Negris *Empire* eine Reihe von Entwicklungen in einen Zusammenhang und verband sie mit einer kritischen Perspektive: Globalisierung der Ökonomie und der Elitenpolitik, New Economy und neue Arbeitsverhältnisse, Migration und Widerstand etc.
Dass "Empire" vor allem in den kreativen Segmenten des New Economy-Proletariats Furore machte, hat natürlich auch damit zu tun, dass das Buch im Gegensatz zu vielen Analysen die Hoffnungen auf Revolution nicht ganz woanders (in der IndustriearbeiterInnenschaft, im globalen Süden etc.) verortet, sondern genau bei den Lesenden selbst. Dies wurde bei "Empire" von KritikerInnen als Liebdienerei bei Eliten kritisiert (vgl. MALMOE 11), während es bei den VertreterInnen der kreativen Klasse allerorts für Begeisterung sorgte. Jene erfuhren etwas über sich selbst und wurden zum Inbegriff der Zeitgenossenschaft erklärt – im Gegensatz zu den Lifestyle-Magazinen aber nicht als bloße Coolness- und Shopping-Avantgarde, sondern als AkteurInnen gesellschaftlicher Emanzipation.
Dass nach dem 11. September 2001 die Rezeptionseuphorie zusehends abflachte, hat mit zwei externen Entwicklungen zu tun: Zum einen verblasste die Plausibilität der weltpolitischen These vom "Empire" angesichts des Schwenks der US-amerikanischen Außenpolitik und des verstärkten Aufbrechens von Konkurrenz unter den großen AkteurInnen der Weltpolitik. Zum anderen platzte die New Economy-Blase. Börsen- und Konjunkturflaute begruben die Hoffnungen auf eine anhaltende rasante Expansion in den Kernbereichen der immateriellen Arbeit und zerstörten bis auf weiteres die Aussicht auf eine Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse durch die neue Wirtschaftsweise.

 

Depression und Bekenntnis

Die lang anhaltende Phase der Prosperität in den "Roaring Nineties" (so der Titel von zwei wirtschaftlichen Rückblicken auf diese Jahre, von Joseph Stiglitz und Alan Krueger / Robert Solow) wurde zur Dekadenwende abgelöst von einer ebenso ausdauernden Krisenperiode. Es ist kein Zufall, dass zu Beginn des neuen Jahrtausends die einschlägige Literatur zunehmend von Erfahrungsberichten dominiert wird, in denen jede Verklärung der Verhältnisse einer Sichtweise Platz macht, die zusehends vom Zynismus in die Depression gleitet.
In *Les intellos précaires* (2001) zeichnen Anne und Marine Rambach das Bild einer Generation, die nach dem Universitätsabschluss statt der früher üblichen stabilen Karrieren nur die Scheinselbständigkeit erwartet – im Journalismus, im Kulturbetrieb, bei Film und Fernsehen, im Forschungswesen und anderen Kreativbranchen. Ihr Leben ist vom Auseinanderklaffen zwischen ihrem hohen sozialen Status und ihrer miserablen materiellen Ausstattung gekennzeichnet. Die neoliberalen Verheißungen scheinen nach einer gewissen Zeit gegen die Realität wenig ausrichten zu können. In Gesprächen mit Betroffenen erfahren die Autorinnen von Depressionen, Zukunfts- und Versagensängsten, Gefühlen der Erniedrigung als ständigem Wegbegleiter im Alltag.
Die Aufmerksamkeit, die dem in Frankreich bislang Verschwiegenen im Gefolge dieses Buches entgegenbracht wurde, erhielt noch eine Verstärkung im Zuge der jüngsten Streiks der Intermittents, der freien KulturarbeiterInnen, die sich mit Einschränkungen ihrer Arbeitslosenunterstützung konfrontiert sahen. Die anschließende Diskussion um die Verbreitung von Scheinselbständigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen für die gesamte Ökonomie insbesondere im Kreativbereich, hat nicht zuletzt eine Welle von Erfahrungs- und Bekenntnisliteratur hervorgebracht – Bücher wie Daniel Martinez' *Carnets d'un intérimaire* (2003), der über die Erniedrigungen des PraktikantInnenwesens berichtet, und Abdel Mabroukis *Génération précaire* (2003).
Annette Weisser und Ingo Vetter haben in ihren, die Form von Selbsterfahrungs-Workshops parodierenden und gleichzeitig aufnehmenden Veranstaltungen im Kunstkontext neue Selbständige zusammengebracht, um gemeinsam über ihre Erfahrungen zu sprechen und Möglichkeiten auszuloten, sich gegen die unzumutbaren Verhältnisse zu organisieren. Die in einem Video und Katalog (*NameGame*, 2003) dokumentierten Ergebnisse lassen einen hohen Reflexionsgrad, die Allgemeinheit von Problemen und die praktischen Schwierigkeiten für politische Selbstorganisation (Zeitmangel, Interessenkonflikte) zutage treten.
In Graz sind Vetter/Weisser auf die Soziologin Elisabeth Katschnig-Fasch gestoßen, die soeben die Ergebnisse eines Forschungsprojekts in Buchform veröffentlicht hat, das mit einem Bourdieuschen Ansatz dem alltäglichen Leiden an den Verhältnissen des flexibilisierten Arbeitsmarkts nachgeht (*Das ganz alltägliche Elend*, 2003). In einem Gespräch mit Vetter/Weisser berichtet Katschnig-Fasch von der Überraschung, dass es – obwohl doch zurzeit eines der größten Tabus – kaum Schwierigkeiten gab, Leute zu finden, die über ihr eigenes Elend sprechen wollten, ja vielfach sogar Dankbarkeit bestand, endlich einmal darüber sprechen zu können. Die Prekarisierten leiden an Sinn- und Orientierungsverlust, Mangel an Anerkennung und reagieren vielfach mit Schuldgefühlen, so die Erkenntnis der Forschungsgruppe. Auch die durchaus geschlechtsspefizische Betroffenheit tritt zutage.
In seinem Buch *Minusvisionen*, einem Sammelband mit Interviews von gescheiterten Start-up-GründerInnen, zeichnet Ingo Niermann (2003) das Bild der New Economy als Absorptionsmaschine für Träume. Die bei Niermann zu Wort kommenden JungunternehmerInnen, die mit Galerien, Fastfood-Ketten, Modelabels und Online-Plattformen scheiterten, werden weitgehend als SpielerInnen präsentiert, die Gelegenheiten, die die New Economy mit ihren Finanzierungsmöglichkeiten ihnen bot, für sich zu nutzen versuchten. Und die den Business-Aspekt dabei nie wirklich ernst genommen hatten bzw. davon überfordert waren, als er sich ihnen schließlich aufzwang.
*Minusvisionen* ist die deutsche Variante einer Literatur, die in den USA in den letzten Jahren boomt – Erfahrungsberichte von Leuten, die der dot.com-Boom unter sich begraben hat. Mit *Netslaves 2.0* (2003) etwa haben Bill Lessard und Co. den Nachfolgeband eines sehr erfolgreichen Internet- und Buchprojekts vorgelegt, das schon früh der Artikulation von Unmut über unzumutbare Arbeitsbedingungen im Internet-Goldrausch eine Plattform bot. Hier wird deutlich, dass auch in den schillernd-profitablen Auslagebereichen der New Economy, der Netzindustrie, die Arbeitsverhältnisse alles andere als glamourös sind.
In seiner Besprechung von Geert Lovinks Rückblick auf die Netzkultur der 90er Jahre nach dem Ende des dot.com-Booms (*Dark Fiber*, 2002) spricht Bifo (Franco Berardi), ein Protagonist aus dem Negri-Umfeld der postoperaistischen Theorie, von einem Klassenkampf zwischen kognitiven SelbstunternehmerInnen und den großen Monopolen, der jetzt mit einer Kolonisierung des Internet durch letztere geendet habe (vgl. MALMOE 8). Die Versprechungen der New Economy seien gescheitert, das Modell des vollkommen freien Markts habe sich als praktische und theoretische Lüge erwiesen. Diejenigen der neuen Selbständigen, die nicht vom militärisch-industriellen Komplex aufgesogen worden seien, seien jetzt arbeitslos und desillusioniert. Auf kultureller Ebene sieht Bifo deshalb die Bedingungen für die Ausbildung eines sozialen Bewusstseins des "Kognitariats" vorhanden, alle neoliberalen Illusionen zerstört, die Bahn frei für einen nichtkommerziellen Prozess der autonomen Selbstorganisation der kognitiven Arbeit, der Errichtung von vom Kapital unabhängigen Institutionen. Die Depression als Ausgangspunkt für einen neuen, emanzipatorischen Anfang? Vorerst gibt es für einen solchen Optimismus wenig Anhaltspunkte. Aber zumindest einen nachhaltigen Realismus hat die anhaltende Krise bei den Betroffenen durchgesetzt.
Dass etwa das Zentralorgan des österreichischen "Volkskapitalismus", die Monatszeitschrift *Gewinn* das Jahr 2004 mit einer Titelgeschichte über "Geld verdienen, ohne angestellt zu sein" eröffnet, ist dafür ein Zeichen. *Gewinn* bemerkt, dass sich das Phänomen atypischer Arbeitsverhältnisse "mittlerweile quer durch alle Berufsgruppen" zieht, und "hunderttausende betroffen" seien. Dass dem aber keine einpeitscherische Werbung für die neue Selbständigkeit folgt, sondern das Phänomen auf Ausgliederungen der Unternehmen in schlechter Wirtschaftslage zurückgeführt wird, die unübersichtliche Gesetzeslage beklagt, auf alle Nachteile hingewiesen und eine Gewerkschafterin zur Analyse das Wort übergeben wird, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Zeit der großen Euphorie und Versprechungen offensichtlich vorerst vorbei ist. Die Realität der Krise lässt auch in den notorischsten Ideologiefabriken für Beschönigungen wenig Überlebensraum.

 

Literatur

Angerler, Eva / Claudia Kral-Bast: *Typische Atypische*, Wien 1998

Bifo (Franco Berardi): Netzkritik, Version 0.2, MALMOE 8, 2001 *http://www.malmoe.org/artikel/top/334*

Bologna, Sergio / Andrea Fumagalli: *Il lavoro autonomo di seconda generazione. Scenari del postfordismo in Italia*, 1997

Boltanski, Luc / Eve Chiapello: *Der neue Geist des Kapitalismus*, Konstanz 2003

Eichmann, Hubert / Kaupa, Isabelle / Steiner, Karin (Hrsg.): *Game over? Neue Selbstständigkeit und New Economy nach dem Hype*, Wien 2002

Fiftitu%: *(A)typisch Frau – zwischen allen Stühlen*, fiftitu.at, 2002

Florida, Richard: *The rise of the creative class*, New York 2002

Gstöttner-Hofer, Gerhard et al. (Hrsg.): *Was ist morgen noch normal*, Wien 1997

Hardt, Michael/Antonio Negri: *Empire*, Frankfurt / M. 2003

Holmes, Brian: "The flexible personality", *nettime*-l, 5.1.2002

Katschnig-Fasch, Elisabeth / Malli, Gerlinde: *Das ganz alltägliche Elend*, Wien 2003

Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: *Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen*, Bonn 1997

Kurswechsel 2/2000: *Leitbild Unternehmer*, Wien 2000

Lazzarato, Maurizio: "Immaterielle Arbeit", in: Negri, Toni / Lazzarato, Maurizio / Virno, Paolo: *Umherschweifende Produzenten*, Berlin 1998

Lessard, Bill / Baldwin, Steve /Lloyd-Jones, Martyn : *Netslaves 2.0: Tales of Surviving the Great Tech Gold Rush*, 2003

Lovink, Geert: *Dark Fiber*, Cambridge / Mass. 2002

Lütgert, Sebastian: *Die Nomaden des Kapitals. Einführung in den Abschied von den umherschweifenden Produzenten*, Starship No. 5, 2002

Mabrouki, Abdel: *Génération précaire*, Paris 2003

Martinez, Daniel: *Carnets d'un intérimaire*, Marseille 2003

Niermann, Ingo: *Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld – Protokolle*, Frankfurt/M. 2003

Pinguin: "Bibelstunde – die Empire-Debatte", MALMOE 11, 2003 *http://www.malmoe.org/artikel/verdienen/461*

Pink, Daniel: *Free Agent nation: How America's new independent workers are transforming the way we live*, New York 2001

Rambach, Anne, Rambach, Marine: *Les intellos précaires*, Paris 2001

Rose, Nikolas: "Das Regieren unternehmerischer Individuen", in: *Kurswechsel*  2 / 2000

Sennett, Richard: *Der flexible Mensch*, Berlin 1998

Talos, Emmerich: *Atypische Beschäftigung*, Wien 1999

Virno, Paolo: "The ambivalence of disenchantment", in: Virno, Paolo /Hardt, Michael  (Hrsg.): *Radical thought in Italy*, Minneapolis 1996

Vetter, Ingo /Weisser, Annette: *NameGame*, Graz 2003

[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]

Beat Weber

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