11 2006 Kultegration und Grenzverhängnis: Neue Grenzen der Demokratie in der EUÜbersetzt von Hito Steyerl Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich zeigen, dass das Migrationsthema ein sehr wichtiges ist; und da die Grenzen der EU ein wichtiger Teil dessen sind, wie sie sich konstituiert, wird dieses Thema nicht mehr durch eine ökonomische und politische Logik bestimmt, sondern durch eine breitere kulturelle Logik gerechtfertigt. Diese Art der Rechtfertigung schwimmt auf der Welle eines nativistischen und neopopulistischen Ressentiments und verstärkt die Durchsetzung neuer Prinzipien, die für die unvollkommene Demokratie, die wir haben, ebenso wie für jegliche Perspektive einer radikalen Demokratie sehr gefährlich sind. Im zweiten Teil werde ich die strukturellen Verbindungen zwischen dem Grenzregime, das Mitgliedsstaaten von den sie umgebenden Ländern trennt (die flexible Grenze Europas), und der internen Konstitution der Arbeitskraft aufweisen. Die Kulturalisierung der Migrationspolitik (culitics and polture) ist eng mit dem Grenzverhängnis (borderdoom) verknüpft. Dieses produziert, was ich Kultegration nenne, ein Regime, das in sich selbst mit dem Halbsklaven-Regime (der gezügelten Lohnarbeiterschaft)[1] verbunden ist, welches als eine Art De-facto-Statut Menschen, die sich auf Dauer niedergelassen haben, Neuankömmlinge und Minderheiten ebenso kontrolliert wie einen Großteil ihrer Nachkommen. Die innere Grenze ist der wirkliche Grund für die flexible äußere Grenze. Europa hat seit 1974 eine sehr restriktive Migrationspolitik eingeführt, obwohl von 1975 bis 1990 der Zustrom in die EU ungefähr die Zahlen der Einwanderung in die USA erreichte (zwischen einer und eineinhalb Millionen Einreisen pro Jahr); und wie die USA erfuhr auch die EU danach eine Beschleunigung der Einwanderung (1995–2000). Je nach der Kategorie von Menschen, die ausgeschlossen werden sollten, wurden verschiedene Arten der Rechtfertigung festgesetzt. Wir können drei Typen der Rechtfertigung für die restriktive Kontrolle des Vordereingangs (im Gegensatz zum Hintereingang) identifizieren: 1) Die Begründung dafür, die Grenzen für den Zustrom neuer permanenter Arbeiter zu schließen, war vor allem eine ökonomische. Die Arbeitslosenrate unter nationalen oder im Land geborenen und bereits anwesenden ImmigrantInnen war so hoch (zwichen 8 und 12 % der lokalen Bevölkerung auf der Makroebene und viel mehr auf der Mikroebene), dass Immigration nicht mehr denkbar war. Dieses Argument wurde fast sofort durch starke Spannungen in gewissen Sektoren des Arbeitsmarkts (Dienstleistungen, Landwirtschaft, Tourismus: die Industrie im Alten Europa) widerlegt. Und sobald das ökonomische Wachstum Zeichen der Erholung zeigte (Spanien und Portugal seit 1986, Deutschland seit 1988, Großbritannien seit 1990 usw.), wurden wichtige Ausnahmen der „Schließung“ der Grenze „toleriert“. Undokumentierte Migrationen jeglicher Art (Studierende, die nach ihrem Studium blieben, TouristInnen, Familienmitglieder, die ihren Eltern nachzogen, Kinder oder nahe Verwandte, SaisonarbeiterInnen, AsylbewerberInnen, denen der Flüchtlingsstatus verwehrt wurde, echte klandestine EinwanderInnen) wurden zu einer dauerhaften und normalen Realität in den Untiefen eines zunehmend segmentierten Arbeitsmarkts. Nichtsdestotrotz haben sich alle Mitgliedsstaaten der EU dem „Dogma“ der Schließung der Grenzen für neue aktive ArbeiterInnen verpflichtet[2] und zunehmend Kampagnen gegen „illegale Migration“ gefördert. In der Tat haben solche offensichtlichen Widersprüche zwischen den Fakten und den offiziellen Positionen der Institutionen dazu beigetragen, dass diese Art der Legitimation der Schließung zunehmend abnahm, und gleichzeitig auch zur Zunahme verschiedener Wellen von Xenophobie und der Wiedergeburt rechtsextremer Parteien, die große Zustimmungsraten haben (vom Briten Enoch Powell und seinem Einfluss auf die Konservative Partei in Großbritannien zu den beiden Schwarzenbach-Initiativen in der Schweiz, ganz zu schweigen vom französischen Front National, der flämischen faschistischen Partei, der Lega Nord in Italien, Haiders Partei in Österreich oder jüngeren Entwicklungen in Dänemark; es hat nun den Anschein, dass diese Form xenophober Gefühle auch eine Rolle im Aufschwung des Nationalismus und chauvinistischer Parteien in den früheren kommunistischen Ländern Osteuropas spielt). Es ist sicherlich eine ernsthafte Untertreibung, zu behaupten, dass der Populismus und der Nativismus bloß eine direkte Konsequenz dieses unglaublichen malgoverno (der schlechten Regierung) in der Frage der Einwanderung sind. Diese besondere Form der Un- oder Ent-Regierung ist gekennzeichnet durch eine Verleugnung der andauernden und strukturellen Offenheit der Bewegung von Menschen und ArbeiterInnen in einer globalisierten Welt. Offensichtlich kann diese Form der Verleugnung und/oder Heuchelei unter den zynischsten Führern politischer Parteien nicht nur naiv als bloße Ignoranz verstanden werden, die durch seriöses Wissen und wissenschaftliche Expertise beseitigt werden kann und soll. Die Verleugnung der Anwesenheit und Bedeutung der Schattenmenschen der EU (den 14–16 Mio. Menschen ohne politische und Bürgerrechte innerhalb der größten Demokratie der Welt, gemeinsam mit Indien) kann nur mit der Verleugnung der SklavInnen und Freigelassenen durch die Plantagenbesitzer der Südstaaten der USA während der Jim-Crow-Ära sowie bis zu den Bürgerrechtsgesetzen von 1965 verglichen werden. Jedenfalls wurde die Rechtfertigung der Schließung der europäischen Grenze auf der Basis ökonomischer Gründe ernsthaft durch die Intensivierung der Mobilität aufgrund der chaotischen Globalisierung in Afrika und dem Nahen Osten unterminiert, und auch aufgrund des wachsenden Drucks der Arbeitgeber (nunmehr eher kleiner als großer Firmen, die es vorziehen, ihre Produktion auszulagern), die Grenze wieder zu öffnen. Daher wäre die „technische“ Frage eher die, wie die Grenze derart selektiv wieder zu öffnen sei, dass sie es verhindert, der Autonomie der Migration Raum zu geben, mit ihren unvermeidlichen Konsequenzen auf politischer und ökonomischer Ebene. Während sich jedoch die ökonomische Logik der Schließung der EU-Tore im Niedergang befindet, gibt es Experimente mit zwei anderen Formen der Legitimation. 2) Die MigrantIn als letzte unterworfene NichtbürgerIn der Souveränität des alten Nationalstaats: Die Rückführung, Inhaftierung und Abschiebung von papierlosen MigrantInnen (aktive Population, der bald Familien inklusive Kinder folgten) hat einen Punkt erreicht (22 Abschiebelager innerhalb der EU-Grenzen sowie Projekte, um MigrantInnen außerhalb der offiziellen Grenzen in die Märkte des Europäischen Reichs in Albanien und Libyen zu verlagern), der es nicht mehr erlaubt, sie als temporäres und marginales Phänomen anzusehen. Diese Art permanenter und struktureller Ausnahme basiert auf einer politischen Bekräftigung des Nationalstaats und geht Hand in Hand mit einer Vision Europas als Konföderation von Nationalstaaten (Schengener Abkommen) oder als zweites Leben bzw. Wiedergeburt der Souveränität im Gegensatz zur Globalisierung. Die schreckliche Politik der Nationalstaaten erlebt einen fortgesetzten Niedergang, da diese langsam, aber sicher ihrer klassischen Vorrechte im Bereich der Finanzen, des Geldes, der Ausgaben und der Förderung beraubt werden. Indem sich demokratische Amtsträger selbst als „intraitable“ (unnachgiebig) beschreiben, ein Lieblingsspruch von Politikern für die Tribüne („ein kleiner Spruch“ für die Hauptnachrichten im Fernsehen), appellieren sie bewusst an Nativismus und Souveränitätskult. Sie wissen, dass dies nur Nostalgie ist und dass die Vereinigung von beiden eine Bekräftigung der reaktionärsten Werte darstellt (in Bezug auf Sexualität, Ehe, Disziplin, Religion, Erziehung, Toleranz usw.). Aber ihr Kalkül ist unentrinnbar, solange keine Korrektur des demokratischen Systems erfolgt. Wir sehen uns einer Situation gegenüber, die sich von jener im England des 19. Jahrhunderts vor den Reformen von 1832 und 1860 stark unterscheidet. Einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung vom Wahlrecht auszuschließen führt nicht nur eine enorme Verfälschung von oft knappen Wahlergebnissen mit sich, sondern schafft auch eine perverse Chance: Die Xenophobie bzw. Angriffe auf bestimmte Gruppen und Gemeinschaften in einem demokratischen System erlauben es, sowohl Stimmen zu gewinnen als auch zu verlieren.[3] Der europäische Nativismus ist unvermeidbar, solange eine große Gruppe von MigrantInnen und NeuansiedlerInnen nicht als WählerInnen eingeschlossen werden und Xenophobie immer das Spiel der Gewinner ist. Keine institutionelle Partei hat es jemals geschafft, der Versuchung zu widerstehen. Die Bekräftigung der Souveränität des Nationalstaats hat jedoch eine Niederlage erlitten und ist als Illusion enttarnt worden. Der Vertrag von Schengen bedeutete bereits einen substanziellen Transfer von Kompetenzen. Die EU hat die Einwanderung als Frage von gemeinsamem Interesse definiert sowie als Angelegenheit, die auf dem Prinzip der Subsidiarität basiert. Kürzlich bestand das nützlichste Resultat des Ansturms auf Ceuta und Melilla (in Bezug auf ihre institutionellen Auswirkung auf Institutionen) sowie des vor sich gehenden großen Exodus im Aufruf des spanischen Premierministers Zapatero zur zwischenstaatlichen Kooperation der europäischen Administration, um die Wellen von subsaharischen MigrantInnen (auf den spanischen Kanarischen Inseln oder in Italien) unter Kontrolle zu bringen. Dieser Wille führt zu einer Vergemeinschaftung und Föderalisierung der Migrationsangelegenheiten. Die Nationalstaaten werden wohl oder übel dazu verdammt, einen Besen zu fressen. Aber in Begriffen der Legitimation scheint diese Art von Guantanamisierung bezüglich der Verwaltung der neuen Zuströme von MigrantInnen, die Versuche, Kinder und Frauen von undokumentierten ArbeiterInnen abzuschieben, immer schwieriger zu rechtfertigen, vor allem da in Europa, einschließlich Großbritanniens, die öffentliche Meinung sehr widerstrebend war, irgendeine ernsthafte Aussetzung von traditionellen demokratischen Rechten hinzunehmen, und zwar sogar unter dem „Kriegszustand“, der durch Bombenleger in Madrid oder London erzeugt wurde. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum wir einen wirklichen Niedergang (wenn auch – leider! – kein Verschwinden) des souveränen Arguments erleben werden. Wird dies ausreichen, um eine echte Demokratisierung der EU in Fragen, die die Grenzen sowie den Status eingewanderter AnsiedlerInnen betreffen, auf die Tagesordnung zu bringen? Ich fürchte nein, und zwar aus zwei ganz unterschiedlichen Gründen. Der erste Grund, den ich gleich entwickeln werde, ist, dass sich die Legitimation für die (in diesem Fall selektive) Schließung der Grenze auf das Gebiet der Kultur verschoben hat. Der zweite Grund besteht darin, dass sich die Qualität der Grenze nicht verändern wird, solange das System der juridischen Deklassierung und Diskriminierung von bestimmten Segmenten des Arbeitsmarkts durch das Regime der temporären Arbeitsbewilligungen (Zwangsvertrag, Beschränkungen beim Verlassen des Landes, Totalverweigerung bürgerlicher und politischer Rechte) beibehalten wird. Dies wird den zweiten Teil meiner Reflexionen bilden. Aber lassen Sie mich auf die letzte Legitimationsvariante der Festung Europa zurückkommen. 3) Drittens, aber nicht letztens, ist eine kulturelle Rechtfertigung dafür aufgetaucht, Europa gegen weitere Migration abzuschotten. Sie hat die Form des Neopopulismus (eine Spielart des europäischen Nativismus) angenommen, der in der extremen Rechten des politischen Spektrums immer präsent war. Er überschnitt sich jedoch bald mit der Debatte um die Erweiterung der Grenzen der Europäischen Union, vor allem mit der Frage eines Beitritts der Türkei sowie dem Referendum über die Verfassung im Jahr 2005. Die Krawalle in den französischen Vorstädten und die Bombenleger in England wurden als gemeinsames Scheitern zweier gegensätzlicher Modelle interpretiert (des monokulturellen republikanischen Modells in Frankreich sowie des melting-pot-Modells und der Integration durch eine plurikulturelle Kulturpolitik in Großbritannien). Im internationalen Kontext des Krieges und des so genannten „Kampfs der Kulturen“ zwischen der westlichen Welt und dem islamischen Fundamentalismus ist die Mitgliedschaft der Türkei sowohl auf dem linken als auch auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums zu einer Spaltungen hervorrufenden Frage geworden. Die kürzliche Entscheidung der französischen Abgeordneten in der Nationalversammlung, nämlich die Leugnung des Genozids an den Armeniern durch die türkische Armee zu bestrafen, ist sehr erhellend. Fragen, welche die Kultur im angelsächsischen Sinne des Worts betreffen (ein anthropologisch verstandener Lebensstil, der auch die Ausübung religiöser Kulte umfasst), wurden hinsichtlich einer angeblich christlichen oder aufgeklärten „Natur“ oder „Identität“ Europas aufgebracht sowie der so genannten „logischen“, ethischen oder politischen Inkompatibilität der Erweiterung der EU um die Türkei und bald auch weitere Länder, die ihre Diversität erhöhen würden (die slawische Welt [Ukraine], die islamische Welt mit sämtlichen Maghreb-Ländern). Das kulturelle Argument wird in den folgenden Jahren eine vorherrschende Rolle spielen, zumal das ökonomische Argument wegen des starken Drucks in Richtung einer Rückkehr zu dynamischerem Wachstum fast vollständig aufgegeben wurde. Politik ist ein Spiel und eine Schlacht um Worte, bevor irgendeine Maßnahme oder ein signifikanter Wandel überhaupt in Angriff genommen werden kann. Ideologie als eine effektive Macht in der Politik ist vor allem eine „Logo-Logik“, wenn wir unter „Logo-“ den Logos, den Begründungszusammenhang verstehen, die Art und Weise, wie Worte im Voraus die Grammatik korrekter oder inkorrekter Sätze bestimmen. Wenn die Kulturalisierung von Migrationsangelegenheiten (Einreiseregulierungen, Status einwandernder Neuansiedler auf dem Arbeitsmarkt und in der Stadt, Zugang zu Staatsbürgerschaft und Nationalität, „kulturelle“ Integration der zweiten oder dritten Generationen) zunehmend zur vorherrschenden Methode wird, um mit der Frage umzugehen, wie kann dann eine politische Perspektive intervenieren, die auf eine Vertiefung von Demokratie zielt (eine radikale Demokratie anstatt der erneuten Bekräftigung entweder eines obsoleten Republikanismus oder eines bereits in Frage gestellten Multikulturalismus)? Gibt es einen spezifischen Typus von Grenzen, die mit einer Vertiefung der Demokratie vereinbar wären und jene neue Leibeigenschaft verhindern würden, die wir als borderdoom, Grenzverhängnis, bezeichnen können? Lassen Sie uns diese merkwürdigen (monströsen und, wenn Sie so wollen, sogar hybriden) Wörter erklären: Kultegration und Grenzverhängnis werden in unserem Titel verwendet. Lassen Sie uns zuerst die folgende Zusammenziehung von Begriffen analysieren: Kultur, Integration, Ex-tegration, Desegregation. Durch die Erfindung des Wortes Kultegration versuchen wir, Integration durch Kultur und die Mitgliedschaft zu religiösen Kulten zu verdichten, genau so wie im realen Leben. Mit Kultegration meinen wir eine spezifische Trope des politischen Diskurses, die restriktive Politik rechtfertigt und die Rechte der ausländischen Bevölkerung von SiedlerInnen beschränkt. Mit der Extegration meinen wir die merkwürdige und paradoxe Position der ausländischen Bevölkerung in modernen Demokratien und Staaten: Intern sind sie integriert, als AusländerInnen aber wurden sie Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt als Arbeitskräfte integriert, jedoch als menschliche Wesen ausgeschlossen (verleugnet)[4]. Diese Ausschließung kann temporär sein (die Spanne zwischen dem Status der ErsteinwanderIn, deren Situation im schlimmeren Fall diejenige einer MigrantIn ohne Papiere ist, die manchmal in eine „potenzielle TerroristIn“ oder ein Opfer der Mafia verwandelt wird, und einer Naturalisierung, die zumindest formell den Ausschluss von Staatsbürgerschaft und Wahlrecht beendet). So genannte „temporäre ArbeiterInnen“ werden so aus dem politischen Gemeinwesen ausgeschlossen (Herrschaft der Gleichheit als BürgerInnen), obwohl sie in dem Moment, in dem sie als ArbeiterInnen eingeschlossen werden, echte SiedlerInnen werden. Die Arbeit ist also ungleich in unseren Demokratien, obwohl deren Modernität (die dem autoritären und faschistischen Staat nach der großen Krise der 1930er entrann) darin bestand, sich auf Lohnarbeit und organisierte Arbeit (Anerkennung der Gewerkschaften) als konstituierende Kräften zu stützen – wenn auch stets verbunden mit dieser Ausnahme für ArbeiterInnen, die keine StaatsbürgerInnen waren. Dieser besondere Trick wird durch den Nationalstaat angewandt, wenn er die Effizienz seiner Grenzen verstärkt. Drei Modalitäten der Grenze können unterschieden werden: a) Die Grenze als geographische Trennung zwischen zwei Territorien; als solche erschafft diese Grenze keine speziellen Formen der Herrschaft. b) Die zweite Stufe der Grenze ist das, was wir borderdom (Grenzheit) nennen. Mit diesem Wort meinen wir den normalen Zustand von Menschen, die einem bestimmten Territorium angehören, wenn sie für eine begrenzte Dauer ein anderes Territorium betreten (als TouristInnen etwa oder für eine Geschäftsreise). Die Einreisende wird entsprechend der im 17. Jahrhundert erfolgenden Konstituierung und Stabilisierung des modernen Nationalstaats nicht integriert. Sie bleibt eine AusländerIn. Die Bedingungen der Zulassung können im Vergleich mit dem Status oder den Vorteilen der eingeborenen Bevölkerung diskriminierend sein, aber sie richten sich an die Fremde als ausländische Nicht-BürgerIn, als Nicht-Subjekt/Nicht-UntertanIn, und behindern im Allgemeinen nicht ihre Integration in den Arbeitsmarkt. c) Die dritte Art der Grenze ist jene, die wir borderdoom, Grenzverhängnis, nennen. Sie bedeutet etwas anderes und Schlimmeres als borderdom (Grenzheit) oder Grenze. Dieses zusammengesetzte Wort vereint border (Grenze) und doom (Verhängnis, Untergang), in Analogie zu parishdoom. Parishdoom[5] war der Spitzname, den die Armen den „Poor Laws“ von 1660 gaben, die ihre Bewegungsfreiheit auf die jeweiligen Pfarrgemeinden einschränkten und es ihnen untersagten, in eine andere Gemeinde zu ziehen (um z. B. zu heiraten), wenn sie nicht einen Pass besaßen, der ihnen nur unter der Bedingung gegeben wurde, dass sie einen Arbeitsvertrag hatten. Grenzverhängnis bedeutet daher heute ein ganz besonderes Grenzregime, das der Fremden als ArbeiterIn oder ihren Verwandten im Einreiseland auferlegt wird. Das Ergebnis dieses Regimes ist, dass die Innen-ArbeiterIn keine exogene ArbeiterIn, keine Außen-ArbeiterIn ist (die für eine kurze Zeit unter sechs Monaten kommt). Ebenso wenig ist sie eine endogene ArbeiterIn (wie alle „nationalen“ ArbeiterInnen und BürgerInnen), sondern vielmehr eine innere, aber exogene ArbeiterIn. Während Arbeitsgesetze eine besondere Rechtsgattung geworden sind und gleiche Bedingungen für alle ArbeiterInnen hergestellt haben, seitdem der Austausch von Geld für Arbeit (der Arbeitsvertrag) vom kommerziellen Vertrag getrennt wurde (und dies wurde insgesamt von einer Verbreiterung des Zugangs zu bürgerlichen und politischen Rechten begleitet), blieb die Innen-ArbeiterIn exogen. Dies schuf eine mächtige Ausnahme. Es gibt kein besseres Beispiel dafür als die Herkunftslandklausel im ersten Entwurf der Bolkestein-Verordnung. Was Praxis jedes Mitgliedsstaats gegenüber seinen eigenen MigrantInnen war, sollte auf jede seiner BürgerInnen angewandt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit sucht. Plötzlich wurden den nationalen (autochthonen) BürgerInnen die Konsequenzen dieses künstlichen Zustands bewusst. Das Arbeitsrecht, das auf sie angewandt wurde, war nicht mehr das des Staates, in dem die Arbeit verrichtet wurde, sondern bestand in den Gesetzen des Herkunftslands der ArbeiterIn. In der anschließenden vehementen Debatte während und nach dem Referendum über die Europäische Verfassung wurde nicht genügend betont, dass dieser skandalöse Zustand, der für innere ArbeiterInnen der EU gedacht war, genau der Beschäftigungsgrundlage für aus Drittländern eingewanderte ArbeiterInnen in Europa oder der Apartheid in der Republik Südafrika entsprach. Es wurde angemerkt[6], dass dieses Statut ein Überbleibsel und eine dauerhafte Wiederbelebung der kolonialen Situation jener bedeutete, die in den europäischen Reichen zugleich Subjekte/UntertanInnen und Nicht-BürgerInnen waren. Es handelt sich daher um ein postkoloniales Statut. Wenn wir uns fragen, warum dieser Zustand so stabil errichtet werden konnte und nie in Frage gestellt wurde, müssen wir zur wirklichen Logik der ganzen Sch... zurückgehen, um es wie Marx zu formulieren. Die Grenzheit ist wie die Leibeigenschaft ein Regime der Mobilität, der Kontrolle (und nicht nur der Disziplin) von Mobilität. Das Grenzverhängnis ist das Resultat, das dieses Regime im Hinblick auf die Menschen zeitigt. Es handelt sich um eine alte und anhaltende Form der primitiven Akkumulation seit dem Beginn des Kapitalismus. Wenn die Mobilität der Armen im westlichen Mittelalter, die Bewegung der AfrikanerInnen im Verlauf der Desintegration der subsaharischen Reiche, die Bewegung der neuen Subjekte/UntertanInnen des modernen absolutistischen Staates im 17. Jahrhundert, die Flucht von Millionen Angehörigen des weißen europäischen Proletariats in die Neue Welt, die massive Emigration von InderInnen aus Bengalen, von ChinesInnen und der weltweiten Multitude von überallher in die großen Metropolen des Nordens dazu führten, dass diese Gruppen allesamt in die neuen Leibeigenen, die arbeitsverpflichteten weißen DienerInnen, die schwarzen SklavInnen, die gelben Kulis, die kolonialen inneren Subjekte/UntertanInnen der Reiche und die UnterbürgerInnen oder migrantischen und temporären ausländischen ArbeiterInnen ohne Papiere verwandelt wurden, dann sprechen wir von der Dekomposition und Desintegration dieser Multituden. 1) In jedem dieser Fälle sind sonderbare und anormale Formen des Austausches von Geld und Arbeit das entscheidende Element. Die Beschränkung der Freiheit ist eine Gegenreaktion auf ein echtes Moment der Flucht, der Unmutbekundung sowie ein Bruch des Arbeitsvertrages. Wie Ira Berlin in Many Thousands Gone[7] gezeigt hat, ist die Sklaverei (lassen Sie uns dies auf die Halbsklaverei in Europa ausdehnen) nicht nur eine Geschichte des Sadismus und der Geisteskrankheit; sie stellt eine Methode dar, um abhängige Arbeit herauszupressen und die bereits während der primitiven Akkumulation kapitalistische Beziehung zu schützen. Was sogar in den barbarischsten Formen von Gewalt auf dem Spiel steht, ist, dass die Vorenthaltung von Grundrechten sehr rational ist: nämlich in Gestalt der Kontrolle der abhängigen Arbeit durch die Organisation der Gesellschaft. Wenn wir uns Ira Berlins Unterscheidung zwischen einer Gesellschaft mit Sklaven (meist heimischen) und einer Sklavengesellschaft (innerhalb der Plantagenwirtschaft, die die Fabrik des frühen – d.h. des merkantilen – Kapitalismus bildete) in Erinnerung rufen und sie auf eine Gesellschaft mit untergeordneten ArbeiterInnen oder BürgerInnen sowie einer (entlang der Linien von „Rasse“, Geschlecht, Kaste oder Hautfarbe) segmentierten ArbeiterInnenschaft ausdehnen, so müssen wir von unserer modernen westlichen Gesellschaft als einer Halbsklavengesellschaft oder einer Gesellschaft der gezügelten Lohnarbeit sprechen. Wie Tronti gezeigt hat, folgte die kapitalistische Kontrolle der Arbeit immer dem Königsweg der Gesellschaft im Allgemeinen gegen die Partikularität der Arbeiterinteressen.[8] 2) Abgrenzungen und Schranken (bezüglich Religion, Sprache, Farbe, Nationalität, jeglicher Art heterogen verfasster Minderheiten) sind ein Eckpfeiler der Segmentierung oder Spaltung von Arbeit geworden. Da Grenzen selbst nicht natürlich sind, verschieben sie sich andauernd. Eine Grenze soll trennen, zerlegen, sie kann später aber ein Element der Neuzusammensetzung werden, nachdem sie von den Multituden wiederangeeignet wurde. Und umgekehrt. Eine der tiefsten und zumeist resistentesten Grenzen ist jedoch die Nationalität. Die Nation (nach Ernest Gellners synthetisierender Darstellung) wird durch einen geeinten Transaktionsraum charakterisiert sowie durch eine Exo-Ausbildung, die durch den Staat vorgenommen wird und an die Stelle einer Endo-Ausbildung innerhalb von Eliten tritt. Es ist kein Zufall, dass Bildung[9], Kultur, gemeinsame Werte sowie die Kontrolle der Ausübung jeglichen religiösen Kultes zu Selektionskritierien für den Arbeitsmarkt werden. Wenn die klassische Aufteilung in gelernt und ungelernt, nationale und nicht-nationale Schranken schwächer wird, dann wird Kultur nicht zu einer Form der Integration (dies ist das Märchen des Multikulturalismus oder des Republikanismus), sondern zur Art und Weise, wie die bereits geeinten Multituden wieder segmentiert werden sowie in dasjenige aufgeteilt werden, was Hobbes immer von den Multituden sagte: in Barbaren, eine Bevölkerung, die den Gehorsam verweigert, Krieger, Banden und Schurken. Der Mob anstelle des Volkes als Subjekt/Untertan des Souveräns. Kultegration verspricht leider eine strahlende Zukunft im Krieg aller gegen alle, wenn wir nicht, wie die AbolitionistInnen es taten und nach ihnen die Schwarzen in den USA und die SüdafrikanerInnen, die Abschaffung der Halbleibeigenschaft auf dem Arbeitsmarkt fordern. In Europa bedeutet dies das Ende des Passregimes (Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis) für Subjekte/UntertanInnen ohne Staatsbürgerschaft. Andernfalls werden die im Alltag reproduzierten inneren Abgrenzungen und die Knechtschaft der ArbeiterInnen flexible Abgrenzungen und äußere Grenzen der EU produzieren, Internierung und Abschiebelager. Und schließlich auch das Grenzverhängnis.
[1] Bezüglich dieses Ausdrucks vgl. mein Buch De l’esclavage au salariat, Economie historique du salariat bridé, Paris: PUF 1998 (ital. Übers. bei Manifesto Libri, Roma 2002). [2] Das französische INSEE, das wichtigste wissenschaftliche Institut für Statistik verdient eine besondere Erwähnung. Zwanzig Jahre lang behauptete es, dass die Nettoeinwanderungsbilanz Null sei (ebenso viele Ab- wie Zugänge). Zu Beginn des Jahres 2000 musste diese Hypothese (die für den Diskurs der Regierung, ob rechts oder links orientiert, so nützlich war) aufgegeben werden. [3] Y. Moulier Boutang (1986), „Resistance to the Political Representation of Alien Population: the European Paradox“, in: International Migration Review, Special issue: Civil Rights and Socio-political Participation of Migrants, Vol 19, n° 71, Herbst 1985, S. 485–492. [4] Vgl. auch Danièle Lochak, Etranger, de quel droit?, Paris: PUF 1985; vgl. auch die Kap. 2 und 3 meines Buches De l’esclavage au salariat, Economie historique du salariat bridé (op. cit.). [5] Vgl. K. de Schweinitz, England’s Road to Social Security, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1943, sowie unser bereits genanntes Buch über Sklaverei (1998), S. 290–294. [6] Vgl. die Beiträge von Enrica Rigo, Sandro Mezzadra und Yann Moulier Boutang zum Dossier „Migrations en Europe: les frontières de la liberté“, in: Multitudes, 19. Dez. 2004, online: http://multitudes.samizdat.net [7] Ira Berlin, Many thousands gone, The First Two Centuries of Slavery in North America, Cambridge (Ma.): Harvard University Press 1998. [8] Mario Tronti, „La fabbrica e la società“, in: Operai e Capitale, Turin: Einaudi 1970. [9] Die Frage der Bildung (eine angebliche Verschlechterung der Bildung aufgrund einer zu großen Zahl von Migrantenkindern in der Schule) spielte eine wichtige Rolle in der Zuwendung zu rechten Positionen bei einflussreichen Intellektuellen wie A. Finkielkraut, R. Debray und J.-C. Milner. Vgl. D. Lindenberg, Le rappel à l’ordre: Enquête sur les nouveaux réactionnaires, Paris: La République des Idées/Le Seuil 2002. |
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