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11 2006

Übersetzen, verschieben, pflegen, erschaffen

Eine minoritäre Tätigkeit

Übersetzt von Birgit Mennel und Stefan Nowotny

Anne Querrien

Von meinem allzu kurzen Aufenthalt in dem in Paris durchgeführten Workshop von translate[1] ist mir die Aussage im Gedächtnis geblieben, dass, zumal das Französische keine globale oder weltweite Sprache ist, das Problem der Übersetzung, das heißt des postnationalen Lebens, nicht in dieser Sprache gestellt oder behandelt werden kann. Eine weltweite Sprache wäre nach den imperialen Sprachen eine Sprache, die die Verschiedenheit bestehender Kulturen in sich selbst übersetzen würde, um sie sich anzueignen, sie zu verdauen und aufzulösen. Die Weltsprache, das Englische, würde nach Art der imperialen Sprachen in Bezug auf die vormals kolonisierten Völker funktionieren, und es wären Letztere, die in der Eroberung ihrer Unabhängigkeit und der Entwicklung von Autonomie im Gegenzug im Englischen, der Sprache des Empire, den kritischen Raum konstruierten, in dem sich die Altermondialität entfalten lässt. Gewiss; und es handelt sich daher um einen doppelt disqualifizierten Gesichtspunkt, minoritär im Minoritären, aus dem ich versuchen werde, die paar Punkte aufzugreifen, die ich im Workshop angeschnitten habe.

Meine Herkunft liegt in einer Region, die 1492 von Frankreich erobert wurde, der Bretagne, und ich bin Nachfahrin einer ethnischen Minderheit mongolischen Ursprungs, die unter unbekannten Umständen (die Hunnen?) in diese Region kam und deren Angehörige bigouden genannt werden. Was die Frage der Sprache angeht, habe ich das Gegenteil von einer globalen Perspektive, nämlich die gänzlich minoritäre Perspektive einer ehemals Kolonisierten. In der traditionellen Bretagne hatten die bigouden keinen Zugang zum Grundbesitz und zur Existenz als Bauern; sie übten daher handwerkliche Berufe aus oder boten Dienstleistungen an, etwa als Mädchen für alles, Crêpes-Verkäuferinnen, Wäscherinnen, Lehrer, Postboten etc. Die Frauen der bigouden hatten Anrecht auf nur ein einziges Spitzenhäubchen mitten auf dem Kopf, das der für die Arbeitstage bestimmten Haube der anderen Bretonen entsprach, während die echten Bretonen sonntags eine Trachtenhaube mit zwei Spitzenreihen auf beiden Seiten des Kopfes trugen. Bigouden wie Bretonen sprachen, so scheint es, alle Bretonisch, und von 1492 bis 1882 wurde Französisch in dieser Region, wie auch im ganzen Rest Frankreichs, lediglich von einer kleinen städtischen oder aristokratischen Elite gesprochen.

Diese kleine Elite hatte insbesondere die Revolution von 1789 angeführt, Aristokraten, Geistliche und Bürger, die allesamt vereint waren gegen die liberalen Gesetze bezüglich des Kornhandels und für eine bestimmte Anzahl von Reformen eintraten. Die Revolution war noch liberaler als die letzten Jahre des Ancien Régime, und folglich wurden sie zu ihren Feinden. Diese Revolution stellte sich gleichwohl als gut für alle dar und hielt darauf, die Verfassung, die sie der Republik gegeben hatte, überall bekannt zu machen. Die in Paris versammelten Abgeordneten wussten, dass das Französische in den Provinzen von der Mehrzahl der Bürger kaum gesprochen wurde. Sie hatten die Idee, die Verfassung in die lokalen Dialekte zu übersetzen. Eine von Abbé Grégoire geleitete Delegation wurde von der verfassunggebenden Versammlung ins Département Midi-Pyrénées entsandt – sprachlich gesehen, als Hochburg des Okzitanischen, das antipodische Gegenstück zur Pariser Region –, um festzulegen, in welche Dialekte die Verfassung übersetzt werden sollte, damit sie allen Bürgern zu lesen gegeben werden konnte. Bestürzt kehrte sie zurück: Jedes Dorf nahm einen eigenen Dialekt für sich in Anspruch, für ein einziges Département bedurfte es einer Zahl von mehr als tausend Übersetzungen! Es handelte sich natürlich um einen Scherz von jener Art, wie sie für die Volkszähler bestimmt waren oder auch für jene, die mit der Erstellung von Katastern betraut waren. Jedenfalls musste diese Situation als Vorwand dafür herhalten, dass das Französische zur Nationalsprache erklärt wurde – jenes Französisch, das am französischen Hof gesprochen wurde, das von Malherbe bereits im 17. Jahrhundert standardisiert und unter Ausschluss jeglicher mundartlichen oder anglosächsischen Kontamination sowie jeglicher Entwicklungsfähigkeit direkt aus dem Lateinischen und Griechischen abgeleitet worden war und über das die 1666 gegründete Académie française schützend wachte. Die Verfassung wurde auf Französisch niedergeschrieben, und die französische Sprache wurde als konstitutioneller Grundstock der nationalen Einheit aufgerichtet.

Im Jahr 1870 verlor Frankreich den Krieg gegen Preußen; das belagerte Paris wurde von seiner Bevölkerung verteidigt, die sich gegen die Nationalregierung erhob, welche im Anschluss an die Kapitulation nach Bordeaux geflüchtet war und die Repression gegen die Commune organisierte. Paris wurde von loyalistischen Truppen belagert, die sich aus Soldaten und Offizieren zusammensetzten, welche die Preußen für diesen Zweck freigelassen hatten. Am 27. Mai 1871 wurde die Pariser Commune besiegt, ihre als Warnung empfundenen sozialen Reformen wurden abgeschafft. Dieses politisch-militärische Erdbeben brachte den Eliten die fehlende Konsistenz einer nationalen Einheit sowie die Mannigfaltigkeit der „Ländereien“ zu Bewusstsein, die immer noch über ihre je eigene Sprechweise verfügten.[2] Zehn Jahre später, 1882, wird die unentgeltliche, laizistische Schule sowie die Schulpflicht eingeführt, und die Schule wird offiziell damit beauftragt, die Gebiete zu homogenisieren sowie jeden zu zwingen, dieselbe Sprache, das Französisch des Hofes, zu sprechen. Die Dialekte, die nun Mundart genannt werden, sind sogar auf den Schulhöfen verboten; jene Kinder, die dabei überrascht werden, das Bretonische zu sprechen, müssen sich ihre Pantoffeln um den Hals hängen; diese Strafe wird als „Symbol“ bezeichnet. An allen öffentlichen Orten wird die folgende Inschrift angebracht: „Es ist verboten auf die Straße zu spucken und Bretonisch zu sprechen.“ Die lokale Sprache, der besondere Akzent wird zur Schande, einer Schande, die durch die Regeln, denen die Benotung und der Wandel des öffentlichen Dienstes folgt, äußerst gut verwaltet wird; der öffentliche Dienst, beginnend beim Lehrerkollegium, ist damit beauftragt, dieser Bewegung zur Förderung des Nationalen einen Rahmen zu geben. Was ich über die Bretagne erzählt habe, gilt gleichermaßen für ganz Frankreich, insbesondere aber für jene Regionen, die heute als Übersee-Departments und -Territorien bezeichnet werden.

Aber in dieser Schule, auf deren Frontispiz die Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ angebracht sind, finden sich die kleinen bigouden unversehens den kleinen Bretonen gleichgemacht, und die Randständigen von gestern finden sich im gleichen sozialen Rang wieder wie jene, die über ein großes Vermögen verfügen. Die Enteignung der Erde, die in der ländlichen Gesellschaft als negativ erscheint, wird zur Ermutigung, die Schule in der nächstgelegenen Stadt zu besuchen, insbesondere an jenen Orten, an denen sich geschichtlich eine gemeinschaftliche Kollektivrealität der Minderheit herausgebildet hatte. Diejenigen, die sich mangels besserer Alternativen untereinander verheirateten, werden in der nächsten Generation gute Schüler und gute Beamte, um in der darauf folgenden Generation in den hohen Beamtenstand einzutreten. Ein Wunder, zu dem das Centre national de la recherche scientifique (Nationales wissenschaftliches Forschungszentrum) in den 1960er Jahren im Dorf Plozévet in der Nähe von Brest, in dem die bigouden-Gemeinschaft stark vertreten ist, eine profunde Studie erstellte.[3] Auf dem Weg der Verstreuung und Förderung wurden die bigouden zu Franzosen, und zwar zu solchen, die stolz darauf waren, zu Verteidigern jener Sprache, die sie auserwählt hatte, sowie der ihnen verliehenen Vorzüglichkeit; und sie wurden zu potenziellen Unterdrückern jener, die möglicherweise ihre um einen hohen Preis erworbenen Positionen abwerten konnten, indem sie sich dieselben Vorzüge aneigneten. In dieser Geschichte wurzelt der Nationalismus der „integrierten“ Franzosen.

Das Französische, die Sprache der Emanzipation, verwandelt sich solcherart in eine Sprache der Unterdrückung, der Unterscheidung, der Selektion, des Ausschlusses, die in ihrer sozialen Funktionsweise auf alle Sprachen abfärbt, denen sie sich annähert. Es ist schwierig, die französische Sprache einem Kind oder einem Fremden beizubringen – all jenen, die von der Macht der Worte ferngehalten sind. Das Erlernen des Französischen bedeutet das Erlernen einer Macht, die weniger die Kommunikation als vielmehr Beherrschung und Meisterschaft betrifft. In diesem imperialen Französisch steht Übersetzung für Akkulturation, Vereinnahmung, Besitz, Angliederung an den Körper legitimer, nationaler Kenntnisse. Das Französische beurteilt das Englische oder jede andere Sprache nach demselben Muster. Es handelt sich um einen Krieg der Sprachen, mit der Übersetzung als Waffe und der ÜbersetzerIn als DoppelagentIn.

Der minoritäre Blick auf diese Geschichte ist der eines immensen, weitgehend unbewussten Restes, den diese Säuberung der Sprache, diese Verwandlung der Sprache in ein Herrschaftsinstrument produziert. „Wir bewegen uns alle im Nebel“, sagte der Anthropologe Colette Pétonnet hinsichtlich der Banlieues.[4] Wir bewegen uns alle im Nebel, im Unscharfen, inmitten der Partikel, aus welchen dieser formlose Rest geformt ist. In der französischen Sprache ist der Minoritäre (mineur) auch der Minenarbeiter (mineur), der unterirdische Löcher und Stollen gräbt, um nützliches Erz oder wertvolle Metalle zu suchen; in der Armee heißt mineur sogar derjenige, der Löcher gräbt, um das zu erobernde Gebiet zur Explosion zu bringen. Dem entspricht in der Tierwelt der von Karl Marx geliebte Maulwurf, oder auch die Ratte, die ein Double unseres unterirdischen Lebens darstellt und uns einst durch die von Albert Camus beschriebene Pest mit Ausrottung bedrohte.[5]

Ich schlage daher vor, einige Übersetzungsvorgänge unter diesem minoritären, unterirdischen, in der Weltsprache dreifach exilierten Blickwinkel zu durchleuchten, der zwischen dem Klein- und Großgeschriebenen Brücken und Stollen schlägt: die Übersetzung als Verschiebung, als Pflege, als Erschaffung.

 
Übersetzen und verschieben

Während translation im Englischen den doppelten Sinn von Übersetzung und Verschiebung hat, bedeutet traduction im Französischen, etwas sinngemäß von einer Sprache in eine andere zu übertragen, während translation – laut dem Petit Robert, Bibel der autodidaktischen Intellektuellen und BucharbeiterInnen – bedeutet, etwas von einem Ort an einen anderen zu verschieben, oder etwas von einer Person auf eine andere zu transferieren, und zwar unter Konservierung des Objekts, des Eigentums sowie insbesondere der Überreste einer verstorbenen Person. Die ÜbersetzerIn vollzieht diesen Übergang zwischen den Sprachen, aber sie folgt, wie translation anzeigt, einem Vektor von eindeutiger Ausrichtung und fixem Wert sowie der eigenen Einschätzung des Abstandes zwischen den beiden Sprachen bzw. der jeweils eingenommenen Position im von diesen aufgespannten Zwischenraum. Es handelt sich bei dieser Position nicht um die wirklich eigene Position, sondern vielmehr um jene des Milieus und der Epoche, der die ÜbersetzerIn zugehört, und sicherlich um die Position der HerausgeberIn, die ihr die Übersetzung anvertraut hat und deren Position zwischen den beiden Sprachen zweifellos eine andere ist. HerausgeberIn und ÜbersetzerIn lesen den zu übersetzenden Text nicht gänzlich in derselben Weise, sie stimmen nicht vollkommen überein, was die bedeutungsvollsten Wörter angeht, die nach und nach die Verkaufspräsentation, die Pressemitteilung, die Aufnahme durch die Kritik sowie schließlich durch die Öffentlichkeit bestimmen. Übersetzung und Veröffentlichung sind eine Bewährungsprobe, die nicht ohne Verschiebung, ohne Verrat vor sich geht: traddutori traditori (Übersetzer sind Verräter), sagt eine sprichwörtliche italienische Redensart. Aber wenn denken übersetzen heißt, und daher nach Heidegger (der diese Redensart in Was heißt Denken?[6] aufgreift) verraten, dann deshalb, weil Denken bedeutet, die Bezugnahmen zu verschieben; es bedeutet, andere Bezugnahmen in die herrschende Sprache Eingang finden zu lassen, welche allein in der Lage ist, die ÜbersetzerInnen ausreichend zu entlohnen, um sich alle Denkformen einzugliedern, aber es bedeutet auch, in diesen Bezugnahmen Zwischenräume zu öffnen, sie ins Schwanken zu bringen, die sicheren Wertigkeiten erzittern zu lassen, den herrschenden Referenten zu unterminieren.

Die minoritäre Kunst des Übersetzens vollzieht sich mitunter im Inneren ein und derselben Sprache. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart hat sich die französische Sprache – zur Meistersprache geworden, entmündlicht und entpoetisiert – stark entwickelt. Davon zeugt beispielsweise die Studie „Le discours de la servitude volontaire d’Etienne de la Boétie“ von Andrée May[7]. Zunächst die vier französischen Übersetzungen der Bartleby-Novelle von Melville analysierend – genauer: die Übersetzung des berühmten kurzen Satzes „I would prefer not to“ –, streicht sie die jeweilige Wahl unterschiedlicher Sprachebenen heraus. Die vier Übersetzungen unterscheiden sich und führen so die LeserIn ebenso vielen ungleichwertigen Horizonten zu. Jedes Mal wird die Person Bartlebys auf eine andere Weise interpretiert, in das Universum der ÜbersetzerIn versetzt, einschließlich der Variante, den Satz nicht zu übersetzen, wie Gilles Deleuze dies in seinem Vorwort zur letzten Ausgabe der Novelle getan hat.

Der Text von La Boétie wurde Mitte des 16. Jahrhunderts verfasst, in jenem Augenblick, als sich die höfische Gesellschaft etablierte, die innerhalb eines Jahrhunderts das heute offizielle, republikanische Französisch absondern sollte. La Boétie stellt sich die Frage, wie man dahin gelangen kann, sich in der höfischen Gesellschaft unterjochen lassen zu wollen und seine Herkunftsgegend verlassen zu wollen, um auf eigene Kosten zu einem winzigen Rad der Machtmaschine zu werden. „Die Verdoppelung der Fragen, die Verdoppelung der Antworten, die hartnäckige Suche nach dem Wort, welches das Unnennbare zu nennen vermag, und der daher rührende Überfluss der Benennungen, deren keine das letzte Wort bildet, kennzeichnen die rhetorische Strategie von La Boétie.“[8] Die erste Übersetzung ins „moderne Französisch“ findet unter der Restauration statt, also im 19. Jahrhundert, unmittelbar nach der revolutionären und bonapartistischen Periode. Nach dem eigenen Eingeständnis des Übersetzers wurde der Text dem Geschmack der zeitgenössischen LeserInnen angepasst, die auf die Anprangerung jeglicher Form von Macht, insbesondere der restaurierten Monarchie, erpicht waren. Doch der Rhythmus wurde verändert, die Wiederholungen getilgt, bestimmte Wörter geradewegs in die Epoche versetzt, in der die Übersetzung entstand, wie etwa im Falle von mirmidon (das einem Lied der Epoche entnommen war) als Wiedergabe für hommeau (das man im 20. Jahrhundert mit „kleiner Mann“ oder „Männlein“ übersetzen würde); der Text wird zur Schmähschrift, er wird historisiert, angeeignet und später, in einem anderen Kontext, unlesbar. Während das Original eine Befragung in der ersten Person Singular ist, setzt die Übersetzung mit einem inquisitorischen „Sie“ dem Kompromiss mit dem Begehren zu dienen zu, welcher den LeserInnen unterstellt wird, oder sie schmeichelt deren Verachtung für die anderen durch die Verwendung eines vagen und laxen „man“. Die Suche nach Freiheit wandelt sich in eine populistische Anschuldigung.

Nach den Tagen des Juli 1830 tauchen neue Interpretationen auf und verdunkeln die Analyse des Begehrens nach Knechtschaft zugunsten der Beschreibung universeller Herrschaftsmethoden, welche sich eine natürliche Gleichheit und Freiheit unterjochen, die zu schwach ist, um sich zu verteidigen. La Boétie wird einmal mehr verraten. Die folgenden Interpretationen verschleiern das Problem der Knechtschaft nicht, aber sie versuchen es zu entfalten, indem sie das Begehren nach nationaler Einheit, nach einem einheitlichen Gesellschaftskörper, in den Vordergrund rücken, wo La Boétie seinen Text gerade ganz unmittelbar „wider Einen“ gerichtet hatte, wie es ein von den Calvinisten unternommener Raubdruck des Originaltitels unterstrichen hatte, der kurz nach der Erstveröffentlichung erschienen war. Für die SozialistInnen und später für den Anthropologen Pierre Clastres setzte der Text die Notwendigkeit des Kampfes gegen die moderne Staatenbildung in Szene, die gleichwohl aufgrund der gesellschaftlichen Spaltungen unvermeidlich sei. La Boétie beschreibe das Auftauchen des Despoten. Und Jean-Michel Rey, ein kürzlich aufgetretener neuer Interpret, unterstreicht den Umstand, dass die Macht in der Anerkennung dessen verankert sei, dass ihr als letzter Repräsentantin unseres eigenen individuellen Begehrens nach Herrschaft alles übertragen werde. Gehorchen, um Gehorsam zu erhalten, die Kette der Knechtschaft reproduziert sich, jedoch mit der Rettung der Psychoanalyse, also in einer imaginären Welt, in einer Illusion, während die Frage für La Boétie real war: Wie stellt man es an, sich nicht wie alle Welt zu verhalten?

Die Figur des Übersetzers hat sich im Lauf der Zeit verschoben und den Text von einem Kontext in einen anderen versetzt. Während sie ihre Worte auswählt, um den Text ihrem eigenen Milieu einzufügen, vollzieht sie eine doppelte Repräsentation, deren jeweilige Resultate sie einander gegenüberstellt: fragende Kraft des etablierten und dem Zeitenlauf widerstehenden Textes, Brüchigkeit einer von den Umständen abhängigen Öffentlichkeit sowie einer unersättlichen Konjunktur. Der buchstäblich differierende Text und stets degradierte Text verschiebt sich, von gleichem Wert und bereit zum Neubeginn.

 
Übersetzen und pflegen

Unterschiedliche kulturelle Kontexte miteinander in Beziehung zu setzen formt auch den Zusammenhang von Fremden, in der Hauptsache ArbeitsmigrantInnen. Die Gewalt der alten kolonialen Verhältnisse wandelt sich auf nationalem Territorium in degradierende Vorurteile um, die in Arbeitsdispositiven, juristischen und materiellen Dispositiven sowie einem ganzen Segregations- und Klassifizierungsapparat Gestalt annehmen. Den Neuankömmlingen werden mit allen verfügbaren Mitteln, sogar unbewusst, untergeordnete Plätze zugewiesen, und zwar verstärkt dann, wenn sie aus den alten Kolonien kommen. Norbert Elias hat in Etablierte und Außenseiter gezeigt, dass diese Verteidigung gegen die Anderen sogar außerhalb rassistischer Kontexte gleichsam animalisch funktioniert und auf ausgeklügelte Art und Weise erfolgt.[9] Im Gegenzug funktioniert die Selbstverteidigung spiegelverkehrt und legitimiert das Vorurteil im Zuge seiner Abwehr. Erving Goffman[10] in den USA und John Gumperz[11] in Großbritannien haben diese Interaktionen einer eingehenden Analyse unterzogen, Interaktionen, durch die nicht nur Herrschaft bewirkt wird, sondern eine tatsächliche Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit gemäß den im Augenblick herrschenden Erwartungshaltungen gemeinsam zu konfigurieren. Die Distanz zur Norm führt – übersetzt – diejenigen, die gegen sie verstoßen, in die Kreise der MediatorInnen, SozialarbeiterInnen, RechtsberaterInnen oder ÄrztInnen. Der Gebrauch der Sprache herrscht in diesen Konsultationen gebieterisch, während die schweigsame Interaktion auf der Straße mehr Freiheitsspielräume eröffnet, unglücklicherweise einschließlich der Freiheit zur Aggression. Tobie Nathan und das Georges-Devereux-Zentrum haben sich auf die Aufnahme von MigrantInnen spezialisiert, die an psychischen Erkrankungen leiden. ÜbersetzerInnen kommen dabei ins Spiel, um den PatientInnen die Fragen, Hypothesen und Ratschläge der ÄrztIn in der Muttersprache der PatientIn wieder-zugeben. Seine eigene Berufslaufbahn analysierend, stellt Tobie Nathan die Idee vor, man könne nur auf dieselbe Weise gepflegt werden, wie die eigene Mutter – oder vielleicht der eigene Vater – gepflegt wurde, weil dies die einzige Art und Weise ist, der man Glauben schenkt.[12] Nun ist die Therapie aber Angelegenheit eines solchen Glaubens. Wie zahlreiche andere PsychiaterInnen bemüht er sich also darum, die traditionellen Therapien kennen zu lernen, sich in sie einführen zu lassen und sie gegebenenfalls zum Einsatz zu bringen. Die Übersetzung geht über die Sprache hinaus, sie bewegt sich auf eine Neuerschaffung des Lebens in den Herkunftsgegenden im Hier und Jetzt zu, wenigstens im Raum der Pflege, der als transitionaler Raum angeboten wird.

Diese Erfahrung steht im Gegensatz zu allen adaptiven Visionen der psychiatrischen Praxis, die aus psychischen Erkrankungen entweder körperliche Defizienzen macht, deren Auswirkungen chirurgisch und medikamentös gelindert werden können (wie es die wissenschaftlichen Fortschritte mehr und mehr erlauben), oder aber kulturelle Defizienzen, die mit dem Mangel an einem Grundstock jener typischen Kenntnisse verknüpft sind, über welche die Mitglieder der „Aufnahme“-Gesellschaft, das heißt der herrschenden Gesellschaft, verfügen. Diese zweite Hypothese ist umso weniger annehmbar, als das Ausgangsniveau der Bildung von MigrantInnen ansteigt und die sozialen Anpassungsprobleme, die den Weg Richtung psychiatrische Anstalten weisen, auch MigrantInnen der „zweiten Generation“ betreffen. Die Erfahrung des universitären Unterrichts mit diesen Jugendlichen in den Banlieues hat mir den Unterschied zwischen den Repräsentationen ein und desselben materiellen und sozialen Lebenszusammenhangs vor Augen geführt: Die Wohnsiedlungen, die „Cité“, werden wie ein Dorf erlebt, als Raum wechselseitiger Bekanntschaftsbeziehungen, der unter lokaler Kontrolle steht, während sie der Professorin als anonymer Raum erscheinen. Der Eingangsbereich in die Cité bildet den einzigen öffentlichen Raum, wo Fremde gemustert werden: Wirken sie harmlos, so bleiben sie sich selbst überlassen, werden sie aber als gefährlich erkannt, so werden sie abgewiesen; die Professorin erblickt hier einen Checkpoint. Zwischen den beiden Repräsentationen stehen sich zwei – und nicht eine – Fluchtlinien gegenüber: die feinen Modifikationen, die diese Begegnung in zwei Lebensgeschichten mit sich bringen wird. Die Übersetzung ist hier unilateral und majoritär, der Aufnahme der einen Person im Raum der anderen folgt keine Erwiderung, sondern die Einschreibung in ein Verhältnis des Unterrichts, der Übersetzung, der Integration.

Von der jüngsten Revolte in den französischen Banlieues im November 2005 wurde gesagt, sie sei ohne Stimme gewesen: Es gab keine Losungen, keine AnführerInnen, keine Erklärungen, sondern lediglich brennende Autos und bisweilen eine brennende Schule, Sporthalle, ein brennendes Theater – das, „was man ihnen gegeben hat“, „was man für sie getan hat“. Die Worte und die Interpretation kamen von der anderen Seite, von jenen, die zusahen und es als Lösung ansahen, einigen die Möglichkeit zu geben, den Graben zu überwinden, sich auf der integrierten Seite einzurichten und in die republikanische Elite Einzug zu halten, indem sie ihre Cités verließen, so wie vor einem Jahrhundert andere ihre Herkunftsgegenden verlassen hatten. Nicht indem die Gemeinschaft aus ihrem subalternen Status herausgeholt wurde, auch nicht über die Übersetzung der gemeinschaftlichen Bestrebungen in die Sprache der Meister, sondern indem sie die Gemeinschaft verließen. Manche unter jenen, die im Laufe dieser Integrationskarriere scheitern werden, werden vielleicht zu ÜbersetzerInnen …

 
Übersetzen und erschaffen

Edouard Glissant[13], Dichter von den Antillen, und Ulf Hannerz[14], Anthropologe, entwerfen eine andere Perspektive: Unsere Welt ist im Begriff, sich zu kreolisieren, sich in eine Fabrik zur Produktion von Sprachen zu wandeln, in der zwar, wie uns die UNESCO in Erinnerung ruft, eine große Anzahl von Sprachen verloren geht, in der sich die Sprachen aber immer mehr vervielfachen und singularisieren. Die Sprache bildet weniger eine Schnittstelle zwischen einer Gemeinschaft und der natürlichen Welt, sie wird vielmehr zu einer Ausdrucksmaterie, in welcher alle ihre jeweilige Partitur, ihren existenziellen Weg erschaffen, ihre jeweilige Linie ziehen, ihre Karte ausspielen. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks[15] verschiebt die Übersetzung die ererbten Materialien in einen anderen Kontext und öffnet sie ihrer Zusammenfügung in einer relationalen Ästhetik[16].



[1] „Polture and Culitics. On Political Prospects of Cultural Translation“, 13./14. Oktober 2006, Maison de l’Europe de Paris; in Kooperation mit Transeuropéennes und dem Collège international de philosophie.

[2] E. Weber, La fin des terroirs, Paris: Editions Recherches 1984.

[3] E. Morin, Commune de France, La métamorphose de Plozévet, Paris: LGF 1984 (Neuausgabe).

[4] C. Pétonnet, On est tous dans le brouillard, Paris: Editions du CTHS 2002.

[5] A. Camus, Die Pest, Berlin: Rowohlt 1998.

[6] M. Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen: Niemeyer 1997.

[7] A. May, „Le discours de la servitude volontaire d'Étienne de La Boétie et ses traductions comme palimpseste“, in: Chimères, n° 45, Winter 2003.

[8] Ebd., S. 126.

[9] N. Elias / J. L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

[10] E. Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, New York: Doubleday 1959.

[11] J. Gumperz, Engager la conversation, Paris: Minuit 1989 [franz. Anthologie aus verschiedenen Werken Gumperz’; Anm. d. Übers.].

[12] T. Nathan, Nous ne sommes pas seuls au monde, Paris: Les empêcheurs de penser en rond 2001.

[13] E. Glissant, Une nouvelle région du monde: Esthétique 1, Paris: Gallimard 2001.

[14] U. Hannerz, Exploring the City. Inquiries Toward an Urban Anthropology, New York: Columbia University Press 1980.

[15] W. Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 471–508.

[16] N. Bourriaud, Esthétique relationelle, Dijon: Presses du réel 2001.

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